Für eine Politik der Hoffnung ohne Angst. Ein Manifest für ein anderes Europa. ((Übersetzung: Siegfried Jäger, Iris Tonks, Robert Tonks)) Erschienen in DISS-Journal 19 (2010)
Europa ist in Aufruhr. Und man sagt uns, dass wir uns sorgen müssten – um unsere Sicherheit, unsere Kultur, unsere Arbeitsplätze, unsere Freiheiten, unseren komfortablen Alltag, unsere Zukunft. Man sagt uns, dass es keine Alternative gibt – zum Verlust der Sicherheit der Arbeitsplätze, zur Kürzung der Einkommen und zu verlängerter Lebensarbeitszeit, zur Verwandlung unserer Nachbarschaften, unserer Städte und unserer Länder zu umzäunten Lagern, die uns vor angeblichen Feinden schützen sollen – den Einwanderinnen, den Armen, den kulturell, religiös und ethnisch anderen.
Ist dies der Weg nach vorn in einem Europa, das schon Heimat für Millionen Menschen unterschiedlicher Herkunft, mancherlei religiösen und kulturellen Einstellungen und mancherlei grenzüberschreitenden Verbindungen ist? In diesem Europa ist es Unsinn, die Grenzen zu schließen, das Spiel der guten Einheimischen und der bösen Fremden zu spielen, ethnische und kulturelle Reinheit zu predigen und alles Fremde zu dämonisieren.
Die fremdenfeindliche Rhetorik, die zurzeit den öffentlichen Raum beherrscht, lenkt von den dringenden Fragen des Alltags ab: Nämlich wie man gegen ökonomische und soziale Gefahren und Unsicherheit mit neuen Ideen und Taten vorgehen kann und wie man neue Formen finden kann, inmitten wachsender sozialer und kultureller Vielfalt nachbarschaftlich zusammenzuleben.
Wir, eine Gruppe besorgter Menschen, appellieren an die politische Verantwortung der europäischen Meinungsführer und Politiker. Wir fordern das Ende einer Politik der Angst und ein Engagement für eine Politik der Hoffnung. Sonst könnte sich Europa noch einmal in eine lange, dunkle Zeit des Hasses und der Feindschaft verwickelt sehen, aus der es kaum ein Zurück geben wird und die – wie in der Vergangenheit – dazu führen wird, dass Freunde Feinde werden, die zu undenkbaren Monstrositäten bereit sind. Wir stehen dicht vor dem Abgrund, vor dem es kein Zurück mehr gibt.
Diese wahrgenommene Notlage gibt uns Anstoß zu diesem Manifest – als Appell an alle in Europa, die sich um seine Gegenwart und Zukunft Sorgen machen, sich uns anzuschließen in dem Bemühen, eine Politik der Solidarität zu konzipieren und umzusetzen, die dem 21. Jahrhundert angemessen ist. Eine solche neue solidarische Politik in Europa muss mindestens die folgenden vier zentralen Prinzipien enthalten und sich darauf stützen:
1. Vielfalt als das Wesen Europas. Die Vision eines authentischen und reinen, kulturell homogenen Europas ist nichts als eine bloße Fiktion, jedoch eine mächtige und gefährliche. Lassen wir uns daran erinnern und eingestehen, dass Europa für die Schaffung seiner besten Errungenschaften stets die kreativen Energien der Welt einbezog sowie das positive Engagement von Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit komplexen Biographien und den Respekt gegenüber Unterschieden und Präferenzen des Geschlechts, der Herkunft, der Sexualität, der Religion und der Kultur. Im Angesicht einer unsicheren und turbulenten Zukunft, ist es diese Tradition der Offenheit und Akzeptanz, und nicht Europas anderes, dunkleres Erbe angeblicher Überlegenheit, der Engstirnigkeit und des Verdachts, die wiederbelebt werden muss.
2. Ein Ethos der Solidarität und der Hoffnung. Wenn es darum geht, Unsicherheit und Turbulenzen zu überwinden, dann beweist die Geschichte, dass dies am besten durch Mut und Dialogbereitschaft erreicht werden kann und nicht durch Angst und Intoleranz. Die Politik der Angst, die die europäische Gesellschaft beherrscht, muss aufgezeigt und zurückgewiesen werden, und es muss Platz geschaffen werden für ein Ethos, die Zukunft mit Zuversicht anzugehen, indem die kollektiven Energien unterschiedlicher Bevölkerungen mobilisiert werden. Ein solches Ethos würde uns in die Lage versetzen, die allgemeinen Belange aller Menschen in der europäischen Gesellschaft unabhängig von ihrer Herkunft zu schützen – ein Ethos der Hoffnung und nicht der Angst, von Vertrauen und nicht von Misstrauen, von Gegenseitigkeit und nicht von Unterwerfung, von Dialog und nicht von Verdammung, von Gespräch und nicht von Aggression.
3. Schutz der Gemeinsamkeiten. Man muss gemeinschaftlich die Vorstellung von dem, was die „Gemeinsamkeiten“ sind, erneuern – ein Gefühl für das Entstehen und die Sicherung unserer gemeinsamen kulturellen, ökonomischen und sozialen Umgebung, zusammen mit dem Schutz der natürlichen Umwelt vor Zerstörung und Verschwendung entwickeln. Schlüsselelemente einer solchen Politik der Gemeinsamkeiten sind die Errichtung einer aktiven öffentlichen Sphäre, vernünftige öffentliche Dienstleistungen und dynamische öffentliche Räume, Respekt vor und Schutz der Natur, Sicherung gegen Gefahren und Risiken, versorgungswirtschaftliche Einrichtungen und Technologien, die befähigen und nicht behindern. Vor allem muss eine Kultur des Respekts für die Gemeinsamkeiten zu einem Mittel werden, Unterschiede miteinander zu versöhnen.
4. Eine solidarische Wirtschaft. Fragen der Kulturpolitik sind nicht zu trennen von wirtschaftspolitischen Fragen. Ökonomische Solidarität ist sowohl für die Förderung von Toleranz als auch von Integration unverzichtbar. Wir brauchen deshalb eine Politik, die sich auf das europäische Erbe sozialer Fairness stützt: eine soziale Ökonomie, die Möglichkeiten und Verdienst gerecht verteilt; eine allgemeine Sozialversicherung; gemeinschaftliche soziale Verantwortung; Arbeit für alle und faire Löhne, zusammen mit der dauerhaften Weiterentwicklung menschlicher Fähigkeiten. In Übereinstimmung mit dieser Tradition, die über spezielle ideologische Positionen und Parteilichkeiten hinausweist, wird dringend eine regulatorische Reform benötigt, die den Vorrang der Bedürfnisse der Gesellschaften vor denen der Märkte sicherstellt. Durch eine solche Politik kann es erreicht werden, dass sich zukünftiges Wachstum auf die Mehrzahl der Menschen und nicht nur auf einige Wenige richtet. So können soziale Haltungen und Praktiken generiert werden, die Neid und Feindschaft entgegen wirken.
Lasst uns gemeinsam antreten gegen eine Kultur des Notstand- Managements, die auf obsessiver Überwachung, Kontrolle und Verleumdung des Fremden und des Anderen basiert. Lasst uns stattdessen eine Kultur der Solidarität und der gemeinsamen Ziele jenseits aller Unterschiede kreieren.
Lasst uns eine unfaire und ungleiche Gesellschaft zurückweisen, eine Gesellschaft, die ihre eigenen Opfer und die von ihr selbst verursachten Schäden verhöhnt.
Lasst uns unseren Glauben an die Kräfte der Demokratie erneuern, an die Fairness und die soziale Gerechtigkeit gegenüber Allen.
Lasst uns in Europas Beziehungen zu allen Ländern, in denen Leben – menschliches und anderes – sehr häufig der billigste Rohstoff ist neue Regeln etablieren, die auf Kooperation und Gegenseitigkeit basieren. Lasst uns akzeptieren, dass Neugier und Lernen von anderen der sicherste Weg ist, sich einer unbekannten Zukunft zu stellen.
Unser Appell ist so ehrgeizig wie schlicht: es geht darum, die Herausforderungen, die uns alle betreffen, als beste Grundlage für eine gemeinsames Handeln zu sehen, als Richtlinie für demokratische Politik in Europa; und die Potentiale, die darin liegen, in einem Europa der Unterschiede zu leben, als beste Ressource zu erkennen, den Herausforderungen, die vor uns liegen, verantwortlich zu begegnen.
Dieses Manifest basiert auf einem offenen Brief des Forums engagierter Bürger Europas (Forum of Concerned Citizens of Europe). Das Forum ist gegründet worden durch Ash Amin (Durham), Albena Azmanova (Brüssel), Les Back (London), Laura Balbo (Mailand), Iain Chambers (Neapel), Nefise Özkal Lorentzen (Oslo), Bashkim Shehu (Barcelona), Pep Sobirós (Barcelona), Teun A. van Dijk (Barcelona), Ruth Wodak (Lancaster).
Unter den ersten Unterzeichnern sind: Etienne Balibar, Peter Claussen, Jerzy Hausner, Ivan Krastev, Lord Bhikhu Parekh, Juan de Dios Ramirez-Heredia, Josep Ramoneda, Ziauddin Sardar, Richard Sennett, Tzvetan Todorov, Francois Vergés, Tana Zulueta …