Zwischen Linguistik und Soziologie

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Kritische Diskursanalyse in Polen. Von Lukasz Kumiega (Warszawa/Düsseldorf). Erschienen in DISS-Journal 18 (2009)

Auch in Polen wird Diskursanalyse seit einigen Jahren als ein Forschungsprogramm verstanden, das zur Untersuchung und Kritik diverser gesellschaftlicher Phänomene genutzt wird und sich explizit auf eine Theorietradition bezieht. Aus dem ganzen Ensemble diskurstheoretischer Erwägungen dominiert hier vor allem die Rezeption anglos ächsischer Theorien. Disziplinen, die sich einer solchen Perspektive geöffnet haben, sind vor allem Linguistik und Soziologie. Als ein gewisser Vorreiter der kritischen Studien gilt im polnischen Sprachraum der Literaturwissenschaftler Michal Glowinski und seine Arbeiten zum kommunistischen „Newspeak“ (vgl. Glowinski 1990). Ohne jetzt auf Details eingehen zu können, möchte ich hier einige (!) gegenwärtige Tendenzen aufzeigen, die im Umfeld der breit angelegten Diskursforschung in Polen (in ihrer kritischen Version) zu verorten sind.

Eine von wenigen Linguistinnen, die sich in Polen mit dem Diskursbegriff näher auseinander setzte, war Anna Duszak, die in ihrer Monographie (vgl. Duszak 1998) vor allem dem Verhältnis zwischen Text, Diskurs und interkultureller Kommunikation nachgegangen ist. Diskurs ist nach Duszak „Text im Kontext“. Somit wurden die rein formalistischen Methoden der linguistischen Diskursanalyse, die eher nach der Struktur des Diskurses fragen, um den prozessualen und kontextuellen Aspekt erweitert. An diese Überlegungen anknüpfend entwickeln sich am Institut für Angewandte Linguistik der Universität Warschau zwei diskursanalytische Zweige.

Zum einen ist dies die sogenannte kritische Linguistik, die an die Theorien von Chomsky und Halliday anknüpft und diese zu erweitern sucht. In dieser Perspektive ist Diskurs ein „zentraler Faktor der sozialen Konstruktion von Gesellschaften (…) und ein wichtiger Machtfaktor“ (Fairclough, Duszak 2008: 16-17). Das Linguistische in dieser Perspektive kommt darin zum Ausdruck, dass man in den Untersuchungen neben den Gesellschafts- und Machtanalysen Textanalyse ((Texte werden hier multimodal aufgefasst.)) eine wichtige Rolle der zuspricht (vgl. Duszak 2006). ((Die Debatte rund um die Problematik der kritischen Linguistik hat in Warschau während der internationalen Tagung „Critical Discourse Analysis and Global Media“ stattgefunden (Warschau, 18.09. . 20.09.2008, vgl. http:// globe.ils.uw.edu.pl/index.php?section =4&subsection=1 (21.10.09) ). Die Ergebnisse dieser Tagung wurden in einem umfangreichen Tagungsband mit Texten in deutscher und englischer Sprache dokumentiert (vgl. Duszak, House, Kumiega 2009). ))

„Political-linguistic“ ist das zweite Projekt, das Universität Warschau zusammen mit der Universität Lodz seit 2007 realisiert. Die dort behandelten Aspekte sind:

  • politische Rhetorik in medialen Kontexten,
  • normative Verwendung der Sprache,
  • sprachlich basierte Reproduktion von Ideologien,
  • Rhetorik politischer Systeme und politischen Wandelns,
  • Sprache politischer Institutionen,
  • Globalisierung in politischen Diskursen etc. ((Die Ergebnisse dieser Untersuchungen werden während „Political Linguistics Conferences“ präsentiert und dokumentiert (vgl. http://pl.ils.uw.edu.pl/ (21.10.09) ).))

Zu den Linguistinnen, die Diskursanalyse als eine Methode betrachten, gehören u.a. auch Ewa Miczka, die den Diskurs stärker aus der kognitiven Perspektive definiert (vgl. Miczka 2002) und Izabela Prokop, die Diskurse gesprächsanalytisch untersucht (vgl. Prokop 1995). Darüber hinaus gibt es in der polnischen Linguistik einige Autorinnen, die kritische Analysen der öffentlichen Kommunikation durchführen wie z.B. Bralczyk, Mosiolek-Klosinska 2000.

Im Gegensatz zu der relativ breiten Rezeption anglosächsischer Diskurstheorie ist die Rezeption des poststrukturalistischen Diskurskonzepts (vor allem in der Linguistik) eher gering. Nur einige polnische Germanistinnen erwähnen die bereits in Deutschland stattfindende breite Rezeption der Diskursanalyse poststrukturalistischer Prägung und machen die zum Gegenstand eigener Analysen. Hier wird vor allem die „Diskurslinguistik“ wahrgenommen (vgl. z.B. Bilut-Homplewicz 2006, Miller 2006). ((Vom Interesse polnischer Germanistinnen an der Diskurskategorie zeugt auch die in diesem Jahr veranstaltete Internationale wissenschaftliche Konferenz des Verbandes Polnischer Germanisten, die zum Thema „Diskurse als Mittel und Gegenstände der Germanistik“ hatte (Olsztyn, 8. bis 10. 5. 2009).))

Wie schon erwähnt, ist Diskursanalyse auch in der polnischen Soziologie ein wichtiges aber auch umstrittenes Forschungsprogramm. Umstritten ist es in dem Sinne, dass mehrere Jahre vor allem die quantitativen Methoden die polnische Soziologie geprägt haben. Erst seit einiger Zeit wird gesehen, dass „Kommunikationsprozesse in Gesellschaften, ‚Werden’ und Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Prozessen öffentlicher Kommunikation wichtig sind“ (Czyzewski, Kowalski, Piotrowski 1997).

Vor allem zwei polnische Soziologen beziehen sich explizit auf Diskurstheorie. Zum einen ist das Marek Czyzewski von der Universität Lodz, der öffentliche Debatten im Rahmen einer sogenannten „vermittelnden Diskursanalyse“ untersucht, die die Erkenntnisse der enthnomethodologischen Konversationsanalyse mit der Kritischen Diskursanalyse (in der anglosächsischer Variante) verbindet (vgl. Czyzewski 2005). Lech M. Nijakowski von der Universität Warschau hat ein diskursanalytisches Modell zu Analysen der nationalen und ethnischen Minderheiten in Polen entwickelt (vgl. Nijakowski 2002).

Mit diesem (kleinen) Überblick der polnischen Diskursforschung werden selbstverständlich nicht alle Repräsentantinnen dieser theoretisch- methodologischen Ausrichtung genannt. Es steht außer Zweifel, dass diese Forschungsperspektive in Polen neu ist und daher weitere Reflexionen erforderlich sind. Aus meiner Sicht gehören zu den wichtigsten vor allem zwei Aspekte: die Entwicklungen in der polnischen Diskursforschung sollten Diskursanalyse als ein interdisziplinäres Forschungsprogramm betrachten, deswegen wäre eine Zusammenarbeit zwischen Linguistik und Soziologie sehr sinnvoll ((Der erste Versuch einer solchen Kooperation wurde von Marek Czyzewski vorgenommen, der im Juni 2009 die erste diskursanalytische Werkstatt veranstaltet hat, an der Vertreter diverser wissenschaftlicher Disziplinen aus Polen teilgenommen haben (Lodz, 12. bis 13.06.2009). Die nächste Werkstatt fand vom 13.11. bis 14.11.2009 an der Universität Warschau statt.)). In die Diskursforschung sollten poststrukturalistiche Diskurskonzepts einbezogen werden und konstruktiv mit den anglosächsischen Konzeptionen verglichen werden. Dies könnten weitere Herausforderungen sein, denen sich die polnische Diskursforschung stellen sollte.

Literatur

Bilut-Homplewicz, Zofia (2006): Diskurslinguistik – ein Paradigmenwechsel. In: Homa, Jaromin; Lucyna, Wille (eds.): Menschen – Sprachen – Kulturen. Marburg. S. 39-47.

Bralczyk, Jerzy; Katarzyna, Mosisek- Klosinska (2000): Jezyk w mediach masowych. Warszawa. Czyzewski, Marek (2005): Öffentliche Kommunikation und Rechtsextremismus. Lodz.

Czyzewski, Marek (2005): Öffentliche Kommunikation und Rechtsextremismus. Lodz.

Czyzewski, Marek; Sergiusz, Kowalski, Andrzej, Piotrowski (1997): Rytualny chaos – studium dyskursu publicznego. Krakow.

Duszak, Anna (1998): Tekst, dyskurs, komunikacja miedzykulturowa. Warszawa.

Duszak, Anna (2006): Why ’New’ Newspeak? Axiological Insights into Language Ideologies and Practices in Poland. In: Mar-Molinero, Clare; Patrick, Stevenson (eds.) Language Ideologies, Policies and Practices: Language and the Future of Europe. Houndmills and New York: Palgrave Macmillan. S. 91-103.

Duszak, Anna; Juliane, House; Lukasz, Kumiega (2009, eds.): Globalization, Discourse, Media: In a Critical Perspective / Globalisierung, Diskurse, Medien: eine kritische Perspektive. Warszawa.

Fairclough, Norman; Anna, Duszak (2008): Krytyczna Analiza Dyskursu. Interdyscyplinarne podejœcie do komunikacji spolecznej. Krakow.

Glowinski, Michal (1990): Nowomowa po polsku. Warszawa.

Miczka, Ewa (2002): Kognitywne struktury sytuacyjne i informacyjne w interpretacji dyskursu. Katowice.

Miller, Dorota (2006): Das Chamäleon DISKURS. In: Wawrzyniak, Zdzislaw; Zbigniew Swiatlowski (eds.): Studia Germanica Resoviensia 4, Nr. 35/2006. Rzeszow. S. 169-179.

Nijakowski, Lech M. (2002): Dyskursy o Slasku. Ksztaltowanie slaskiej tozsamosci regionalnej i narodowej w dyskursie publicznym. Warszawa.

Prokop, Izabela (1995): Stereotype, Fremdbilder und Vorurteile. In: Czyzewski, Marek; Elisabeth, Gülich; Heiko, Hausendorf; Maria, Kastner (eds.): Nationale Selbst- und Fremdbilder im Gespräch. Opladen. S.180-202