Ein Kommentar von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal 18 (2009)
Zugegeben – im DISS hat das wochenlange Blätterrauschen volle Aktenordner, vor allem aber mentale Spuren hinterlassen: Die DISS-Journal-Redaktion bestreikt den Casus Sarrazin! Aber nicht, weil er Teil des biologistischen, rassistischen und sozialdarwinistischen Diskurses ist und Herr Sarrazin, wie andere vor ihm, der gesellschaftlichen Mitte gerade eine neue Dosis an rechtslastiger Ausgrenzungsrhetorik verabreicht hat. Wir möchten stattdessen vor der Inszenierung und ihren Nötigungen einige Fragen und Ansichten in Sicherheit bringen, die zum Gegendiskurs taugen.
Was zum Beispiel bedeutet es, dass Sarrazins atemloses Gerede, das an eine Sitzung beim Friseur erinnert, auf über einem Dutzend Seiten in Lettre International abgedruckt wurde und sich dieses Medium der Debatten zum Forum der Geschwätzigkeit entwickelt hat? Was befähigt jemanden, dessen wissenschaftliche Bildung offenbar vom Boulevard der 70er und 80er Jahre, aus dem Umfeld der rassistischen IQ Debate ebenso wie der des Gespensts der population bomb stammt, der von einer „negative(n) Auslese“ in der deutschen Bevölkerung und von „Hammelresten der türkischen Grillfeste“ verfolgt wird, der einen „Bevölkerungsaustausch“ vollziehen, 20 % der Berliner Bevölkerung (die „Unterschicht“) „auswachsen“ (versterben) lassen, einen „produktiven Kreislauf von Menschen“ schaffen möchte und sich selbst als „stammtischnah“ beschreibt – was also befähigt ihn zum Aufstieg in die Chefetage der Bundesbank?
Stephan J. Kramer vom Zentralrat der Juden in Deutschland hat im TAGESSPIEGEL (13.10.2009) auf die Analogie mit Heinrich von Treitschke aufmerksam gemacht, die allerdings nicht deshalb trägt, weil Treitschke 1879 vor der jüdischen Flut „hosenverkaufender Jünglinge“ aus Osteuropa warnte, während Sarrazin heute den „Ostjuden“ das philo-/antisemitische Klischee eines erhöhten Intelligenzquotienten anheftet. Oder weil der Berliner Börsen Courier Treitschkes Familie selbst als „slawisch“ entlarvte und die „Sarrazins“ irgendwo im Süden einst mit dem Schimpfwort „Sarazene“ (Moslem/Araber) belegt wurden.
Die Analogie trägt aber insofern, als auch Sarrazin (wie einst Treitschke) – im Namen einer ‚Bildung’, die ohne Kultur auskommt und in Deutschland noch nie Verbrechen verhindert hat – offenbar den bildungsbürgerlichen Konsens über Grundrechte aufkündigen möchte. Die These, sein Gerede habe die Integrationsdebatte beflügelt, ist absurd. Rassismen sind von Sachargumenten und Fakten unerreichbar, bzw. stülpen jedem Faktum eine rassistische Stereotypie über. Rassismen augenzwinkernd als „belebendes Element“ der Integrationsdebatte zu empfehlen, heißt nur diese Debatte zu blockieren. Nicht Hammelreste: Thilo Sarrazin ist die Integrationsblockade.