„Unverkrampft“ – die globalisierte Fußballnation

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Von Clemens Knobloch. Erschienen in DISS-Journal 15 (2007)

„Wer mitbekommt, was sich im Fußball wann und wie verschiebt, ist über andere Gesellschaftsbereiche osmotisch informiert“, schreibt Klaus Theweleit in seinem jüngsten Buch, das den schönen Titel trägt: „Tor zur Welt. Fußball als Realitätsmodell“. „Osmotisch“ – das bedeutet: Zwischen der Welt des Fußballs und der Gesellschaft, in der er „spielt“, herrscht wesentlich mehr Durchlässigkeit als gewöhnlich zwischen einem „Spezialgebiet“ und der allgemeinen öffentlichen Selbstverständigung. Das bleibt nicht ohne Folgen für die Rhetorik und Didaktik der Macht, die sich nur zu gerne im Medium des Fußballs artikuliert. Für sie empfiehlt sich der Fußball nicht allein darum als Träger und Vehikel ganz anderer Kommunikationen, weil er als „Volkssport“ und Aufmerksamkeitsmagnet Mehrheiten erreicht und beschäftigt, von denen andere – die Politik eingeschlossen – nur träumen können. Es gilt auch, dass sich im Verhältnis zum (vor allem „großen“) Fußball politische Tendenzen und Widersprüche artikulieren, die sich in anderen Themenfeldern nicht offen artikulieren können. Von jeher spielt darum die „politische Klasse“ Befindlichkeitsprobleme des Landes gerne auf den Fußballplatz, in der Hoffnung, dass sich hier leichter kommunizieren lasse, was der Souverän an anderen „Plätzen“ (z.B. am Arbeitsplatz) womöglich nicht so gerne hört.

Schon optisch eignet sich das vielfarbige und qua Spielerweltmarkt internationalisierte Erscheinungsbild der nationalen Fußballmannschaften als Repräsentant der Werte und Zwänge einer „globalisierten Nation“. Auf den ersten Blick scheint sich der Fußball hier ganz ähnlich zu verhalten wie die gleichfalls internationalisierten Starsysteme von Pop, Mode und Massenkultur, die uns ebenfalls signalisieren, dass (in der ökonomischen Hauptsache) periphere und ausgeschlossene Gruppen es gleichwohl zu Weltruhm und kultureller Vorbildwirkung bringen können, wenn sie nur über eine Ware verfügen, die sich auf dem Markt durchsetzen kann. Auf den zweiten Blick ist jedoch überdeutlich, dass der Fußball viel enger mit den populären Nationalmythen zusammenhängt als Pop und Mode und längst deren integraler Teil geworden ist.

Als Zinédine Zidane im Sommer 2005 den Weg zurück in die französische Nationalmannschaft fand, da berichtete Le Monde (nur mit leichtem Augenzwinkern) von einem Interview, in welchem der Fußballstar seine „Heimkehr“ mit einer Stimme begründet, die im Traum zu ihm gesprochen habe. Es dürfte keinen Franzosen geben, den das nicht an Jeanne d´Arc erinnert, die ja schließlich auch einmal die Nation gerettet hat. Der Staatspräsident empfahl den populären Nationalhelden seinem Volk als Vorbild nationaler Pflichterfüllung und als den „modernen Bürger einer interethnischen Nation“, in welcher der Erfolg nur Ergebnis der Leistung sein könne. Im Wirtschaftsteil von Le Monde diskutierten die Experten darüber, ob es (ähnlich wie bei der gewonnen Weltmeisterschaft 1998) auch einen konjunkturellen „Effekt Zidane“ auf die französische Wirtschaft geben werde.

Im Vorfeld der Weltmeisterschaft von 2006 war zu beobachten, wie sorgfältig die semantische Vorbereitung auf das „Fest“ von den politischen Eliten in Deutschland betrieben wurde. Schließlich wollte man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Weltmeister mussten wir auf jeden Fall werden wollen. Das verkündete der Bundesspräsident in seiner Weihnachtsansprache ebenso wie die Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache. Sie freilich setzte noch einen ganz persönlichen Gender-Farbtupfer: durch den launigen Hinweis, die Frauennationalmannschaft sei schon Weltmeister, dann würden es ja die Männer wohl auch schaffen können. Aber gerüstet sein musste man auch für den Fall, dass sich die deutsche Mannschaft als Gurkentruppe erweisen und in der Vorrunde ausscheiden sollte. Für diesen (ja nicht ganz unwahrscheinlichen) Fall wurde die Parole vom fröhlichen und sportlichen Fest ausgegeben, das der gute Verlierer Deutschland der Welt („zu Gast bei Freunden“) geben wolle. Selbst eine beinahe sakrale nationale Institution wie die Stiftung Warentest wurde erbarmungslos abgemeiert und als Miesmacher, ewiger Bedenkenträger und Sinnbild des deutschen Nörgel-Images vom Sockel gestoßen, als sie es wagte, auf Sicherheitsmängel in den Stadien hinzuweisen.

Als dann schließlich eine Gruppe von Frondeuren den in Kalifornien beheimateten Nationaltrainer des Absentismus und der Vaterlandslosigkeit bezichtigte, wurde überdeutlich, dass selbst ein Teil der Elite den Sinn der „DU-bist-Deutschland“-Kampagne noch nicht recht verstanden hatte, welche die privaten und öffentlichen Medienanstalten unter der Federführung von Bertelsmann kurz zuvor lanciert hatten: Dass nämlich der Nationaltrainer auch in seiner fernen kalifornischen Wahlheimat Deutschland IST, ganz ebenso wie der schwarzafrikanische Nationalspieler in der deutschen Mannschaft auf dem Platz in Berlin Deutschland IST. In der globalisierten Nation geht es schließlich nicht um Ethnie und Wohnort, sondern einzig und allein um Leistung und Erfolg. Bis in die jüngste Zeit hinein ist es ein kleines Medienereignis, wenn Klinsmann einen Empfang beim Bundespräsidenten, eine Ordensverleihung, eine offizielle Filmvorstellung in Deutschland etc. nicht wahrnimmt. Was nur zeigt, dass die symbolische Modernisierung der Nation im Geiste des Globalismus eben auch auf dem Fußballplatz und um ihn herum stattfindet. Und dass sich der Bundestrainer nicht als weisungsgebundener Angestellter im Staatsdienst in Szene setzt, sondern als „globalisierter“ Manager seiner selbst, der selbstbewusst seinen „Standort“ wechselt, wenn die Bedingungen anderswo günstiger sind, passt doch wohl vorzüglich zur herrschenden Didaktik der Macht. So machen es auch die anderen „global player“, und so sollten wir es auch machen, wenn wir nur könnten. Ganz ebenso verhält es sich übrigens mit den vielfach als „amerikanisch“ ridikülisierten, von psychologischen Managementmethoden inspirierten Trainingsformen. Am Ende ist der Trainer der Nationalmannschaft nur dann eine politische Figur, wenn er gegenüber der Mannschaft die erzieherischen Normen verkörpert, die auch in der diskursiven Praxis gegenüber den „Mitspielern“ draußen im Lande geltend gemacht werden. Abweichungen von diesem Muster sind „Fehler“ und werden auch als solche wahrgenommen.

Aber nicht nur die symbolisch globalisierte Nation findet den Weg ins Stadion, sondern auch die dumpf-nationale Fankurve spielt dort ihr Spiel – nicht nur in Italien. Als während der WM Häuser, Autos und Vorgärten hinter den nicht nur bei Aldi und Lidl im Sonderangebot feil gebotenen Nationalfähnchen verschwanden, da galt es natürlich, für diese nationale Demonstration eine Sprachregelung und ein Deutungsmuster zu finden, das zum propagierten Image der Gastgeber passt. In Sonderheit das Bild einer dumpf-nationalen Engführung von altem und neuem Rechtsradikalismus, die bedenkenträgerische Warnung vor der Wiederauferstehung des ewigen deutschen Ungeistes vor der mühsam aufgezogenen Fassade des deutschen „Festes für die Welt“, all das hätte ungefähr so gewirkt, als spräche ein Familienmitglied auf dem Höhepunkt des Familienfestes von der ungebrochenen Tradition des Kindesmissbrauchs. Die nur zu sichtbare Allgegenwart von Schwarz-Rot-Gold in Vorgärten und Autofenstern hatte immerhin den Effekt, rechtsradikale nationale Verlautbarungen einfach unsichtbar zu machen. Vor diesem Hintergrund konnte sich die Sprachregelung vom neuen und „unverkrampften“ Nationalgefühl der Deutschen atemberaubend schnell und flächendeckend bei Medien und Politikern durchsetzen. Das Adjektiv „unverkrampft“ konnte in kürzester Zeit beinahe rituelle Verbindlichkeit erreichen. Ein wenig wirkte es, als ob jeder das schmückende Beiwort bereits in der Tasche getragen hätte und nur darauf wartete, es vorzeigen zu können. Wer ohne das obligatorische Beiwort sprach, der verurteilte sich selbst zur Mitgliedschaft im deutschen Traditionsverein der ewigen Miesmacher. Und wie angestrengt und verkrampft die Deutungshoheit über die „globalisierte Nation“ von der mediopolitischen Klasse verteidigt wird, das zeigt gerade die bruchlose Ritualisierung der Sprachregelung „unverkrampft“.

So avancierte das „unverkrampfte“ deutsche Nationalgefühl, vorbereitet sicher auch durch die professionelle massenkulturelle Inszenierung der „DU-bist-Deutschland“-Kampagne, zu einer veritablen Konsensfiktion. Machtwirksam ist ein Konsens ja keineswegs dann, wenn er tatsächlich besteht. Das hat vielmehr gar nichts zu bedeuten. Machtwirksam wird er dann, wenn er erfolgreich öffentlich beschworen und unterstellt werden kann – und wenn sich jeder, der ihn in Frage stellt, dadurch selbst in eine unhaltbare Diskursposition bringt. So fügt sich das „unverkrampfte“ Nationalgefühl in eine hegemoniale Strategie, in der die „Mitte“ alle resonanzfähigen Positionen so „nachhaltig“ selbst besetzt, dass andere Akteure nicht mehr von ihnen profitieren können.

Natürlich operiert die „DU-bist-Deutschland-Kampagne“ ebenfalls mit dem Bild von der „interethnischen Nation“. Als erfolgreiche und prominente „Stars“ werden dunkelhäutige Exoten aus allen Kontinenten zugleich Verkörperungen dafür, dass jeder es nach ganz oben schaffen kann, als Rapper, als Model, als Schauspieler, als Sportler. In dieser Sphäre gibt es eine „globale“ Glamourkultur, die uns vorgehalten werden kann, eine Kultur, in der „Leistung“ durch „Erfolg“, d.h. durch Prominenz und Reichtum belohnt wird, in der als legitimer Teil des nationalen „Wir“ auch symbolisch eingemeindet werden kann, wer ansonsten eher für „Asylbetrug“, „islamistische Gefahr“ oder „billige“ Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt steht.

Aber der Fußball geht als Medium der Nationalerziehung noch ein Stück weiter. Er verkörpert nicht nur die moderne interethnische Erfolgsnation, sondern auch das „Kollektiv der Individualisten“, dem sich Erfolgreiche in ihrer Selbstinszenierung unterordnen müssen. Eine Ansammlung launiger Superstars, die öffentlich kein böses Wort über einander sagen, weil sie in jeder öffentlichen Äußerung zugleich ihre unverwechselbare Identität und ihre Teamzugehörigkeit darstellen müssen. Es ist kaum zu übersehen, dass es, wie in jeder Führungsetage, Eifersüchteleien und Konkurrenz auch in jeder Mannschaft gibt. Aber auf dem Platz und vor dem Mikrofon zählt das Team. Auch das ist eine Konstellation mit beträchtlichen volkserzieherischen (und volkswirtschaftlichen) Potentialen. Ein Kollektiv von hoch kompetitiven Unternehmern in eigener Sache, in dem jeder genau weiß, dass öffentlich nur das Team gilt. Wie sehr diese Einheit von öffentlichem Erfolg und erzieherischer Rollenfiktion den Protagonisten zur zweiten Natur geworden ist, das durfte der ansonsten für mediale Extravaganz bekannte Ersatztorwart vorführen – qua demonstrativer und vorbehaltloser Unterordnung unter die gemeinsame Sache. Kein Zähneknirschen durfte da zu hören sein.

Wahrlich auf der Höhe der Zeit operierte auch der Bundestrainer. Dass der Fußball die „bessere“ Gesellschaft ist, sieht das Publikum daran, dass erfolglose Trainer rasch gefeuert werden, während erfolglose Manager sich dafür fürstlich belohnen, dass sie Arbeitsplätze streichen oder exportieren. Jetzt wissen wir auch, dass der Trainer der bessere Manager ist: Er saniert den Laden und sucht sich dann eine andere Aufgabe