„Zuflucht gesucht – den Tod gefunden“.

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Zum Gedenken an Cemal Kemal Altun. Von Heiko Kauffmann. Erschienen in DISS-Journal 12 (2004).

Anlässlich des 20. Todestages von Cemal Kemal Altun am 30. April 2003 fand am Mahnmal in der Berliner Hardenbergstraße eine Gedenkveranstaltung des Flüchtlingsrates, der Internationalen Liga für Menschenrechte, Pro Asyl und „Asyl in der Kirche“ statt. Das DISS-Journal dokumentiert die Ansprache von Heiko Kauffmann, Pro Asyl, am Mahnmal von Cemal Kemal Altun.

Cemal Altun war der erste politische Flüchtling in der Bundesrepublik, der sich aus Angst und Verzweifelung vor Abschiebung und Auslieferung in einen Folterstaat das Leben nahm. Sein Tod 1983 war ein Fanal, ein die Republik und die Öffentlichkeit bewegendes und erschütterndes Ereignis, das aber in der Politik weder zum Umdenken noch zu einer Humanisierung der Asylpolitik führte. 1993 folgten die schwersten Eingriffe in das Asylrecht mit den repressivsten Maßnahmen gegen Flüchtlinge: Abschiebungsgefängnisse und Abschiebungshaft. Seitdem starben weit über 100 Menschen in Abschiebehaft oder aus Angst vor der Abschiebung – zuletzt Lewon A., ein abgelehnter Asylbewerber aus Armenien, der sich – verzweifelt und zermürbt vom deutschen Asylrecht – am ‘Tag des Flüchtlings’, dem 3. Oktober, mit Benzin übergoss und anzündete und an den Folgen seiner Verbrennungen verstarb. Er lebte seit 10 Jahren in Deutschland, hinterlässt eine Frau mit drei Kindern, denen weiter die Abschiebung droht. Pro Asyl fordert von den Verantwortlichen ein Ende der ‘ausländerpolitischen Gnadenlosigkeit’ mit brutalen Abschiebungen und Familientrennungen, die zu einem Klima der Angst unter denjenigen beigetragen haben, die oft seit vielen Jahren mit einer Duldung in Deutschland leben. Gefordert ist jetzt der Einsatz aller Parteien für eine humane Bleiberechtsregelung, die Menschen mit langjährigem Aufenthalt in Deutschland absichert.

Die Skulptur (Granit) von Akbar Behkalam zeigt einen kopfüber herabstürzenden Menschen mit ausgestreckten Armen – ein Symbol für alle Flüchtlinge, die hierzulande Schaden an Leib und Leben erlitten haben oder erleiden müssen.

Ansprache zum 20. Todestag

Berlin 30. August 2003

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ (Art. 1 (1) GG)

„Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“ (Art. 2 (2) GG)

„Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich … Niemand darf wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.“ (Art. 3 (1), (3) GG)

Im Umgang mit Flüchtlingen und Minderheiten in Deutschland wurde und wird unschwer erkennbar, dass im Grundgesetz festgeschriebene Grundrechte und einige wesentliche, von der Bundesrepublik anerkannte und ratifizierte Menschen- und Völkerrechtsstandards in vielen Fällen nicht gewährleistet bzw. nicht umgesetzt werden. Die Würde von Flüchtlingen ist antastbar, ihre Freiheit verletzlich und ihre Gleichheit anfechtbar geworden.

Wir sind hier heute zusammengekommen, um Cemal Kemal Altuns zu gedenken, der vor 20 Jahren Opfer dieser Diskrepanz zwischen den von der Verfassung verheißenen Rechten und der Realität ihrer Inanspruchnahme wurde, ein Opfer der zunehmenden Kluft zwischen Recht und Humanität. Trifft nicht auch heute im Fall vieler ‘Abschiebehäftlinge’ zu, deren Angst vor Abschiebung identisch ist mit ihrer Angst vor Verfolgung, Folter und Tod, was Peter Doebel am Todestag von Cemal Altun im HEUTE-JOURNAL in seinem Kommentar fragte:

„Musste er bei uns an dieser Angst sterben? Steht nicht im Grundgesetz: Politisch Verfolgte genießen Asyl? Steht da nicht auch, dass hier jeder Mensch die Gerichte zu Hilfe rufen darf? Es steht da. Aber wir müssen darüber nachdenken, warum Cemal Altun diesen Garantien unserer Verfassung nicht getraut hat … Nachdenken müssen Gesetzgeber, Gerichte, Behörden. Sie alle haben dazu beigetragen, dass klare menschliche Grundsätze unseres Staates unter einer Fülle von Wenns und Abers, von Gesetzen und Verordnungen und undurchschaubaren Urteilen bis zur Unkenntlichkeit verschüttet werden.“

Bis heute bleiben Fragen an die deutsche Politik: Was bleibt von der menschlichen Würde, wenn man Flüchtlinge wie Cemal Altun, die ein Grundrecht in Anspruch nehmen, wie Schwerverbrecher gefesselt in Handschellen zur Verhandlung im Widerspruchsverfahren führt, oder wenn „Ausländer“ bis heute von Politikern ungestraft und absichtsvoll pauschal als „kriminell“ und „illegal“ herabgesetzt oder instrumentalisiert werden können, in jene, „die uns nützen“, und jene, „die uns ausnützen“ (Beckstein)?

Was bleibt von der unverletzlichen Freiheit, wenn man Flüchtlinge wie Cemal Altun in über 13 Monaten Auslieferungshaft zermürbt oder wenn bis heute Flüchtlinge, die keine Straftat begangen haben, bis zu 1 ½ Jahren in Abschiebegefängnissen – den dunkelsten Orten unserer Demokratie – in Verzweiflung gestürzt werden?

Was bleibt von den Verfassungsnormen des Gleichheitsgrundsatzes, eines fairen Verfahrens und des Diskriminierungsverbots, wenn man – wie im Fall von Cemal Altun – Militärdiktaturen Akteneinsicht und Amtshilfe gewährt oder wenn man bis heute Flüchtlinge in Zwangsvorführungen Botschaftsangehörigen oder Vertretern von Unrechtsregimen zum Verhör in quasi „rechtsfreien Räumen“ überlässt?

Was bleibt vom Bestreben der Verfassungsväter und -mütter mit dem altem, unversehrten Artikel 16, Recht auf Asyl neue Maßstäbe internationaler Humanität und einer menschenrechtsorientierten Flüchtlingspolitik zu setzen – angesichts der Maxime deutscher Flüchtlingspolitik, von Zimmermann über Kanther bis hin zu Schily, Flüchtlinge abzuschrecken, ihnen den Zugang zu verwehren oder sie so schnell wie möglich wieder los zu werden, egal wohin mit allen Mitteln, um fast jeden Preis?

Wenn ein Staat, der in seiner Verfassung ein kategorisches Nein zu Folter, Todesstrafe und unmenschlicher Behandlung sagt, bereit ist, wehrlose Menschen in seiner Obhut an Staaten auszuliefern, in denen ihre Unversehrtheit nicht gewährleistet ist, macht er sich mitschuldig. Nicht nur der Staat, der foltert, verletzt die Menschenrechte. Auch der Staat, der bereit ist, wehrlose Menschen in Staaten abzuschieben, in denen ihnen Haft, Folter, Verfolgung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder die Todesstrafe drohen, verletzt die Menschenrechte. Das galt vor 20 Jahren und das gilt auch noch heute.

Cemal Kemal Altun ist als jugendlicher Oppositioneller nach Deutschland gekommen, der sich in seiner Heimat schon als Schüler für Demokratie, Meinungsfreiheit und Menschenrechte eingesetzt hat. Er konnte und wollte nicht begreifen, dass der Staat, in dem er Zu- flucht suchte, die Demokratie, auf die er seine Hoffnung setzte, bereit war, ihn an sein Verfolgerland auszuliefern; er konnte nicht glauben, dass die deutschen Behörden und die deutsche Politik eher bereit waren, mit den Behörden einer Militärdiktatur zusammenzuarbeiten und den Vertretern seines Verfolgerlandes mehr Glauben zu schenken als den Beteuerungen eines Flüchtlings, der von jenen verfolgt wurde, weil er allen Repressalien und Verboten zum Trotz mit gewaltfreien Mitteln aktiv im Untergrund gegen den faschistischen Staatsterror kämpfte.

Cemal K. Altun, dessen Tod 1983 von den verantwortlichen christdemokratischen Regierungspolitikern, von Kohl bis Zimmermann, als „bedauerlicher Einzelfall“ bezeichnet wurde – quasi als ‘Schicksalsschlag’ oder ‘höhere Gewalt’, wofür niemand Verantwortung trage, denn alles war ja ‘nach Recht und Gesetz’ zugegangen – Cemal K. Altun war nur der erste von inzwischen weit über 100 Flüchtlingen, die sich aus Angst und Verzweiflung vor ihrer Abschiebung in das gefürchtete Verfolgerland selbst töteten. Allein vier Menschen starben an einem 30. August:

  • Vor 20 Jahren stürzte sich Cemal Kemal Altun hier aus dem Fenster des Verwaltungsgerichts, wo ein Klageverfahren gegen seine zuvor erfolgte Anerkennung als politisch Verfolgter verhandelt wurde. Die 13monatige Einzelhaft des politischen Flüchtlings war erst durch ein „Auslieferungsangebot“ des Bundeskriminalamtes an den türkischen Staat zustande gekommen.
  • Am 30. August 1994 starb der Nigerianer Kola Bankole beim 6. Abschiebungsversuch in einer Lufthansa-Maschine am Frankfurter Flughafen. Der herzkranke Mann erstickte an einem Knebel. Zuvor wurde er mit Klebeband und Klettbändern an Händen und Füßen gefesselt, „wie eine Wurst verpackt“, mit Skisocken und einem Rolladengurt geknebelt, vom Bundesgrenzschutz in das Flugzeug getragen und mit gespritzten Psychopharmaka „ruhiggestellt“.
  • Am 30. August 1999 starb Rachid Sbaai in einer Arrestzelle der JVA Büren.
  • Bei dem Versuch, aus der Abschiebehaft zu fliehen, stürzte der 28 Jahre alte Mongole Altankhou Dagwasoundel in der Nacht zum 30. August 2000 in Köpenick in den Tod.

Wir gedenken ihrer und fordern gleichzeitig von der Politik und der Bundesregierung, die gesamte skandalöse Praxis der Abschiebungshaft auf den Prüfstand zu bringen. Diese Praxis gehört abgeschafft. Die Gewöhnung an Unrecht muss endlich ein Ende haben. Sie alle hätten nicht sterben dürfen – und sie hätten nicht sterben müssen –, wenn rechtsstaatliche und menschenrechtliche Grundsätze und Menschlichkeit den Umgang Deutschlands und seiner Behörden gegenüber Flüchtlingen bestimmen würden und nicht eine rechtlich abgesicherte, ‘demokratisch’ legitimierte Erniedrigung von Menschen. Freiheitsentzug ohne Straftatbestand, das gesamte gegenwärtige System der Abschiebungshaft ist für einen sich als rechtsstaatliche Demokratie definierenden Staat in jedem Fall wohl das eklatanteste und empörendste Beispiel eines institutionellen staatlichen Rassismus in Deutschland. Diese Toten im Abschiebe-Gewahrsam oder aus Angst vor ihrer Abschiebung sind nicht nur Folge verschärfter Asylgesetze durch die Vorgängerregierung; sie werfen vielmehr auch ein grelles Licht auf die Kontinuität einer Politik der Abwehr, Ausgrenzung und Kriminalisierung von Flüchtlingen unter Rot- Grün.

Die über 35 Toten seit dem Regierungswechsel im Herbst 1998 sind auch eine „Anklage“ gegen die rot-grünen Nachfolger, die sich – wider besseres Wissen und gegen ihre eigenen Versprechungen, u.a. im Koalitionsvertrag von 1998 – bisher zu keiner Korrektur an diesem zermürbenden und tödlichen System der Abschiebungshaft und der Abschiebepraxis durchringen konnten.

Die Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, wie sie heute sowohl von der Regierungskoalition wie von der Opposition konzipiert wird, soll einerseits Rassismus zurückdrängen, andererseits produziert diese Politik immanent ständig Rassismus, vor allem in Gestalt des institutionellen Rassismus, der über ‘Sonder’-Gesetze, Maßnahmen, Verordnungen und Erlasse – also scheinbar nach Recht und Gesetz, demokratisch legitimiert – daherkommt und zu Rechtlosigkeit, Armut, Krankheit, Retraumatisierung, Fremdbestimmtheit, zu Ablehnungen und Anfeindungen, in Verzweiflung und Perspektivlosigkeit führt.

Von einem Innenminister, der glaubt, Rassismus und Rechtsextremismus allein durch die Zivilcourage der Bürger/Innen eindämmen zu können, ist zumindest selbst soviel an eigener Courage zu erwarten, dass er – als Innenminister – wenigstens das hält, was er als oppositioneller Abgeordneter versprochen hatte: „… Abschiebungshaft muss rechtsstaatlichen und humanitären Grundsetzen genügen. Leider entspricht die gängige Abschiebepraxis diesen Anforderungen allzu häufig nicht. Das müssen wir ändern. Nicht zuletzt mahnen uns die tragischen Todesfälle in der Ab- schiebehaft, die Abschiebepraxis zu überprüfen. Die Menschenrechte sind unteilbar, auch bei uns zuhause.“ (Schily in „Die Woche“, 24.3.95)

Der Tod Cemals war ein „Zeichen an der Wand“, ein letztes verzweifeltes Zeichen an die Politik, innezuhalten und umzukehren. Die Verantwortlichen haben dieses Zeichen nicht verstanden und keine Lehren aus seinem Tod gezogen. Die verhängnisvolle institutionelle Maßnahmepolitik gegen Flüchtlinge nahm ihren unheilvollen Lauf. Die deutsche Asylpolitik ist für viele Flüchtlinge zum Inbegriff einer amtlich legitimierten Herabsetzung und „Entwürdigung“ von Menschen geworden – Ausdruck einer demokratisch abgesicherten, rechtlich verbrämten Menschenverachtung.

Der Kampf gegen Rassismus, der Schutz der Menschenwürde beginnt bei den Rahmenbedingungen, bei den politischen und rechtlichen Vorgaben für bzw. gegen Flüchtlinge und Minderheiten und Migrant/Innen in diesem Land. Erst die Defizite und Mängel in diesem Bereich, das Wegsehen, Verdrängen und Bagatellisieren der Politik ermutigen rechtsextremistische Täter und geben ihnen das Gefühl, in Übereinstimmung mit einem Mehrheitskonsens zu handeln. Um die Schutzlosigkeit und Rechtlosigkeit der Flüchtlinge zu überwinden, ist die Politik deshalb gefordert, durch gesetzgeberische Maßnahmen sicherzustellen, dass sie niemals mehr als Menschen zweiter Klasse behandelt werden können. Deshalb müssen wir heute erkennen, dass auch die Demokratie, der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat brüchig wird, wenn Schutz und Hilfe suchende Menschen das, was ihnen in Deutschland nach der Flucht widerfährt, als unerwartete Fortsetzung erlebter Schikanen und Verletzungen im Herkunftsland erfahren müssen. Eine Demokratie wird brüchig, wenn einem politischen Flüchtling sein Tod in diesem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat als letzter und einziger Weg in die Freiheit erscheint.
Es ist an der Zeit, dass die Zivilgesellschaft bewusster, hellhöriger, sensibler, wachsamer und widerständiger wird, wenn mit den Mitteln des Rechts oder durch rassistisch geprägte Sondergesetze die systematische Ausgrenzung von Menschen betrieben wird. Cemal Altuns Tod mahnt uns noch entschiedener und offensiver, die Strukturen und Mechanismen von Ausgrenzungs- und Diskriminierungsstrategien anzuprangern und zu bekämpfen, auch wenn sie von der Politik verschleiert, geleugnet und mit dem Hinweis auf Mehrheitsentscheidungen auch noch gerechtfertigt werden. „Die Ignoranz der Justiz und der Opportunismus der Bundesrepublik Deutschland waren stärker als sein Durchhaltevermögen und unser Engagement“ hieß es in der Traueranzeige für Cemal Kemal Altun.

Im Gedenken an Cemal Altun und Hunderte von Flüchtlingen, welche in Deutschland Freiheit und Zuflucht suchten und den Tod gefunden haben, erklären wir: Wir werden mit aller Entschiedenheit gegen den rassistischen Bazillus in Politik und Gesellschaft kämpfen und niemals mehr zulassen, dass sich die Ignoranz von Politik und Justiz und der Opportunismus der politisch Verantwortlichen gegen die Menschenwürde und die Menschenrechte durchsetzen können!

Cemal Kemal Altuns Vermächtnis ist und bleibt uns Verpflichtung im Kampf um eine bessere Welt, für Demokratie und Menschenrechte gegen jede Form eines offenen und institutionellen Rassismus und für eine humane Flüchtlingspolitik!