Von Wolfgang Kastrup
Von vielen westlichen Politiker*innen und Medien wurde und wird eine atomare Eskalation von Seiten Russlands im Ukraine-Krieg als Panikmache, als Bluff und als bewusste russische Propaganda abgetan. Nun jedoch enthüllten die New York Times und CNN (vgl. der Freitag v. 14.03 2024), dass im Herbst 2022 die Welt am Rande eines Atomkriegs stand. Ranghohe russische Militärs erwogen infolge ukrainischer Geländegewinne in Richtung der Krim den Einsatz taktischer Atomwaffen. US-Präsident Biden wurde von seinen Geheimdiensten umgehend informiert und der Nationale Sicherheitsrat der USA trat zusammen. Auch Kanzler Scholz wurde von Biden unterrichtet. Mit der fehlgeschlagenen Offensive des ukrainischen Militärs endete die Krise. Auch im Februar 2024 wurden von US-Geheimdiensten erneut Gespräche russischer Militärs abgefangen, in denen wiederum über einen möglichen Atomwaffeneinsatz gesprochen wurde. Ausgangspunkt für diese Gespräche war die Forderung westlicher Politiker*innen nach Lieferung bunkerbrechender Raketen durch NATO-Staaten an die Ukraine und die Diskussion über NATO-Bodentruppen auf ukrainischem Gebiet, also die direkte Konfrontation der NATO mit Russland. Bezüglich der Bodentruppen bislang ein absolutes Tabu. Ein nukleares „Armageddon“ war und ist also im Bereich des Möglichen, kein Bluff und für die russische politische und militärische Führung im Falle der Gefahr einer möglichen Niederlage eine Option. Die sehr kontroverse Diskussion um die Taurus-Marschflugkörper und den möglichen Einsatz von NATO-Bodentruppen gewinnt auch deshalb an Fahrt, weil offensichtlich wird, dass die Ukraine diesen Krieg wohl nicht mehr gewinnen kann und Russland Geländegewinne, wenn auch kleine, an der Front verzeichnen kann. Eine mögliche Niederlage der Ukraine muss unter westlichen Vorzeichen unter allen Umständen verhindert werden, denn es wäre gleichzeitig eine empfindsame Niederlage für die NATO-Staaten im Ringen um ihre westlich orientierte Weltordnung. Denn das mittelfristige wie langfristige Ziel ist es weiterhin, dass sich Russland als Weltmacht geschlagen gibt und somit nicht mehr in der Lage ist, die westliche Vorherrschaft in der Welt und in Europa speziell zu blockieren. Dieser Wille gehört quasi zur „Staatsräson der als NATO organisierten Mächte“ (Gegenstandpunkt, 1-24, 4).
Welche Zwischenbilanz offenbart der Krieg in der Ukraine nach mehr als zwei Jahren?
1. Für Russland
Seit dem Überfall russischer Truppen auf die Ukraine am 24. Februar 2022 töten und sterben russische Soldaten im Auftrag ihrer Regierung, verwüsten große Teile der Ukraine und verursachen unendliches Leid unter der Zivilbevölkerung. Der Abnutzungs- und Stellungskrieg hat trotz der immensen Waffenlieferungen der NATO-Staaten die vielbeschworene Offensive der ukrainischen Militärmacht verhindert, und die russische Armee befindet sich seit Anfang des Jahres ihrerseits in der Offensive. Russland reklamiert für sich als Weltmacht legitime Sicherheitsinteressen und will einer weiteren NATO-Osterweiterung Einhalt gebieten. Ihren Status als ernst zu nehmende militärische Weltmacht will sie respektiert sehen und setzt auf Gegenabschreckung gegen das militärische Bündnis aus den Vereinigten Staaten, westlichem Europa und der Ukraine. In dem ruinösen und stumpfsinnigen Abnutzungskrieg spielt Russland seine größeren Ressourcen an Soldaten und Waffen gegenüber der Ukraine aus. Hunderttausende tote russische Soldaten und Verwundete sind der Preis für diesen Krieg, der so nun auch vom Kreml offiziell als Krieg bezeichnet wird. „Das hat wie eine militärische Spezialoperation begonnen, aber sobald die Clique da entstanden ist, als der kollektive Westen aufseiten der Ukraine zum Beteiligten wurde, da wurde es für uns zum Krieg“, so der Kremlsprecher Dmitrij Peskow. (Zit. nach Süddeutsche Zeitung v. 23.03.2024) Soldaten als Manövriermasse für ihre Staatsmacht, um als Helden gefeiert zu werden, denn in Kriegszeiten boomt der Ruf nach Helden, auch auf ukrainischer Seite. Eine neue Mobilmachung ist vorerst in Russland aus innenpolitischen Gründen wohl nicht zu erwarten, auch um die Zahl der Militärdienstflüchtlinge nicht wieder in die Höhe zu treiben. Denn seit Februar 2022 sind nach Schätzungen mehr als 250.000 russische Militärflüchtlinge (Zivilisten, die sich ihrer Einberufung entziehen, indem sie untertauchen oder sich ins Ausland absetzen) im dienstpflichtigen Alter mehrheitlich ins Ausland geflohen, vor allem nach Kasachstan, Georgien, Armenien, Türkei, Serbien und Israel (vgl. Ulrich Bröckling in: der Freitag v. 14.03.2024). Der ursprüngliche Plan Moskaus, mit dem Überfall auf die Ukraine einen „Regime Change“ in Kiew zu erreichen, ist durch die Stärke der ukrainischen Armee, basierend auf westlichen Waffenlieferungen und Geheimdienstunterstützungen, vereitelt worden. Allerdings nutzt Russland seine derzeitige Übermacht an Soldaten und Waffennachschub, um in den östlichen annektierten Gebieten in die Offensive zu gehen und den Stellungskrieg zu überwinden. Damit kann der russische Präsident der NATO mit einer Position der Stärke gegenübertreten, um deutlich zu machen: Russlands Militärmacht ist trotz modernster westlicher Waffenlieferungen an die Ukraine nicht zu zerstören und beansprucht militärische Weltmachtgeltung. Russlands Anspruch ist weiterhin, Teil der Weltordnung zu sein, als Weltmacht respektiert zu werden und seinen Sicherheitsbedarf selbst zu bestimmen und auch selbst durchzusetzen. Die westliche Kriegsallianz will genau das verhindern. Der russische Präsident Wladimir Putin rechtfertigt den Krieg bzw. die Spezialoperation mit Angriffen gegen die westlichen Länder: „Die sogenannten Freunde der Ukraine haben die Lage so weit getrieben, dass sie für Russland gefährlich und für das ukrainische Volk selbstmörderisch wurde.“ Ziel der westlichen Allianz sei die „Schwächung, Teilung, Zerstörung Russlands“. Er führte weiter aus: „Wir werden das niemals zulassen.“ (Zit. nach Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 05.11.2022) Für Putin und seine Regierung sind die militärisch zunehmende Einflussnahme des Westens bzw. der NATO unter Führung der USA in Osteuropa, die fehlenden Sicherheitsgarantien gegenüber Russland und der fehlende Respekt gegenüber der russischen Ordnungsmacht wesentlich für den Angriffskrieg. Wenn aus russischer Sicht kollektiv vom ‚Westen‘ gesprochen wird, dann, so Katharina Bluhm, sind „weder die Länder Europas noch die USA [gemeint], sondern die sie verknüpfende komplexe transnationale Struktur, die es der USA erlaubt, als globaler Hegemon zu agieren. Die Europäische Union wie die NATO gehören zu dieser Struktur.“ Allerdings habe der Begriff des ‚Westens‘ nicht nur eine Fremdzuschreibung, so Bluhm weiter, sondern auch im Westen eine „positive Selbstbezeichnung und -abgrenzung. Er ist ein asymmetrischer Gegenbegriff zum ‚Osten‘, asymmetrisch deshalb, weil in ihm eine historisch tiefsitzende Überlegenheitsattitüde eingebaut ist.“ (Bluhm 2024, 8f.) Die Gründe für die aktuelle Überlegenheit des russischen Militärs zeigen sich in einem größeren Raketenvorrat, in der auf Hochtouren laufenden russischen Kriegswirtschaft mit der entsprechenden Produktion an Munition, in der weit überlegenen Anzahl von Soldaten, trotz hoher Verluste, und in den nicht so wie erhofft wirkenden westlichen Sanktionen. (Vgl. Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 06.12. 2023)
Die Vorstellung, Russlands Krieg gegen die Ukraine sei bei einem Sieg Russlands oder „nur“ bei einem „Einfrieren“ des Krieges der Auftakt zur Eroberung der baltischen Staaten und später dann auch Polens, ein Narrativ, dass der „russische Imperialismus“ das demokratische und freie Europa bedrohe, ist wohl Bestandteil der westlichen Propaganda, da Moskau weder über die Mittel verfügt, die NATO zu bedrohen, noch den Willen hat, sein Herrschaftsgebiet nach Westen auszudehnen. Ein neuer Weltkrieg wäre die Folge, einschließlich des atomaren Vernichtungspotenzials. Ein solches Narrativ bezweckt die weitere Aufrüstung nicht nur der Ukraine, sondern auch speziell der europäischen NATO-Staaten, um deren Armeen kriegsfähig bzw. kriegstüchtig zu machen. In seiner Rede zur Lage der Nation erklärte der russische Präsident Putin, dass er bereit sei zu einem Dialog mit den USA über „strategische Stabilität“, kritisiert aber, dass die Gegner eine „strategische Niederlage“ Russlands „auf dem Schlachtfeld“ anstrebten. Dass der Westen erkläre, Russland habe vor „Europa anzugreifen“, sei „Quatsch“, die Gegner suchten doch selbst Ziele für Angriffe „auf unser Gebiet“ aus. (Zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 01.03.2024)
Der Wirtschaftskrieg gegen Russland wirkt nicht wie erhofft
Die russische Ökonomie ist trotz der vielen westlichen Sanktionen nicht zusammengebrochen und erfolgreich auf Kriegswirtschaft umgestellt worden. Nach zwei Jahren mit Strafmaßnahmen schwächelt die europäische Wirtschaft, und hier vor allem die deutsche, mehr als die russische. Trotz des mittlerweile 13. Sanktionspakets der EU erwartet in Brüssel kaum jemand spürbare Auswirkungen für Russland. Im Gegenteil, die schlechten Nachrichten häufen sich:
„Russlands Gewinne aus Rohölverkäufen bleiben auf hohem Niveau. Neue Studien zeichnen akribisch nach, wie das Putin-Regime die Sanktionen vor allem über Zentralasien und die Türkei umgeht. Die Prognose des Internationalen Währungsfonds (IWF) sagt Russland in diesem Jahr ein ordentliches Wachstum von 2,6 Prozent voraus, nach drei Prozent im Vorjahr – deutlich stärker als die schwächelnde Wirtschaft in Deutschland und anderen großen EU-Staaten. ‚Es geht der russischen Wirtschaft definitiv besser, als wir und viele andere erwartet hatten‘, sagt IWF-Chefökonom Pierre-Oliver Gourinchas. Putins Kriegswirtschaft mit massiv gesteigerter Rüstungsproduktion trägt ebenso dazu bei wie die Einnahmen aus Energieexporten.“ (Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 23.02.2024)
Der Westen hat sich bezüglich des Wirtschaftskriegs gegen Russland erheblich verkalkuliert und dieser schadet den Ökonomien der europäisch westlichen Staaten mehr als Russland. Von den hochtönenden Reden aus Brüssel, Paris und Berlin, dass die Wirtschaftssanktionen die russische Wirtschaft ruinieren und einen wirtschaftlichen Kollaps herbeiführen sollten, hat man sich längst kleinlaut verabschiedet. Russland hat bis Ende 2023 fast sein gesamtes Öl nach China und Indien verkauft. Der Anteil Chinas liegt bei ca. 45 bis 50 Prozent und der von Indien ist innerhalb von zwei Jahre von fast null auf 40 Prozent gestiegen. (Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 28.12. 2023) Über Indien gelangt russisches Öl auch nach Deutschland, denn Indien verkauft Teile seines Ölimports aus Russland an westliche Staaten. Und noch immer fließt auch russisches Gas über Umwege nach Westeuropa. „Was an den Flüssiggas-Terminals an der belgischen und niederländischen Nordseeküste ankommt, wird zu großen Teilen weitergeleitet – auch nach Deutschland. […] Doch anders als bei Öl wurde ein Embargo gegen Erdgas aus dem Land nie verhängt.“ (Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 20.02.2024) Nach EU-Angaben waren es an Gas-Einfuhren aus Russland in die Europäische Union immerhin knapp 15 Prozent der gesamten Gas-Importen; ein Teil davon fließt nach Deutschland. (Ebd.) Auch dass westliche Unternehmen massenweise in Russland ihre Geschäfte wegen des russischen Angriffskriegs eingestellt haben, entspricht nicht der Realität. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (23.02.2024) berichtet, dass noch „zwei Drittel oder 277 aller deutschen Betriebe, die zu Beginn der Invasion in Russland waren, dort weiterhin aktiv“ sind. „Alles in allem hätten sich seit dem Überfall nur 358 ausländische Unternehmen durch Verkauf oder Liquidation aus Russland zurückgezogen, während 2138 oder 58 Prozent im Land geblieben“ sind. „Nach amerikanischen seien deutsche Unternehmen die größten ausländischen Steuerzahler. Im Jahr 2022 hätten die Amerikaner 690 Millionen Euro Gewinnsteuern an den Kreml überwiesen, die deutschen knapp 400 Millionen Euro.“ Die größten deutschen Steuerzahler waren Bayer, Metro, Adidas, Knauf und Siemens. Wutentbrannt formuliert die Bild-Zeitung (04.07.2023): „Deutsche Firmen machen immer noch Reibach in Russland! … und füllen indirekt die Kriegskasse.“ Solidarität hin oder her – bei Geschäften hört bekanntlich die Moral auf.
Politische Repression
Mit dem Angriff auf die Ukraine hat sich in Russland die politische Repression erheblich verschärft. Oppositionelle Kräfte und Medien, die den Autokraten Putin, seine Regierung und den russischen Krieg kritisieren, werden oftmals mit brutalen Mitteln unterdrückt, was u.a. auch die jüngste Präsidentenwahl deutlich machte. Durch ein Klima der Angst, der Einschüchterung und Verfolgung sind die Möglichkeiten progressiver Kräfte, politisch Einfluss zu nehmen gering. Für Alex Demirović verfolgt Putin das Ziel, „die imperiale Größe und Bedeutung Russlands wiederherzustellen. Deswegen unterstützt seine Regierung autoritäre Tendenzen in vielen Regionen, fördert den Regierungsterrorismus gegen Bevölkerungsgruppen, sabotiert demokratische Prozesse und sucht Allianzen mit rechtsradikalen Parteien in Europa.“ (Demirović 2023, 133)
2. Für die Ukraine
Auch ukrainische Soldaten töten und sterben für ihr Land, das angegriffen wurde und dessen annektierte Gebiete durch Russland wieder unter die Herrschaft von Kiew gebracht werden sollen. Für die Ukraine hat der Krieg den Charakter einer nationalen Selbstverteidigung und für die NATO, ohne die die Ukraine diesen Krieg nicht führen könnte, den Charakter eines Stellvertreterkriegs gegen Russland. Denn ohne die Milliarden Dollar bzw. Euro für Waffenlieferungen, für den nationalen Haushalt und für humanitäre Zwecke, für die Ausbildung ukrainischer Soldaten an westlichem Militärgerät und für die wichtige Unterstützung westlicher Geheimdienste wäre das Land zu diesem Krieg überhaupt nicht in der Lage. Offensichtlich wird dies durch die immer wieder laut werdenden Forderungen von Präsident Selenskyj und seinen Regierungsmitgliedern bei allen nur erdenklichen Gelegenheiten an das westliche Militärbündnis nach mehr und effektiveren Waffen und Waffensystemen. Selenskyj verbindet das mit einem unerschütterlichen Bekenntnis zum Sieg gegenüber Russland, der ganz im westlichen Interesse liegt.
„Damit leistet er ein doppeltes Eingeständnis. Nämlich erstens, dass sein Land zu dem Krieg, dem er es vollständig unterwirft, für den und von dem allein es überhaupt noch lebt, von sich aus gar nicht fähig ist. Dass es ihn führt, ist eine nationale Auftragsarbeit. Für welchen externen Zweck die Ukrainer aufgerieben werden, wenn sie für ihr heiliges Vaterland töten, sterben und leiden, bringt der Präsident bei seinen Auslandsbesuchen – und den Besuchen des wohlgesonnenen Auslands in Kiew – mit dem stereotypen Appell an den strategischen Eigennutz der freien Welt im Allgemeinen, den Sicherheitsbedarf der Europäer im Besonderen in Erinnerung. Das tut er mit zunehmender Dringlichkeit; und darin liegt das zweite Eingeständnis: Sein Land hält diesen Krieg immer weniger aus.“ (Gegenstandpunkt 1-24, 10)
Aus der viel beschworenen Offensive der ukrainischen Armee zur Rückeroberung der durch Russland annektierten Gebiete ist nichts geworden. Im Gegenteil: Im Frontverlauf befindet man sich in der Defensive, russische Geländegewinne sind zu verzeichnen und durch die immensen Bombardierungen mit Raketen und Drohnen seitens der russischen Armee auf die zentrale Energieinfrastruktur in der ganzen Ukraine wird die Versorgungslage für die Bevölkerung und für die Industrie sehr prekär. Der Ukraine fehlen militärisch geschultes Personal und Waffen. Zudem wird von einer Ermüdung der Soldaten berichtet, die sich seit mehr als zwei Jahren in einem brutalen Abnutzungs- und Stellungskrieg befinden. Der Waffennachschub aus den NATO-Staaten stockt aufgrund nicht ausreichender eigener Kapazitäten. Zudem musste die Regierung der USA, bisher der größte und mächtigste Unterstützer der Ukraine, aus innenpolitischen Gründen des näher rückenden Präsidentschaftswahlkampfs – hier das Veto der republikanischen Partei – die finanzielle und militärische Unterstützung monatelang aussetzen. Durch die Entscheidung im Repräsentantenhaus – gegen die Mehrheit der Republikaner aber mit den Stimmen der Minderheitsfraktion der Demokraten – können die von der Regierung vorgesehenen 61 Milliarden US-Dollar für die Ukraine ausgegeben werden. Die Zustimmung des Senats, dort haben Bidens Demokraten die Mehrheit, ist ebenfalls erfolgt.
„Wir sind im Überlebenskampf“, so der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev im Interview mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung vom 21.02.2024. Dass der Ton in den offiziellen Aussagen immer verzweifelter wird, zeigt auch das Interview, das Selenskyj in einem Interview mit dem US-Fernsehsender CBS einräumte, „dass sein Land einer möglichen neuen russischen Bodenoffensive nicht gewachsen sein könnte. Als Zeitraum nannte Selenskyj die zweite Maihälfte oder den Juni – wenn der Boden nach der Schlammperiode wieder trocken sei und schwere Waffen sich im Gelände bewegen könnten.“ (junge Welt v. 30.03.2024) Mit diesem Szenario einer möglichen Niederlage bezweckt der ukrainische Präsident natürlich die Forderung an die US-Politik, und hier im Besonderen an die republikanische Partei, ihr Veto gegen die von der Biden-Regierung geplante umfassende militärische Unterstützung an die Ukraine von ca. 60 Milliarden US-Dollar aufzugeben. Denn eine Niederlage der Ukraine wäre gleichbedeutend mit einer Niederlage der USA als Hegemon und des westlichen Militärbündnisses. In diesem Zusammenhang betont Selenskyj immer wieder, dass es falsch sei zu glauben, die Lieferung westlicher Waffen an sein Land würde Russland zu einer Eskalation mit taktischen Atomwaffen veranlassen. Die Zurückhaltung von Waffen, dies ist vor allem an die deutsche Adresse gerichtet, endlich die Taurus-Marschflugkörper zu liefern, helfe Russland und schwäche sein eigenes Land. Das verbindet er ebenfalls mit der Warnung, dass es Putin nicht nur um die Ukraine gehe, sondern weitere ehemalige Sowjet-Republiken, hier die baltischen Staaten, gefährdet seien. Die aktuelle militärische Überlegenheit Russlands in diesem Krieg verstärkt in der NATO und bei westlichen Regierungen die Diskussion, die der französische Präsident entfacht hat, französische Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden, versehen mit dem Hinweis, diese nicht in Kampfgeschehen an der Front einzusetzen, sondern zur Ausbildung von ukrainischen Soldaten im Hinterland und zur Sicherung der ukrainisch-belarussischen Grenze. Somit könnten die dort eingesetzten ukrainischen Soldaten ersetzt und als Verstärkung an die Front geschickt werden. Dies wäre von Seiten der NATO ein Eskalationsschritt, den man in der Vergangenheit unter allen Umständen vermeiden wollte. Die NATO wäre somit eine direkte Kriegspartei gegen Russland, was sie ja indirekt schon lange ist. Kanzler Scholz warnt vor einer solchen Situation und bekräftigte, dass kein Bundeswehrsoldat in der Ukraine stationiert werde.
Propagandaapparat auf Hochtouren
Dass in Kriegszeiten die Wahrheit auf der Strecke bleibt und die Propaganda hochgefahren wird, ist keine neue Erkenntnis. So sind laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bislang 31.000 ukrainische Soldaten im Krieg gegen Russland gefallen. Damit wurden auf einer Pressekonferenz erstmals offizielle Opferzahlen genannt. Die Zahl der Verwundeten wollte er nicht nennen. Verlustzahlen von amerikanischer und russischer Seite, die von 100.000 bis 300.000 getöteten ukrainischen Soldaten sprechen, wies Selenskyj zurück. „Das ist alles Unsinn.“ (Zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 26.02.2024). Von amerikanischen Stellen sind diese hohen Verlustzahlen schon häufig genannt worden. Dass in Kriegszeiten oppositionelle Stimmen unterdrückt werden, betrifft nicht nur Russland. So berichtet Robert Putzbach von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass der Inlandsgeheimdienst SBU systematisch investigative Journalisten bespitzelt, die regelmäßig Dokumente und Verträge veröffentlichen, um Misswirtschaft und Korruption aufzudecken. (07.02.2024) Korruption ist selbst nach EU-Angaben in der Ukraine ein sehr großes Problem, das vor allem hochrangige Personen und Institutionen betrifft. Für Kriegsgegner ist es in der Ukraine äußerst schwierig und gefährlich, ihre Meinung zu äußern. Die Regierung hat sämtliche Fernsehkanäle unter staatliche Kontrolle gestellt. Zudem sind elf oppositionelle Parteien strikt verboten worden. (Vgl. der Freitag v. 11.01.2024) Eine andere Position als die regierungsamtliche ist nicht erwünscht. Der Abschuss eines russischen Flugzeugs am 24.01.2024 mit über 60 zum Austausch vorgesehenen ukrainischen Soldaten gegen russische Kriegsgefangene in der Ukraine ist anfänglich strikt geleugnet und als russische Propaganda bezeichnet worden. Russland selbst wurde für den Abschuss verantwortlich gemacht. Von westlichen Medien ist das sofort ungeprüft übernommen worden. Erst nach mehrtägiger Verzögerung hat die Ukraine eingeräumt, dass die russische Darstellung des Flugzeugabsturzes von Belgorod zutreffend ist. Auch die Echtheit der von Moskau veröffentlichen Namensliste der auszutauschenden Gefangenen wurde eingeräumt. (Vgl. junge Welt v. 30.01.2024) Westliche Regierungen und Medien schenkten der Tatsache des Abschusses des Flugzeugs mit vielen Toten durch ukrainisches Militär keine weitere Bedeutung, da solche Meldungen nicht in das Narrativ des ukrainischen Opfers passen.
„Das Ukraine-Paradox“
So titelt die Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.12.2023, wonach die Ukraine einerseits neue Männer für die Front dringend benötigt, andererseits nach Angaben der europäischen Statistikbehörde seit Kriegsbeginn etwa 650.000 Männer im wehrpflichtigen Alter die Ukraine verlassen und in der EU Zuflucht gefunden haben. Von dieser Zahl beziehen derzeit mehr als 220.000 Männer Bürgergeld von der Bundesregierung. Die Zahl der nichtregistrierten Ukrainer in Deutschland beträgt nach Schätzungen bis zu 100.000 Männer. Nach ukrainischem Recht handelt es sich bei den aus der Ukraine geflüchteten Männern um Straftäter, weil sie sich unter dem Kriegsrecht der Wehrpflicht entzogen haben, denn seit der russischen Invasion gilt in der Ukraine das Kriegsrecht und damit eine Generalmobilmachung. Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nur in absoluten Ausnahmefällen verlassen. Die Bundesregierung lehnt es nach Auskunft von Justizminister Marco Buschmann (FDP) ab, diese Männer zu einer Rückkehr in die Ukraine zu zwingen. „Dass wir nun Menschen gegen ihren Willen zu einer Wehrpflicht oder zu einem Kriegsdienst zwingen, das wird nicht der Fall sein.“ (FAZ v. 30.12.2023) Die sehr hohe Anzahl geflüchteter Männer aus der Ukraine zeigt, dass sie sich nicht als Manövriermasse einer Staatsführung verheizen lassen wollen und den Kriegsdienst ablehnen.
3. Für die westliche Kriegsallianz: USA und Europa
Der eigentliche Gegner Russlands ist die westliche Kriegsallianz. Deren „Engagement – ohne das es, wie jeder weiß, den Krieg gar nicht gäbe – nimmt den russischen Einspruch gegen ihre Politik der fortschreitenden Dezimierung russischer Weltmacht ernst, nämlich als Angriff auf ihr Weltordnungs- und strategisches Gewaltmonopol. Sie beantwortet Russlands gewaltsame Selbstbehauptung dort und auf dem Niveau, auf dem Russland sie sucht: im Kampf um die Ukraine, den Moskau als Entscheidungsfall für den eigentlichen großen Konflikt definiert und durchficht.“ (Gegenstandpunkt 1-24, 10) Ohne eigene Soldaten zu opfern, wird die schrankenlose Opferbereitschaft des ukrainischen Militärs in Kauf genommen, um mit vielen Milliarden Dollar/Euro an Waffenlieferungen an die Ukraine Russlands konventionelle Armee so entscheidend zu schädigen, dass Russlands Ambitionen als Weltmacht zunichte gemacht werden. Das ist, trotz aktueller militärischer Rückschläge in der Ukraine, erklärtes Ziel der Regierungen der westlichen Kriegsallianz.
Dieses gemeinsame Ziel bekommt allerdings in den USA einige Risse, da durch den politischen Streit zwischen den Republikanern und den Demokraten weitere milliardenschwere Unterstützungen monatelang an der Blockade der Republikaner scheiterten. Für etliche Hardliner dieser Partei wird diese Hilfe für die Ukraine nicht nur in Frage gestellt, sondern auch als unnötig bezeichnet. Marjorie Taylor Greene, vom äußersten rechten Flügel, sieht sich mit vielen anderen Parteikollegen*innen als ausgesprochene Gegnerin der Ukrainehilfe. Der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (22.04.2024) zufolge kritisiert sie die Biden-Regierung, weil sie der Ukraine Geld gebe, damit diese wiederum Menschen umbringe. Die amerikanische Grenze zu Mexiko zu schützen, dies sei die Aufgabe der US-Regierung. Statt fremden Staaten Geld zu geben, um andere Völker zu töten, müsse man Frieden fordern. Aber Frieden sei das Letzte, was Washington wolle, weil es nicht dem Geschäftsmodell entspreche.
China wird dagegen als eigentlicher und viel gefährlicherer Feind angesehen, da es die Rolle der USA als Hegemon ernsthaft gefährden könnte. Hierin sind sich beide politischen Lager in den USA einig. Allerdings scheint sich in der US-Politik eine Umorientierung anzubahnen, die für die Ukraine eine andere Kriegsführung beinhaltet, nämlich eine Umstellung auf Defensive an der Front. Die Rückeroberung der besetzten Gebiete scheint nur noch in der Rhetorik des ukrainischen Präsidenten eine Rolle zu spielen. Daraufhin deuten die Aussagen von Matthew Miller, Sprecher des US-Außenministeriums am 04.01.2024 hin:
„Wir werden die Ukraine weiterhin unterstützen. […] Das bedeutet nicht, dass wir sie weiterhin mit der gleichen militärischen Finanzierung unterstützen werden wie in den Jahren 2022 und 2023. Wir glauben nicht, dass das notwendig sein sollte, denn das Ziel besteht letztlich darin, die Ukraine umzustellen, dass sie auf eigenen Füßen steht, und der Ukraine dabei zu helfen, eine eigene Industriebasis und eine eigene militärisch-industrielle Basis aufzubauen, damit sie selbst Waffen finanzieren, bauen und erwerben kann. Aber wir sind noch nicht so weit, und deshalb ist es so wichtig, dass der Kongress das Gesetz zur zusätzlichen Finanzierung verabschiedet, denn wir sind noch nicht an dem Punkt angelangt, an dem die Ukraine sich allein aus eigener Kraft verteidigen kann.“ (Zit. nach Gegenstandpunkt 1-24, 12)
Es geht also um den Aufbau einer eigenen militärisch-industriellen Basis, um in der Lage zu sein, die für den weiteren Abnutzungskrieg gegen Russland benötigten Waffen selbst herzustellen. Das beinhaltet auch die Entwicklung einer Ökonomie, die für den ukrainischen Staat als Quelle zur Finanzierung des Staatshaushalts in der Lage ist.
Die USA profitieren vom Ukraine-Krieg
Während die deutsche Wirtschaft unter den Folgen des Ukraine-Kriegs leidet und hinsichtlich des Wachstums das Schlusslicht in der EU bildet, sieht die wirtschaftliche Lage in den USA anders aus. So berichtet die Frankfurter Rundschau (24.02.2024), dass die US-Industrieproduktion des Verteidigungssektors mit 17 Prozent Wachstum in zwei Jahren Profit aus dem Ukraine-Krieg zieht. Die FR bezieht sich dabei auf einen Bericht des Wall Street Journal, wonach der Krieg zwischen Russland, der Ukraine und dem Westen der amerikanischen Industrie zu einem enormen Aufschwung verholfen hat. Besonders die US-Rüstungsunternehmen profitieren von dem Krieg, da europäische Verbündete wie Deutschland mit Milliarden-Aufträgen bei US-Konzernen wie Lockheed-Martin, Raytheon und Co. ihre militärischen Bestände modernisieren und aufrüsten. Konkret bedeutet das, dass seit Beginn des Ukraine-Krieges 63 Prozent aller EU-Rüstungsimporte in den USA beschafft wurden, nur 22 Prozent in EU-Ländern (vgl. junge Welt v. 06.03.2024). Hinzu kommen dann ja noch die Gewinne aus der Flüssiggas-Lieferung der USA an Europa und speziell an Deutschland zu einem wesentlich höheren Preis als die früheren Gaslieferungen aus Russland.
Für die europäischen NATO-Staaten wächst die Befürchtung, dass der Krieg für die Ukraine nicht zu gewinnen ist. Ein russischer Erfolg würde Putin ermutigen, Mitglieder der NATO, hier die baltischen Staaten als ehemalige Sowjetrepubliken, anzugreifen. Zudem sichere die Ukraine unsere Freiheit und unseren Frieden. So die Außenministerin Annalena Baerbock in einem Interview mit der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (30.03.2024) über den „brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die europäische Friedensordnung“: „Denn wenn die Ukraine sich nicht mehr verteidigen kann, weil wir nicht genug Waffen liefern, stehen Putins Truppen morgen an der ukrainisch-polnischen Grenze – nur acht Autostunden von Berlin entfernt. Die Ukraine sichert auch unseren Frieden.“ Entsprechend häufen sich die Appelle zur Geschlossenheit und zur intensiveren Unterstützung mit Waffen. So ist auch der Vorschlag von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zu verstehen, die NATO-Staaten sollten in den nächsten fünf Jahren 100 Milliarden Euro aufbringen, um die Ukraine militärisch zu unterstützen. „Wir müssen der Ukraine auf lange Sicht verlässliche und vorhersehbare Unterstützung für ihre Sicherheit leisten […].“ (Zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 04.04.2024) Das Geld sollen die Mitgliedsstaaten im Verhältnis zu ihrer Wirtschaftsstärke aufbringen. Dieser Vorschlag ist auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die Unterstützung der Ukraine angesichts einer möglichen Wiederwahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten in den Strukturen der Allianz abgesichert wird. (Ebd.) Das bedeutet im Klartext, Regelungen gegen Trump vorsichtshalber zu treffen, da dieser ja nach eigenem Bekunden in der Lage ist, den Ukraine-Krieg binnen eines Tages zu beenden. Zudem will er nur noch Verbündete im Kriegsfall verteidigen, die auch ihre NATO-Rechnungen bezahlt haben. Auch würden die USA überproportional viel für die NATO einzahlen. Stoltenbergs Vorschlag, die Koordinierung der Waffenhilfe in die NATO-Kommandostruktur zu überführen, ist neu, da bisher jedes NATO-Land selbst über die Waffenunterstützung entscheidet. Ein Schritt, der die NATO immer mehr zur Kriegspartei werden lässt, was offiziell jedoch verneint wird. Ungeteilte Zustimmung auf dem Außenministertreffen erfolgte jedoch nicht. So wurde u.a. von dem ungarischen Vertreter die Ansicht vertreten, Ungarn sei einem Verteidigungspakt beigetreten, keinem Angriffspakt. Der Ukraine-Krieg sei „nicht Ungarns Krieg und auch nicht der der NATO“ (junge Welt v. 05.04.2024).
Das Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) hat neue Zahlen über die enormen Hilfszusagen an die Ukraine veröffentlich. Danach haben, Stand 15.01.2024, seit Kriegsbeginn die USA 42,22 Milliarden Euro an militärischen Hilfszusagen ausgegeben, Deutschland 17,7 Milliarden, Großbritannien 9,12, Dänemark 8,40 und die EU (Kommission und Rat) 5,6 Milliarden Euro. Frankreich belegt laut IfW mit 0,64 Milliarden einen hinteren Platz. Die kumulierten Hilfszusagen (militärisch, finanziell und humanitär) in Milliarden Euro belaufen sich bis Januar 2024 für die EU auf 142,03, für die USA auf 67,71. Allerdings muss bei diesen Zahlen laut IfW beachtet werden, dass es „unter den Unterstützern einen großen Unterschied [gebe] zwischen der zugesagten und der tatsächlichen bereitgestellten militärischen Hilfe“. (Zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 17.02.2024) Bundeskanzler Scholz weist immer wieder darauf hin, dass Deutschland nach den USA der zweitgrößte Unterstützer der Ukraine ist und andere europäische Staaten größere Anstrengungen der Unterstützung leisten sollten. Innereuropäische Rivalitäten, hier vor allem zwischen Deutschland und Frankreich, sind die Folgen.
Die europäischen NATO-Staaten stehen vor der Notwendigkeit, die eigenen Geld- und Waffenlieferungen intensiver zu erhöhen. Das geht mit einem deutlichen Wunsch an die europäische Rüstungsindustrie einher, durch vermehrte Anstrengungen Waffen schneller und umfangreicher zu produzieren. So erhält als Beispiel der deutsche Rüstungskonzern Rheinmetall, trotz horrender eigener Profite, 130 Millionen Fördergelder der Europäischen Union zur Erhöhung der Munitionsproduktion (vgl. Westdeutsche Allgemeine Zeitung v. 27.03.2024).
Europäische NATO-Bodentruppen für die Ukraine?
Auch die Diskussion um das beste und effizienteste Kriegsgerät beherrscht nicht nur die europäische, sondern vor allem auch die deutsche Debatte, die mit viel Wut und Kriegsgeschrei vorgetragen wird, was am Beispiel der Taurus-Marschflugkörper deutlich wird. „Das Drehbuch dafür gibt es längst. Es folgt dem bewährten Muster, dass die ‚rote Linie‘ von heute die akzeptierte Praxis von morgen ist: die fälligen Stationen sind mit ‚F-16‘, ‚Taurus‘, ‚Ausgleich des Personalmangels der ukrainischen Armee durch westliche Soldaten in der Etappe‘, schließlich – wenn schon, denn schon – mit ‚Boots on the ground‘ schon mal in der Debatte.“ (Gegenstandpunkt 1-24, 14) Bezüglich der ‚roten Linien‘ bezieht sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung (05.04.2024) auf den französischen Präsidenten Emmanuel Macron, für den es „keine roten Linien“ mehr gebe, da der Ausgang des Krieges für Europa „existenziell“ sei. Er schließe nichts aus, auch nicht den Einsatz von französischen Bodentruppen. Bundeskanzler Scholz will genau das vermeiden, da dies zu einer direkten Konfrontation mit russischen Truppen führen könnte. Das war bisher immer das absolute Tabu. Einem Bundeswehreinsatz in der Ukraine erteilt er eine Absage, auch mit Zustimmung der Opposition. Konsens besteht dagegen – allerdings nicht bezüglich der Lieferung der Taurus-Marschflugkörper – in der massiven Unterstützung der Ukraine bezüglich Waffen und Geld. Das Kriegselend will man allerdings den ukrainischen Soldaten überlassen, die man dafür als aufopfernde Freiheitshelden feiert. Aber vielleicht gilt diese deutsche Absage an Kampfverbänden der Bundeswehrsoldaten nur so lange, wie die Ukraine dem Vorrücken der russischen Armee noch einigermaßen Einhalt gebieten kann. Also dann doch NATO-Bodentruppen, einschließlich der Bundeswehr, eines Tages in der Ukraine? Und keine ‚roten Linien‘ mehr und für eine schrankenlose Eskalation des Krieges, damit Russland der westlichen Vorherrschaft in Europa keine Schranken mehr setzen kann?
Jenseits der Kriegslogik oder „Kanonen ohne Butter“?
Das Narrativ von den Guten und den Bösen und die ideologische Verengung auf ein „Ihr seid für uns“ oder „Ihr seid gegen uns“ in den meisten Parteien und Medien beherrscht nach wie vor den Diskurs in Europa, vor allem aber in Deutschland. Entsprechend groß waren Aufregung und Kritik bei den Worten von Papst Franziskus mit seiner indirekten Aufforderung an die Ukraine, Mut zu Verhandlungen zu haben und die weiße Fahne zu hissen. „Wenn man sieht, dass man besiegt ist, dass es nicht gut läuft, muss man den Mut haben, zu verhandeln.“ In dem Interview mit dem Schweizer Sender RSI wird der Papst auch zu Forderungen nach „Mut zur Kapitulation, zur weißen Fahne“ gefragt. „Das ist eine Frage der Sichtweise. Aber ich denke, dass derjenige stärker ist, der die Situation erkennt, der an sein Volk denkt, der den Mut der weißen Fahne hat, zu verhandeln.“ (Zit. nach Rheinische Post v. 12.03.2024) Es hagelte Kritik an dieser Aussage – international wie national – von der herrschenden Politik wie von den etablierten Medien. „Für Franziskus ist die Sache gelaufen: Die Ukraine hat den Krieg verloren, soll kapitulieren und einen von Erdoğan vermittelten Diktatfrieden Putins akzeptieren.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 12.03.2024) Eine dauerhafte friedliche Lösung auf dem Verhandlungsweg kann nach vorherrschender westlicher Auffassung nur durch die massive militärische Unterstützung der Ukraine erfolgen. Eine vergleichbare Debatte gab es nach der Rede des Fraktionsvorsitzenden der SPD Rolf Mützenich vor dem Deutschen Bundestag, in der er die Diskussion über den Krieg nicht auf das Für und Wider von Waffenlieferungen beschränkt sehen will: „Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man den Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann?“ (Zit. nach Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 22.03.2024) Auch hier wütende Beschimpfungen, Hohn und Spott für einen, der es wagt, von einem Einfrieren des Krieges zu sprechen und für den eine solche Frage kein „Schandfleck“ ist. Für den herrschenden bellizistischen Zeitgeist ist der Sieg der Ukraine gegenüber Moskau, unter Zuhilfenahme der NATO, das einzige legitime Ziel. Tausende weitere tote Zivilisten und Soldaten werden dafür in Kauf genommen.
Begleitet wird diese herrschende Debatte mit der unbedingten Notwendigkeit um die „Kriegstüchtigkeit“ der Bundeswehr, die Verteidigungsminister Boris Pistorius vehement einfordert. Diese Kriegstüchtigkeit soll aber nicht nur beschränkt sein auf die Bundeswehr, sondern bezogen auch auf das ganze Land, auf Schulen, Universitäten, Gesundheitswesen und auf eine Umorientierung der Bevölkerung auf militärische Positionen, Aufrüstung und insgesamt auf eine Kriegsstimmung. Die Prämisse, Russland sei bereit einen NATO-Staat anzugreifen, mit diesem Gedanken geht die herrschende Politik täglich hausieren, allen voran natürlich die „Einpeitscher“ Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) und Anton Hofreiter von den Grünen. In dieser Kriegslogik, verbunden mit der zunehmenden Militarisierung der Gesellschaft, werden mahnende Worte nach Verhandlungslösungen, Diplomatie und Waffenstillstand, um der weiteren Verwüstung der Ukraine mit zigtausenden toten Soldaten und Zivilisten Einhalt zu gebieten, als völlig unpassend, realitätsfremd, naiv und als Russland in die Karten spielend desavouiert. Im Gegenteil: Wir müssten „die Komfortzone verlassen und endlich so handeln …, wie es ein Krieg erfordert. […] Unsere Sicherheit wird am Dnjepr verteidigt“, daher sei der Krieg in der Ukraine längst „auch unser Krieg“, so die beiden Parteimitglieder der Grünen Ralf Fücks und Marieluise Beck vom mit Steuermillionen finanzierten Zentrum Liberale Moderne. (Zit. nach Kronauer 2024, 13) Mit dieser „Komfortzone“ wird dann in der Konsequenz im politischen und medialen Diskurs die Frage gestellt: Was ist uns die Freiheit vor dem Aggressor Putin wert und sind wir bereit, auch finanzielle Einschränkungen zugunsten einer notwendigen Kriegstauglichkeit der Bundeswehr hinzunehmen? „Die Folgen, die eine derart dramatische Aufrüstung [Pistorius spricht sogar von einer Aufstockung des Rüstungsetats von drei bis 3,5 Prozent des BIP, W.K.] für den Sozialhaushalt, die Renten und das Gesundheitswesen hätte, liegen auf der Hand. ‚Kanonen und Butter – das wäre schön, wenn das ginge‘ sagte im Februar der Präsident des Ifo-Instituts, Clemens Fuest: ‚Aber das ist Schlaraffenland. Das geht nicht.‘ In Zukunft werde es also ‚Kanonen ohne Butter‘ geben.“ (Ebd., 14) Verteidigungsminister Boris Pistorius kann sich mit seiner Forderung, dass die deutsche Gesellschaft kriegstüchtig werden müsse, im Besonderen auf die Partei der Grünen verlassen. Claudius Seidl charakterisiert sie in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (04.04.2024) euphorisch als eine, die „längst gelernt hat, dass Wohlstand, Komfort, Bequemlichkeit nicht zu den unveräußerlichen Menschenrechten gehören. Dass man bereit sein muss, die eigene Lebenspraxis infrage zu stellen, wenn tödliche Bedrohungen erkennbar werden. Zu diesen Bedrohungen gehört eben nicht nur der Klimawandel. Zu diesen Bedrohungen gehört auch Putins Krieg. Es sieht so aus, als wäre ausgerechnet der angeblichen Verbotspartei die Freiheit kostbar genug, dass man für sie Opfer bringen muss.“ Passender kann, wie gesagt, die Forderung „Kanonen ohne Butter“ nicht formuliert werden.
Stand: 02.05.2024
Literatur
- Bluhm, Katharina (2024): Russland und der Westen. Ideologie, Ökonomie und Politik seit dem Ende der Sowjetunion, Berlin.
- Demirović, Alex (2023): Gegen die Eindeutigkeit, in: LuXemburg 2/2023, Berlin, 132-137.
- Gegenstandpunkt (2024): Politische Vierteljahreszeitschrift, Heft 1, München.
- Kronauer, Jörg (2024): „Kanonen ohne Butter“, in: Konkret, Heft 4, Hamburg, 12-16.
Wolfgang Kastrup ist Mitglied der Redaktion des DISS-Journals und im AK Kritische Gesellschaftstheorie