Clearview AI

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Der neoreaktionäre und neonazistische Hintergrund der weltweit leistungsfähigsten Gesichtserkennungstechnologie

Von Guido Arnold

New York Times und Huffington Post hatten im Frühjahr 2020 nach aufwändigen Recherchen enthüllt1, wer hinter der Entwicklung der Gesichtserkennungssoftware Clearview AI steckt: sogenannte Neoreaktionäre mit engen Verbindungen zu Ultrarechts-Libertären wie z.B. Peter Thiel sowie führenden, in den USA organisierten Faschisten. Dieser Artikel soll einige wesentliche Stationen der Entstehungsgeschichte des Start-ups nachzeichnen und dabei die vielschichtigen personellen Verwicklungen aufzeigen, aber vor allem die Interessenkohärenz bei der zielgerichteten Entwicklung von biometrischer Überwachungssoftware, um „jeden illegalen Ausländer im Land zu identifizieren“. Clearview AI ist ein Paradebeispiel für die Nicht-Neutralität von Technologie. Die Entstehungsgeschichte des Unternehmens lässt eine Reduzierung der Frage nach Nutzen und Schaden technologischer Innovation auf deren jeweilige Anwendung geradezu absurd erscheinen.

Clearview AI ist eine Art Suchmaschine für Gesichter. Sie ist die derzeit leistungsfähigste Gesichtserkennungssoftware. Und das liegt in erster Linie an ihrer Datenbank bereits erkannter Gesichter. Mit nach eignen Angaben mehr als 20 Milliarden Fotos2, die aus Social-Media-Profilen und anderen Websites extrahiert wurden, ist ihre Bilddatenbank mehr als dreißigmal so groß wie die des FBI. Die mobile App kann per künstlich intelligenter Mustererkennung im Vergleich mit bereits bekannten Bildern einem Foto eines Gesichts den Namen der abgebildeten Person zuordnen. Einfach durch Antippen auf dem Touchscreen. In den USA berichten Polizistinnen von schnellen Fahndungserfolgen in Fällen von Körperverletzung und Ladendiebstahl. Die Technologie wird bereits in Augmented-Reality-Brillen integriert, so dass die Trägerinnen dieser Brillen (andere Menschen, die sie anschauen, in Echtzeit identifizieren können.3

Hoan Ton-That – das Entwicklerherz von Clearview

Der CEO und Mitbegründer von Clearview, Hoan Ton-That, ein 33-jähriger australischer Hacker, der 2007 nach San Francisco zog, hatte sich 2015 einer Clique der extremen Rechten angeschlossen, die daran arbeitete, Trump zum Präsidenten zu machen.

Zu ihnen gehörten Mike Cernovich, ein Propagandist aus Trumps Umfeld, Andrew „Weev“ Auernheimer, ein Neonazi-Hacker und Webmaster des Daily Stormer, und Pax Dickinson, der rassistische ehemalige Chief Technology Officer des Finanz-Magazins Business Insider, der im August 2017 mit Neonazis in Charlottesville marschierte. Aus dieser rechten Clique stachen zwei von Ton-Thats Mitarbeitern dank ihrer engen Verbindung zum rechtsaußen-libertären Milliardär Peter Thiel (Paypal-Gründer, Vorstandsmitglied von Facebook und Ex-Berater von Trump)4 hervor: Jeff Giesea, ein Thiel-Protegé und geheimer Geldgeber für rechtsextreme Anliegen, und Charles „Chuck“ Johnson, ein bekannter Rechtsextremist und ehemaliger Breitbart-Journalist.

Die Personen, die mit Clearview AI zu tun haben, scheinen erhebliche Anstrengungen unternommen zu haben, um ihre Verbindungen zum Unternehmen und untereinander zu verbergen. Johnson zum Beispiel erscheint auf keinem der Gründungsdokumente und hat über einen Facebook-Post hinaus kaum öffentliche Spuren seiner Verbindung zu Ton-That hinterlassen. Allerdings bestätigten mehrere Quellen aus seinem rechtsradikalen Umfeld gegenüber der Huffington Post, dass er und Ton-That seit 2016 in engem Kontakt standen und dass Johnson ihnen sagte, er arbeite mit Ton-That an der Gesichtserkennung und dass er die Technologie als eine Möglichkeit betrachte, potenziell „jeden illegalen Ausländer im Land zu identifizieren“. Erst Anfang 2017 gab Johnson auf Facebook an, dass er „Algorithmen zur Identifizierung aller illegalen Einwanderer für die Abschiebekommandos entwickelt“ habe.

Der Nationalkonvent 2016

Im Juli 2016 versammelten sich zahlreiche Rechtsextreme zu einem republikanischen Nationalkonvent in Cleveland. Das intellektuelle Aushängeschild der Alt-Right-Bewegung, Richard Spencer, war dort, ebenso wie Cernovich; auch Johnson, der zu dieser Zeit eine Website namens ‚GotNews‘ betrieb, die weiße Nationalisten beschäftigte, um rassistische Inhalte für Trump-Anhänger zu verbreiten.

Spencer nahm in diesem Rahmen an einem Abendessen mit Johnson und anderen Mitgliedern der extremen Rechten teil. Er saß an einem Tisch mit Ton-That. Letzterer erzählte begeistert von seinen faschistischen Phantasien und seiner Nähe zur „neoreaktionären Bewegung“. Die neoreaktionäre Bewegung, auch bekannt als „NRx“ oder „Dark Enlightenment”, ist eine Strömung der rassistischen, frauenfeindlichen Rechten, die sich seit über einem Jahrzehnt in den libertären Kreisen des Silicon Valley ausweitet, vor allem innerhalb der Kryptowährungsszene. Ihre Mitglieder verehren Peter Thiel. Mit ihren technischen Fähigkeiten und ihrem Zugang zu großem Reichtum haben sie einen Einfluss, den die Nazis aus Spencers Alt-Right-Bewegung nicht haben. Ton-That hatte sich der neoreaktionären Vereinigung schon vor 2016 angeschlossen.

Der Hohepriester der Bewegung, Curtis Yarvin, ist ein Programmierer, der ein von Thiel finanziertes Kryptowährungs-Startup namens Tlon leitet. Yarvin, der Sklaverei und Apartheid befürwortet, argumentiert, dass die USA besser dran wären, wenn sie von einem ‚CEO-König‘ regiert würden. Um dies zu realisieren, plädiert er für einen sanften Staatsstreich. Unter Neoreaktionären wird Trump oft als der „Gott-Kaiser“ bezeichnet, der die Ordnung wiederherstellen wird in einer angeblich von Einwanderern überfluteten Nation unter der Fuchtel eines fortschrittlichen medienakademischen Komplexes – im neonazistischen Sprachgebrauch ‚globales Judentum‘. Im April 2016 sagte Johnson in einem Video: „Was ist das Alt-Right? Ich schätze, ich befinde mich hier sozusagen im Erdgeschoss, da ich mit Curtis Yarvin alias Mencius Moldbug befreundet bin.“ Yarvin zu lesen bedeutet, nach den eigenen Worten des neoreaktionären Paten, „Anweisungen“ für einen stillen „faschistischen Putsch“ in Amerika zu finden, der 25 Jahre, vielleicht 50 Jahre dauern könnte. Alles im Namen einer neuen Weltordnung.

Giesea organisierte das Abendessen in Cleveland. Er arbeitete für Thiels ersten Hedgefonds. Thiel wiederum stellte Startkapital bereit, als Giesea eine eigene Firma gründete. Im Vorfeld der Wahlen 2016 arbeitete Giesea eng mit Cernovich zusammen, um einen ‚Mobilmachung‘ in den sozialen Medien zu organisieren, der die Energie der Rechten auf das eigentliche Ziel lenken sollte: die Wahl von Trump. In einem Leitfaden How to Fund the Alt-Right, der 2016 unter dem von Giesea benutzten Pseudonym online gestellt wurde, sollten Spender an weiße nationalistische und neonazistische Organisationen spenden.

WeSearchr – rechtes Crowdfunding

2016 richtete Johnson einen Slack-Kanal5 für WeSearchr ein, eine mittlerweile geschlossene Crowdfunding-Plattform, die er ins Leben gerufen hatte.6 Jonson galt als zentraler Knoten in einem großen Netz extremer Rechter. Johnsons Adressbuch war gut gefüllt: Der republikanische Senator Ted Cruz aus Texas, die fremdenfeindliche Kommentatorin Ann Coulter, Blackwater-Gründer Erik Prince, der hochkarätige Anwalt Alan Dershowitz – und eben auch Ton-That, von dessen technischen Fähigkeiten Johnson schwärmte.

Zu Johnsons WeSearchr-Slack-Kanal gehörten etwa 400 Personen – Giesea, Cernovich und auch Ton-That waren darunter. Ein weiteres Mitglied des Kanals und enger Mitarbeiter von Johnson war Andrew Auernheimer, der Webmaster von The Daily Stormer, der beliebtesten Neonazi-Website der USA. Auernheimer trägt ein riesiges Hakenkreuz-Tattoo auf der Brust. Er sprach offen von seinem Wunsch, jüdische Kinder abzuschlachten, einen Rassenkrieg zu beginnen und die Vereinigten Staaten zu zerstören.

Wie Ton-That hatte auch Auernheimer ein Interesse an der Biometrie. Die beiden hatten schon 2015 ‚direkten‘ twitter-Kontakt miteinander. 2016 erzählte Auernheimer einem Freund, dass er „an der Gesichtserkennung arbeite, speziell über Schwarze“. Als Auernheimer später von der Huffington Post befragt wurde, stellte er klar, dass er „ein Projekt zur Rassen- und nicht zur Gesichtserkennung aufgebaut hatte, das Merkmale des gesamten Körpers, nicht nur des Gesichts, aufnahm“. Damals sei das System zu kostspielig gewesen, um es auf Drohnen zu montieren, sagte er, aber er plane, die Idee bald wieder aufzugreifen.

In dieser Zeit, in der sich Ton-That online und offline mit Neoreaktionären aber auch mit bekennenden Faschisten umgab, begannen Johnson und Ton-That mit dem Aufbau eines Unternehmens, aus dem Clearview entstehen sollte.

Smartcheckr – der Vorläufer von Clearview

In der Wahlnacht 2016 feierte Ton-That mit den Faschisten Johnson und Dickinson in New York inmitten eines Meeres roter Make-Amerika-Great-Again-Mützen den Wahlsieg von Trump. Johnson leugnete im Januar 2017 in einer öffentlichen „Ask-Me-Anything“-Sitzung im Portal reddit den Holocaust: „Ich glaube nicht und habe nie an die Sechs-Millionen-Zahl geglaubt“, schrieb Johnson. „Ich halte die Zahlen des Roten Kreuzes von 250.000 Typhus-Toten in den Lagern für realistischer“.

Zwei Wochen später wurde das Unternehmen Smartcheckr in New York registriert. Die dabei angegebene Adresse gehörte Richard Schwartz, einem Spitzenberater von Rudy Giuliani (damaliger Trump-Anwalt und ehemaliger Bürgermeister von New York). Schwartz gab später zu, einer der Gründer von Smartcheckr gewesen zu sein und später Präsident von Clearview AI. Peter Thiel war einer der ersten Investoren von Smartcheckr. Er gab 200.000 Dollar, die zwei Jahre später in Aktien von Clearview AI umgewandelt wurden.

E-Mails und Nachrichten zeigen, dass Ton-That und Johnson 2017 über Smartcheckr in Kontakt standen. In einem E-Mail-Thread besprachen sie die Möglichkeit, Schwarze im Netz zu identifizieren. „Ich arbeite daran für smartcheckr“, schrieb Johnson an Ton-That. „Planen Sie, diese Tools für unsere Jungs verfügbar zu machen.“ Parallel arbeitete Johnson hinter den Kulissen mit Giesea und Thiel zusammen, um Alt-Right-Kandidaten für politische Posten in Wissenschaft und Technologie in der neuen Regierung zu empfehlen.

Für Smartcheckr arbeitete ein weiterer Neonazi: Tylor Bass, ein Hacker aus dem Umfeld von Ton-That. Auch er war ein überzeugter Rassist und gehörte 2017 zu einer Gruppe weißer Nationalisten, deren Leiter, Matthew Q. Gebert ein Beamter des Außenministeriums, sich für einen nuklear bewaffneten weißen Ethnostaat einsetzte.7 Einige Wochen nach der tödlichen Kundgebung von ‚Unite the Right‘ in Charlottesville im August 2017, an der Bass teilgenommen hatte, fand er einen Job als Codetester bei Smartcheckr. Aus seinen Lebensläufen geht hervor, dass er Johnson geholfen hat, Kandidaten für das Übergangsteam der Trump-Administration zu überprüfen.

Ein weiterer früher Angestellter bei Smartcheckr war Douglass Mackey, der 2016 unter dem Decknamen „Ricky Vaughn“ zum Alt-Right-Superstar wurde. Der Verfechter der „globalen Vorherrschaft der Weißen“ war so effektiv bei der Verbreitung von Pro-Trump-Nachrichten, antisemitischer Propaganda und vom Kreml stammender Desinformation, dass das MIT Media Lab seinen Twitter-Account auf einer Liste der Top-Einflussfaktoren auf die Wahl 2016 nannte, noch vor NBC News. Mackey pries 2017 Ton-Thats „proprietäre Such- und Gesichtserkennungstechnologie“ an, sie würde eine Analyse der sozialen Medien der Wähler und ihrer Ansichten zu verschiedenen Themen ermöglichen.

Anfang 2018 wurde enthüllt, dass Mackey „Ricky Vaughn“ sei – ein Skandal, der Wellen schlug: Angestellte und Mitarbeiter von Smartcheckr verbargen nach dem Vorfall ihre Verbindungen zum Unternehmen und untereinander. Schwartz, der Helfer von New Yorks ehemaligem Bürgermeister und Trump-Anwalt Giuliani, hat daraufhin sein LinkedIn-Profil bereinigt. Smartcheckr nutzte einen Reputationsmanagement-Dienst, um Informationen über sich selbst und Schwartz zu unterdrücken, indem er die Google-Suchergebnisse mit gefälschten Webseiten beeinflusste. Schlussendlich wurde das Unternehmen Smartcheckr abgewickelt und das Geschäft weitergeführt unter dem Namen Clearview AI.

Clearview

Clearview fand deutlich mehr Investoren, u.a. Hal Lambert, einen texanischen Geldmanager und großen Spendensammler, der Senator Ted Cruz nahesteht. Lambert hatte auch früh in „Anduril“ investiert, ein von Thiel unterstütztes Verteidigungsunternehmen, das autonome Überwachungssysteme zur Überwachung der Südgrenze der USA baut. Peter Thiel hat selbst ein offensichtliches Interesse an der Massenüberwachung durch Clearview AI: Palantir, sein Big-Data-Analyse-Konzern, sammelt riesige Mengen persönlicher Informationen über Immigranten und liefert die Analyseinstrumente für Razzien der US-Einwanderungs- und Zollbehörde. Jedes Mal, wenn die Polizei Clearview benutzt, lädt sie Bilder von Personen, die sie zu identifizieren versucht, in Clearviews stetig wachsende Datenbank hoch, wo sie auf unbestimmte Zeit gespeichert werden.

Während des gesamten Jahres 2018 und bis in das folgende Jahr hinein arbeitete Ton-That mit Schwartz, dem ehemaligen Helfer von New Yorks Ex-Bürgermeister und Trump-
Anwalt Rudy Guillani, zusammen, um Strafverfolgungsbehörden für Clearview zu gewinnen. Das Unternehmen behauptete, „Berge“ von Daten in seiner „proprietären Bilddatenbank“ zu haben. Das Clearview-Team begann, alle in den letzten 15 Jahren in den USA aufgenommenen Fahndungsfotos zusammenzufassen. Schwartz ging auf Konferenzen der Strafverfolgungsbehörden mit der Technik hausieren.

Mittlerweile meldeten sich mehrere Strafverfolgungsbehörden bei Clearview an, um die Software zu nutzen: die Staatspolizei von Indiana, die Staatspolizei von New York, die Polizei von Chicago, die Polizei von Atlanta, die Polizeidienststellen in New Jersey und Florida und das Heimatschutzministerium. Ebenso die Abteilung für Nachrichtendienste und Terrorismusbekämpfung des Texas Department of Public Safety. Im Sommer 2019 setzen „über 200 Strafverfolgungsbehörden im ganzen Land“ Clearview ein. Diese Zahl sollte sich nach Angaben der New York Times innerhalb weniger Monate verdreifachen. Paul Clement, der ehemalige Generalstaatsanwalt der USA und ständige Rechtsbeistand für den Obersten Gerichtshof, bot der Polizei einen legalen Deckmantel, um Bürgerrechtsbelange hinsichtlich der Nutzung von Clearview AI zu umgehen.

Als Clearview immer mehr Polizeidienststellen unter Vertrag hatte, interagierten die rechten Entwickler des Unternehmens mit den Strafverfolgungsbehörden. In Clearview-Werbematerialien heißt es, das Unternehmen habe 2018 „begonnen, Verbrechen mit Hilfe neu entwickelter Gesichtserkennungstechnologie aufzuklären“, was bedeutet, dass Ton-That und seine Mitarbeiter fast zwei Jahre lang ungehindert in der Lage gewesen sein könnten, bei polizeilichen Durchsuchungen und strafrechtlichen Ermittlungen zu schnüffeln und Bilder von Verdächtigen für ihre Datenbank zu sammeln. In einer E-Mail vom Dezember 2019 schlug Clearview-Mitarbeiter Marko Jukic einem landesweiten Polizeilistendienst einen kostenlosen Test der Technologie vor: „Wir laden Sie ein, die Grenzen selbst zu testen.“

Jukic veröffentlichte viel in neoreaktionären Blogs. Er war gegen den Multikulturalismus und schrieb, dass Juden nicht zu den Menschen mit europäischem Erbe gehörten. Jukic war anfällig für wilde, neoreaktionäre Phantasien und stellte sich eine Zukunft vor, in der ein König Amerika regieren und die „Wohlfahrtsausgaben“ in Angriff nehmen würde, indem er das Militär und schwer bewaffnete Milizen entsandte, um die „Ghettos“ mit tödlicher Gewalt zu „befrieden“. Journalisten, die einen Fuß in die besetzten Zonen setzen würden, würden ermordet werden. „Gewalt ist ganz sicher die Antwort“, schrieb er. Er befürwortete den „großzügigen Einsatz“ von rassistischen Profilen, um die Einwanderung einzudämmen, sowie eine Mauer entlang der Grenze zu Mexiko, die mit Hightech-Kameras und Drohnen ausgestattet ist.

Jukic hatte viel über Taktik von Bewegungen nachgedacht und den offenen Aktivismus vermieden, den sich die Alt-Right, vor allem in Charlottesville, zu eigen gemacht hatten. Stattdessen befürwortete er das neoreaktionäre Konzept des „Passivismus“: Untertauchen, versteckte Netzwerke schaffen, im Stillen die „Maschinerie“ aufbauen, um das System zu untergraben. „Der Sieg wird nicht an der Wahlurne errungen werden“, schrieb Jukic 2016. „Donald Trump wird sein eigenes Regime, seinen eigenen Staat aufbauen und ihn so gut machen müssen, dass das bestehende Regime aus Angst und Ehrfurcht vor seiner Macht zu ihm überläuft. Er wird sein eigenes Außenministerium brauchen, seine eigene CIA, seine eigene Harvard“.

Die Enthüllungskrise

Nachdem die New York Times im Januar 2020 eine investigative Untersuchung8 zu den Hintergründen von Clearview und der illegalen Verwendung von Bildmaterial veröffentlicht hatte, ordnete der Generalstaatsanwalt von New Jersey an, dass die gesamte Polizei des Bundesstaates aufhören solle, dieses Instrument zu benutzen. Zwei demokratische Senatoren führten ein Gesetz ein, das ein Moratorium für die Verwendung der Gesichtserkennung durch Regierungsbeamte und Auftragnehmer vorsieht, bis der Kongress die Technologie regulieren kann.

Social-Media-Firmen feuerten Unterlassungserklärungen ab, in denen sie Clearview aufforderten, Fotos und Daten nicht mehr zu verwenden. Das Unternehmen wurde mit mehreren Klagen von Personen konfrontiert, die behaupteten, dass Clearview ihre biometrischen Daten illegal erfasst habe. Clearview rotierte um Schadensbegrenzung zu betreiben. Ein „Benutzer-Verhaltenskodex“ wurde auf der Website des Unternehmens veröffentlicht, zusammen mit dem Versprechen, dass die Technologie keine Verbraucheranwendungen haben würde und nur Strafverfolgungsbehörden und „ausgewählten Sicherheitsexperten“ zur Verfügung stünde.

Das war nachweislich gelogen – Clearview warb aggressiv und erfolgreich um Unternehmen und Privatkunden wie Macy‘s, Bank of America und Walmart. Clearview erlaubte auch Investoren und Trump nahestehenden Eliten, mit seiner App und seiner Datenbank zu arbeiten. Das Unternehmen richtete ein Konto für die Firma des ehemaligen Trump-Kampagnensprechers Jason Miller ein. John Catsimatidis, der milliardenschwere Spender von Trump und Besitzer von Gristedes Foods, der größten Lebensmittelkette in Manhattan, testete die Gesichtserkennungstechnologie in einem seiner Supermärkte, um Ladendiebe zu fangen. Catsimatidis, der mit Schwartz befreundet ist, nutzte die App auch, um einem Mann nachzuschnüffeln, den er bei einer Verabredung zum Essen mit seiner Tochter entdeckt hatte.

Ton-That schlängelte sich durch Fernsehinterviews und ließ mehr Details durchsickern, während er gleichzeitig ein Recht auf Zugang zu allem, was in sozialen Medien gepostet wird, geltend machte. Eine Reihe von Banken benutzten Clearview, sagte er gegenüber CNN, aber er weigerte sich, sie beim Namen zu nennen. Er gab zu, sich mit Gesetzgebern getroffen zu haben, sagte aber nicht, was sie besprochen hatten. Er lehnte es auch ab, diese beim Namen zu nennen.

Eine weitere Runde der Schadensbegrenzung folgte, nachdem die Huffington Post mit Fragen an Jukic herangetreten war. Ton-That sagte durch einen Sprecher am 27. März 2020, dass Clearview die Verbindungen sowohl zu Bass als auch zu Jukic abgebrochen habe.

Als die Huffington Post Ende März Johnson kontaktierte, gab dieser vor, ein verdeckter Mitarbeiter des US-Geheimdienstes zu sein. „Ich würde es vorziehen, aus allem, was Sie tun, herausgehalten zu werden“, sagte er. Johnson sagte, sein Regierungsvertrag verbiete ihm, mit der Presse zu sprechen. „Charles Johnson ist kein leitender Angestellter, Angestellter, Berater und hat keinen Sitz im Vorstand von Clearview AI“, sagte Ton-That eine Woche nach seiner ersten Erklärung. Er weigerte sich offenzulegen, ob Johnson eine Kapitalbeteiligung an dem Unternehmen hatte.

Stabilisierung trotz massiver Kritik

Die Resonanz auf die Enthüllungen war groß. Die Liste der Beschwerden und Klagen gegen Clearview AI wuchs und wächst seit den Enthüllungen: Die schwedische Datenschutzbehörde hat ein Bußgeld in Höhe von 250.000 Euro gegen eine Polizeibehörde verhängt, weil diese die umstrittene Gesichtserkennungssoftware unrechtmäßig eingesetzt hatte.9 Seit Juli 2020 ist Clearview AI auch in Kanada tabu: Kanadische Sicherheitsbehörden dürfen die Gesichtsdatenbank nicht mehr einsetzen. Clearview AI darf auch keine Bilder mehr in Kanada sammeln. 2021 sollte Clearview AI die Daten von Menschen aus Großbritannien löschen und keine neuen erheben. Andernfalls drohe Clearview AI eine Strafe von umgerechnet 20 Millionen Euro.10

Die EU-Kommission erwog kurz, automatisierte Gesichtserkennung im öffentlichen Raum vorläufig zu verbieten – ließ das Vorhaben aber wieder fallen. Auch in Deutschland ist man zögerlich. Der Bundesdatenschutzbeauftragte (BfDI) sieht im Fall Clearview AI keine Zuständigkeit. Derzeit muss sich hier jede Person, die Fotos in der Datenbank von Clearview AI vermutet oder findet, selbst beschweren – einzeln. Die italienische Datenschutzbehörde hingegen hat gegen Clearview AI eine Geldstrafe in Höhe von 20 Millionen Euro wegen Verstößen gegen die Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) verhängt.11

Mit einer Verlagerung auf private Kunden kompensiert das Unternehmen die öffentliche Kritik und sieht sich im Februar 2022 sogar auf Expansionskurs. Man wolle innerhalb eines Jahres die Datenbank der gespeicherten Gesichtsfotos auf 100 Milliarden erhöhen. Dies solle gewährleisten, dass „fast jeder Mensch auf der Welt identifizierbar sein wird“. Das Unternehmen gibt an, dass es neben der Gesichtserkennung andere Systeme etwa zum Scannen von Nummernschildern und zur „Bewegungsverfolgung“ entwickelt habe.12 Im März 2022 kann das Unternehmen sogar einen Reputationsschub verbuchen: Clearview AI stellt der ukrainischen Regierung einen Gratiszugang zur Verfügung, um die gefallenen (russischen) Soldaten zu identifizieren und deren Familienangehörige kontaktieren zu können.13

Es ist zu befürchten, dass eine Gewöhnung an die Übergriffigkeit der Gesichtserkennung von Clearview AI in die öffentliche Debatte Einzug halten wird – so wie dies auch der Fall war nach diversen Facebook-Skandalen. Zudem wird eine auf den Datenschutz fokussierte Debatte der politischen Brisanz des rassistischen Projekts Clearview AI nicht gerecht. Es handelt sich um einen strategisch geplanten technologischen Angriff einer neoreaktionären bzw. faschistischen Hacker- und Neonazi-Elite in den USA, die sich der einfluss- und finanzstarken Unterstützung eines breiten Netzwerks rund um Peter Thiel in Politik und Techbranche sicher sein durfte. Das ist der eigentliche, politische Skandal, der sowohl in der europäischen Linken als auch in der emanzipatorischen Hacker-Bewegung nahezu undiskutiert bleibt.

Guido Arnold ist promovierter Physiker und arbeitet im DISS zum Thema digitalisierte Biopolitik

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 43 vom Mai 2022. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.

1 https://www.huffpost.com/entry/clearview-ai-facial-recognition-alt-right_n_5e7d028bc5b6cb08a92a5c48

2 https://www.clearview.ai/

3 https://gizmodo.com/clearview-ai-working-on-a-r-goggles-for-air-force-secu-1848476669

4 Guido Arnold: Peter Thiel – Vom rechts-libertären Tech-Investor zum nationalistischen Polit-Influencer, in kultuRRevolution #82, Mai 2022

5 Slack ist ein Chat-Programm, in dem Diskussionen in offene und geschlossene Kanäle (Channels) gegliedert werden.

6 In privaten Nachrichten aus dem Jahr 2015 beschrieb Johnson ein Treffen mit Peter Thiel in jenem Jahr, um seine Crowdfunding-Idee vorzustellen: „Thiel gab mir alles Geld, das ich brauchte“, sagte Johnson. „Stellte mir einen Scheck vor Ort aus.“

7 https://www.splcenter.org/gebert

8 https://www.nytimes.com/2020/01/18/technology/clearview-privacy-facial-recognition.html

9 https://techcrunch.com/2021/02/12/swedens-data-watchdog-slaps-police-for-unlawful-use-of-clearview-ai/

10 https://techcrunch.com/2021/02/03/clearview-ai-ruled-illegal-by-canadian-privacy-authorities/

11 https://netzpolitik.org/2022/biometrische-ueberwachung-ohne-rechtsgrundlage-clearview-ai-soll-millionenstrafe-in-italien-zahlen/

12 https://www.heise.de/news/Ueberwachung-Clearview-peilt-Datenbank-mit-100-Milliarden-Gesichtsfotos-an-6491056.html

13 https://www.reuters.com/technology/ukraine-uses-facial-recognition-identify-dead-russian-soldiers-minister-says-2022-03-23/