Als Soziologe in der Dortmunder Nordstadt

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Von Dirk Dieluweit

Als ich beruflich bedingt für ein halbes Jahr ins Ruhrgebiet ziehen musste, benötigte ich kurzfristig eine günstige Wohnung in Dortmund. Da ich bisher nur den Wohnungsmarkt aus dem Rhein-Main-Gebiet kenne, war ich angenehm überrascht, als ich nach dem ersten Besichtigungstermin eine Wohnung in der Dortmund Nordstadt fand, die mir zusagte.

Die Dortmunder Nordstadt in den Medien und im öffentlichen Diskurs

Als ich einer Bekannten von der erfolgreichen Wohnungssuche berichtete, hörte ich sofort: „Ziehe auf keinen Fall dort hin. Da gibt es nur Bruchbuden und abends kann man nicht mehr nach draußen.“ Ein anderer Bekannter berichtete mir, dass seine Eltern immer die Autotüren verriegeln würden, wenn sie an einer Ampel in der Nordstadt warten müssten. Erklärt wurde mir dies damit, dass in der Nordstadt Leute aus „Kulturkreisen“ leben, die nicht dazu bereit und auch nicht dazu in

der Lage wären, sich der deutschen Kultur anzupassen. Solche Aussagen entsprechen kulturpessimistischen Gegenwartsdiagnosen, wie sie Sarrazin in seinem Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ ausformulierte. Dazu passend wird die Nordstadt in rechten Publikationen und konservativen Medien als No-Go-Area beschrieben, in denen die Polizei Recht und Gesetz nicht mehr gegen arabische Clans und afrikanische Drogenhändler durchsetzen kann. Ergänzt werden diese Berichte durch Reportagen über überbelegte Häuser, in denen bulgarische oder rumänische Arbeitsmigranten unter katastrophalen Verhältnissen leben. Diesen Diskursen ist gemein, dass sie soziale Probleme mit kulturellen Merkmalen von Afrikanern, Arabern oder Roma erklären.

Neben dieser kulturpessimistischen Perspektive fiel mir ein sozialromantischer Blick auf die Nordstadt auf. Hier wurde die Nordstadt als Gegenmodell zum kleinbürgerlichen Reihenhaus beschrieben. „Die Nordstadt ist mir lieber als die ganzen Spießer in einer Reihenhaussiedlung und hier ist es locker und kann man wenigstens ein bisschen laut sein“, so einer meiner Arbeitskollegen. Zunächst widerspricht diese Aussage dem kulturpessimistischen Blick auf die Nordstadt. Allerdings beschreiben beide Diskurse, die Nordstadt als Gegenmodell zur bürgerlichen „Normalität“ und deuten soziale Phänomene als kulturelle Eigenarten der Protagonisten. Aus diesem Grund handelt es sich bei beiden Diskursen um zwei Seiten der gleichen Medaille.

Meine persönlichen Eindrücke aus der Dortmunder Nordstadt

Die Nordstadt dürfte eines der wenigen innerstädtischen Arbeiterviertel sein, die noch nicht gentrifiziert wurden. Obwohl ich Zeuge einiger irritierender Szenen wurde, die als typisch für die Nordstadt gelten dürften, habe ich gerne dort gewohnt und kann mir durchaus vorstellen, wieder dort hinzuziehen. Wie ich bereits bei meiner Wohnungssuche feststellte, sind die Mieten und Immobilienpreise in der Nordstadt selbst für das Ruhrgebiet günstig. Deshalb ist es auch für Leute, die es auf dem Wohnungsmarkt schwer haben dürften, möglich, dort eine Wohnung zu finden. Entsprechend hoch ist dann auch der Bevölkerungsanteil mit Migrationshintergrund oder geringem Einkommen. Wegen der niedrigen Immobilienpreise haben viele ehemalige Gastarbeiter Wohnungen oder Wohnhäuser in der Nordstadt erworben. Auch, dass es in der Nordstadt viele An- und Verkaufsläden gibt, ist ein Hinweis darauf, dass hier viele Leute mit geringem Einkommen wohnen.

Welche Situationen bekam ich mit, die als typisch für die Nordstadt gelten dürften? Einmal wartete ich an einer Fußgängerampel, als eine Prostituierte das Auto eines Freiers verließ. Da die Ampel noch nicht gleich grün wurde, hörte ich, wie die Prostituierte den Freier wüst beschimpfte und ihm lautstark mitteilte, welche Dienstleistungen sie für das gebotene Honorar nicht erbringen würde. Suchtkranke und Drogendealer sind in der Nordstadt ebenfalls allgegenwärtig. So wurde ich an Straßenecken und in Grünanlagen ständig von Dealern angesprochen und sah öfters, wie sich Suchtkranke Heroin injizierten. Auch bekam ich regelmäßig mit, wie größere Gruppen von Bulgaren oder Rumänen vor heruntergekommenen Altbauten standen, Bier tranken und sich lautstark miteinander unterhielten. Möglicherweise sind diese Szenen für Anwohner, die vergleichbare Situationen jeden Tag mitbekommen, sehr unangenehm. Aber viele können nicht einfach mal so in eine andere Wohngegend ziehen.

Auch wenn ich Leute verstehen kann, die sich an den beschriebenen Missständen stören, ist die Nordstadt aus soziologischer Perspektive sehr interessant. Treten doch gerade in solchen Situationen die Widersprüche spätkapitalistischer Gesellschaften offen zu Tage. So ist das Exportmodell Deutschland auf osteuropäische Arbeitsmigranten angewiesen, die in fleischverarbeitenden Betrieben oder im Baugewerbe zu Niedriglöhnen arbeiten. Denn nur so ist es möglich, dass man in Deutschland trotz eines im internationalen Vergleich niedrigen Lohniveaus regelmäßig Fleisch essen kann.

Bereits Bourdieu wies daraufhin, dass die irrationalen und willkürlichen Momente von Macht und Herrschaft verschleiert werden müssen, um wirksam zu sein. Vielleicht hilft dieser Gedankengang dabei zu verstehen, warum die Nordstadt so einen schlechten Ruf hat. Da hier Suchtkranke, Drogendealer und osteuropäische Arbeitsmigranten in prekärer Lage offen zu sehen sind, lassen sich hier die unschönen Seiten des Exportmodells Deutschland nicht mehr verbergen. Dies führt den Leuten offen vor Augen, zu welchen Folgekosten Deutschlands Wohlstand produziert wird. Allerdings beschreibe ich hier die Perspektive eines Akademikers aus der Mittelschicht, der in die Nordstadt gezogen ist, weil er kurzfristig eine günstige Wohnung benötigte. Leute, die sich in anderen Wohngegenden keine Wohnung leisten können, dürften ihr Umfeld in mancher Hinsicht eher als erniedrigend und demütigend empfinden. Schließlich bekommt man durch Suchtkranke und alkoholisierte Arbeitsmigranten täglich vorgeführt, welche soziale Position man selber und das eigene Wohnviertel haben.

Neben deutlich sichtbaren Problemen gibt es in der Nordstadt viele Kioske, Cafés und Geschäfte, in denen man orientalische oder asiatische Lebensmittel kaufen oder günstig essen kann. So ist es sehr angenehm, wenn man auf dem Weg zur Arbeit, wählen kann, ob man sein Frühstück bei einer türkischen, arabischen oder deutschen Bäckerei kauft. Wer nach der Arbeit zu müde ist, um sich etwas zu kochen, kann in der Nordstadt zwischen zahlreichen Gerichten wählen, die es in anderen Städten so nicht zu kaufen gibt. Neben Imbissen aus Indien, dem arabischen Raum und Zentralasien gibt es in der Nordstadt auch einige traditionelle deutsche Speisegaststätten.

Wie bereits erwähnt, ist die Nordstadt für gegenkulturelle oder alternative Milieus recht attraktiv. Deshalb gibt es dort auch einige linke Kneipen und Veranstaltungsstätten. Frei- und Brachflächen, die in urbane Gärten umfunktioniert wurden, weisen ebenfalls daraufhin, dass sich Angehörige urbaner Milieus in der Nordstadt niedergelassen haben. Denn gerade Freiflächen, niedrige Mieten und renovierungsbedürftige Wohnungen bieten solchen Milieus Freiräume, in denen sie neue Lebensentwürfe und Wohnformen ausprobieren können.

Dazu passend wird die Nordstadt in Imagekampagnen, die auf Angehörige urbaner Milieus abzielen, als bunt, vielfältig und subversiv beschrieben. Hier scheint es tatsächlich so zu sein, dass Akteure, die bestimmte Stadtviertel gentrifizieren möchten, versuchen, alternative Milieus für ihr Vorhaben einzuspannen. Wie in ganz Dortmund gibt es in der Nordstadt zudem einige sehenswerte Parks und Grünflächen, in denen man spazieren gehen, Sport treiben oder sich ausruhen kann.

Diskurse über die Nordstadt als symbolische Kämpfe

Nach Bourdieu bilden Diskurse über die soziale Welt nicht die Realität ab, sondern sind ein Feld, in dem die Teilnehmer versuchen ihre Sicht auf die soziale Welt durchzusetzen. So versuchen Akteure, die ihre soziale Position ererbtem Kapital zu verdanken haben, soziale Hierarchien zu erhalten und die Anstrengungen aufwärtsmobiler Gruppen zu delegitimieren. Dagegen stellen Akteure, die ihre Position dem im Bildungswesen erworbenen kulturellen Kapital zu verdanken haben, soziale Hierarchien in Frage. Für solche Akteure ist es dann naheliegend, die Privilegien etablierter Gruppen als unrechtmäßig erhaltene Pfründe deklarieren.

Mit diesem Ansatz lässt sich dann auch erklären, warum die Angehörigen traditioneller Milieus die Nordstadt als Angstraum beschreiben. Immerhin kann hier schnell der Eindruck entstehen, dass bürgerliche Werte nicht mehr gelten. Dagegen dürften junge Medienschaffende oder auch ich als Soziologe die Nordstadt für ein interessantes und lebendiges Viertel halten.

Die Nordstadt aus historischer Perspektive

In Medienberichten oder Alltagsdiskussionen soll am Beispiel der Nordstadt gezeigt werden, wohin eine zu liberale Justiz und Migrationspolitik führen. Doch wenn man sich die Geschichte der Nordstadt anschaut, wird man sehen, dass dort von Anfang an Bevölkerungsgruppen wohnten, die als „gefährlich“ galten. Als die Eisenbahn und die ersten Industrieanlagen gebaut wurden, siedelten sich in der heutigen Nordstadt, die unmittelbar neben der (ehemaligen) Westfalenhütte lag, Arbeitsmigranten aus den damaligen Ostgebieten an. Um die katastrophalen Wohn- und Lebensbedingungen zu verbessern und die Bewohner der Nordstadt besser kontrollieren zu können, begann man ab 1858 damit, die Nordstadt gemäß den Ideen Hausmanns umzubauen. So wurden in der Nordstadt gradlinige Straßen und öffentliche Plätze mit Denkmälern errichtet. Aus demselben Grund wurde in der Nähe der Nordstadt eine Polizeikaserne errichtet, die später auch von der Gestapo genutzt wurde. Dadurch wurde meiner Meinung nach auf erschreckende Art und Weise deutlich, welchen Status die Bewohner dieses Viertel seit jeher hatten.

Während der „Goldgräberstimmung“ in der Gründerzeit errichteten Handwerker und Bürger dann Wohnhäuser, die Spekulationsobjekte und Geldanlagen sein sollten. Diese Altbaubestände prägen das Stadtbild der Nordstadt bis heute.

Die Nordstadt als urbaner Raum

Als ich diesen Text verfasste, musste ich darüber nachdenken, welche Eindrücke und Einsichten ich dort gewonnen habe.

In der Nordstadt begegnet man täglich Leuten, die anders leben und anders sozialisiert wurden als man selber. Zunächst ist es durchaus irritierend, wenn die eigenen Handlungsroutinen und Deutungsmuster nicht mehr als selbstverständlich gelten. Auf der anderen Seite kann dies aber auch sehr lehrreich sein. Lernt man doch so, dass das, was zunächst irrational und widersinnig erscheint, in prekären Lebenssituationen durchaus sinnvoll sein kann.

Georg Simmel beschrieb in dem Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ Großstädter als blasiert und distanziert. Nach Simmel begegnet man in Großstädten ständig Fremden, wodurch die eigenen Gewissheiten in Frage gestellt werden. Um davon nicht überwältigt zu werden, sind Großstädter dazu gezwungen, ihre Umgebung aus einer nüchternen und distanzierten Perspektive zu betrachten. Dieser Blick kann dabei helfen, rationale Lösungen für soziale Probleme zu entwickeln. In der Dortmunder Nordstadt ist man dazu gezwungen, diese Haltung anzunehmen. Schließlich gibt es nicht viele Orte, an denen die Widersprüche kapitalistischer Gesellschaften so offen zu Tage treten wie dort.

Dirk Dieluweit ist Soziologe und schrieb im DISS-Journal #38 über neurechtes Architekturverständnid.

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 43 vom Mai 2022. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.