Das vorliegende DISS-Journal beginnt mit einer traurigen Nachricht, die vielen schon bekannt sein dürfte. Der Spiritus Rector unseres Instituts, Siegfried Jäger, ist am 16. August verstorben. In ihrem Nachruf, den wir hier abdrucken, schreiben Freund_innen und Schüler_innen: „Die grundsätzliche Veränderung der Verhältnisse, die radikale Herrschaftskritik war das, was Sigi immer Orientierung war.“
Das sollte uns Verpflichtung sein: Weitermachen!
Das neue Heft thematisiert erneut – wie das vorige – die „Corona-Krise“. Wenn man zynisch wäre, würde man sagen: ein Glück, dass es sie gibt. Nicht wenige Wahlbeobachter_innen in den USA führen die Niederlage Trumps, die dieser standhaft leugnet, auf das Versagen seiner Regierungsarbeit in diesem Jahr zurück. Sie hat allerdings etwas sichtbar gemacht, wie Jobst Paul in seinem Beitrag schreibt, nämlich „das Ausmaß der sozialen Katastrophe vor allem der sogenannten ‚Minderheiten‘ […], aber auch, wie das schmutzige Handwerk von white supremacy damit zusammenhängt. Denn durch den Aufbruch dieser ‚Minderheiten‘ kommt das Tabuisierte nun zur Sprache – ganz ähnlich wie zuvor in der MeToo-Bewegung“. Jobst Paul nimmt das zum Anlass, einen Vorschlag zu unterbreiten, wie man den diskursiven „Werkzeugkasten des Reaktionären“ – auch unabhängig vom US-amerikanischen Kontext – analysieren könnte.
In der alltäglichen Forschungspraxis des DISS spielt die Beobachtung und Analyse reaktionärer Ideologien seit Jahr und Tag eine zentrale Rolle. Dem sind zwei Beiträge gewidmet, die die Bearbeitung der „Corona-Krise“ von Seiten extrem rechter Medien in Deutschland untersuchen (Compact Magazin, Junge Freiheit). Mit Blick auf die Demonstrationen der sogenannten „Querdenker“ einerseits, die Schwächephase der AfD andererseits sind die Argumentationsmuster von Interesse, mit denen von rechts versucht wird, Einfluss auf diese Bewegung zu gewinnen bzw. das Wähler_innen-Reservoir der AfD zu stabilisieren und zu erweitern. →
Gegen Verschwörungsmythen, wie sie etwa durch das Compact Magazin verbreitet werden, zu argumentieren, ist notwendig, enthebt aber nicht der Aufgabe, staatliche Maßnahmen kritisch zu hinterfragen, die zu einer möglichen Implementation einer technokratisch angelegten „umfassenden Kontrollstruktur über die Corona-Krise hinaus“ führen könnte. Guido Arnold geht dem in seinem zweiten Beitrag zum „Corona-Solutionismus“ (vgl. DISS-Journal 39) aus der Perspektive eines „linken Skeptizismus“ nach.
Was gibt es sonst noch im neuen DISS-Journal zu lesen (neben den immer anregenden Rezensionen). Tom Thümmler beschäftigt sich mit der rechtsökologischen Zeitschrift „Die Kehre“. Helmut Kellershohn analysiert zwei markante Bücher, die die Spannweite sozialpolitischer Konzepte in der Neuen Rechten widerspiegeln. Wolfgang Kastrup wendet sich der neueren Debatte über „Klasse und Klassenkampf“ zu. Ismail Küpeli kritisiert den offiziellen türkischen Nationalismus und Lea Kristin Kleinsorg zeigt in einem aufschlussreichen Artikel Zusammenhänge zwischen britischem Kolonialismus und der Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung in Kenia auf. Mit dem Artikel weisen wir zugleich voraus auf den UN-International Day of Zero Tolerance for Female Genital Mutilation am 6. Februar 2021. (Vgl. Resolution adopted by the General Assembly on 20 December 2012, https://www.un.org/en/ga/search/view_doc.asp?symbol=A/RES/67/146). In diesem Zusammenhang bitten wir auch um Aufmerksamkeit für die letzte Seite unseres Journals: Statt der gewohnten ‚Fundstelle‘ findet sich dort eine künstlerische Stellungnahme der Künstlerin Anna Lisa Kleinsorg zum Thema.
Abschließend: Wir bedanken uns bei Jürgen Link, dass er uns seinen Nachruf auf Siegfried Jäger aus der kultuRRevolution zur Verfügung gestellt hat.
Helmut Kellershohn
Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 40 vom November 2020. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.