Sigmar Gabriel, SPD-Vorsitzender, am 24. August 2015 zu Migration und Flucht
Eine Analyse von Jobst Paul, erschienen in DISS-Journal 30 (2015)
Nachdem es am 22. August 2015 vor einer Flüchtlingsunterkunft in Heidenau (Sachsen) zu rechtsterroristischen Gewaltakten gekommen war, besuchte Sigmar Gabriel, Vizekanzler und SPD-Vorsitzender, am 24. August 2015 die Unterkunft und forderte die Bestrafung der Täter. Dabei nahm er u.a. den Ton auf, den zuvor u.a. auch der Berliner Tagesspiegel mit der Titelzeile „Brauner Mob hetzt weiter gegen Asylsuchende“ ((Meisner, Matthias, Flüchtlinge in Heidenau. Brauner Mob hetzt weiter gegen Asylsuchende (http://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlinge-in-heidenau-brauner-mob-hetzt-weiter-gegen-asylsuchende/12220878.html) )) gesetzt hatte, verschärfte den Ton aber, indem er die gewalttätigen Demonstranten als „Pack“ bezeichnete.
Die mediale Berichterstattung übernahm diesen Ton in vielfacher Form. Der Spiegel titelte z.B. „Sigmar Gabriel wettert in Heidenau gegen den braunen Mob“ ((http://www.spiegel.de/politik/deutschland/heidenau-sigmar-gabriel-besucht-fluechtlingsunterkunft-a-1049582.html.)), während die Süddeutsche Zeitung schrieb: „Gabriel will rechtes „Pack“ hart bestrafen“. ((http://www.sueddeutsche.de/politik/spd-chef-in-heidenau-gabriel-will-rechtes-pack-hart-bestrafen-1.2619567.)) Auch bei t-online hieß es: „Das ist wirklich Pack, das man einsperren muss.“ ((http://www.t-online.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/id_75166386/sigmar-gabriel-in-heidenau-pack-das-man-einsperren-muss-.html.)) Ähnlich formulierten BILD („Gabriel setzt Zeichen gegen Neonazi-Hetze: „Rechtes Pack“ von Heidenau muss hart bestraft werden“ ((http://www.bild.de/politik/inland/heidenau/gabriel-besucht-heidenau-42301904.bild.html)) ) und Tagesschau („Gabriel in Heidenau: „Den Typen keinen Millimeter Raum geben“) ((http://www.tagesschau.de/inland/heidenau-133.html))
Vereinzelt wandten sich Kommentatoren in Hauptprintmedien allerdings auch gegen Gabriels Rhetorik. Unter dem Motto „Wer die Menschenwürde verteidigen will, darf sie niemandem absprechen – auch nicht den Fremdenfeinden unter uns“ kritisierte Stefan Berg am 28. August im Spiegel Gabriels Verwendung des Worts ‚Pack‘ als „Unwerturteil“ ((Berg, Stefan, Gabriel gegen Ausländerhasser: Das „Pack“-Problem. Donnerstag, 27.08.2015, http://www.spiegel.de/politik/deutschland/fluechtlinge-das-pack-problem-kommentar-a-1049965.html.)) und schloss die Frage an, ob man „für die Achtung der Würde von Menschen werben“ könne, indem man diese anderen abspreche.
Ins Auge fällt, dass die Print-und Online-Medien Gabriels umfassendere Äußerung nicht im Wortlaut druckten, sondern daraus unterschiedlichste Fragmente montierten, die sie als direkte Zitate ausgaben, obwohl sie sich – so – im gesprochenen Wort nicht finden:
„Was wir auch tun müssen, ist dafür sorgen, dass Klarheit ist: Kein Millimeter diesem rechtsradikalen Mob. Bei uns zuhause würde man sagen, das ist Pack, das sich hier rumgetrieben hat. Das ist der Ausdruck, der bei uns jedenfalls gewählt würde. Er ist vielleicht nicht so distinguished, wie wir sonst in der Politik reden, aber ich glaube, darum geht’s. Das sind Leute, die haben mit Deutschland nichts zu tun. Das ist nicht das Deutschland, das wir in diesem Land haben wollen. Die halten sich ja für die Vertreter des wahren Deutschland. In Wahrheit sind es die undeutschesten Typen, die ich mir vorstellen kann. Für die gibt’s nur eine Antwort: Polizei, Staatsanwaltschaft und nach Möglichkeit für jeden, den wir da erwischen, auch Gefängnis. Und ich finde, wir dürfen auch in unserem Freundeskreis und Bekanntenkreis, im Betrieb, im Sportverein nicht irgendwie wegschauen, wenn solche Typen da rumrennen. Die sind ja am Sonntagabend nicht mehr hier, weil sie am Montag irgendwo arbeiten oder am Wochenende irgendwo Sport machen wollen. Und ich finde, auch da muss man ihnen sagen: Du gehörst nicht zu uns. Wer hierher kommt und hier Parolen brüllt, Brandsätze schmeißt, Steine schmeißt, im Internet dazu auffordert, Leute umzubringen oder körperlich zu verletzen, diejenigen haben nur eine einzige Antwort, und zwar von jedem von uns verdient. Ihr gehört nicht zu uns. Euch wollen wir hier nicht, und wo wir euch kriegen, werden wir euch bestrafen und hinter Gitter bringen. Das ist das Einzige, die einzige Antwort, die diese Leute verdienen.“ ((Transkript von: https://www.youtube.com/watch?v=WCtAKoLyJmM. Der vorliegende Kommentar spricht nur einige Aspekte dieses Textes an und erhebt – selbstverständlich – nicht den Anspruch einer umfassenden Feinanalyse.))
Das umfangreiche Textfragment zeigt den Versuch Gabriels, ‚den Spieß herumzudrehen‘. Während die „Typen“ die Flüchtlinge als ‚nicht zu uns‘ (zu Deutschland, zu ‚hier‘) gehörig, ja sogar als potenziell kriminell markieren, unterzieht Gabriel nun die „Typen“ (den „Mob“, das „Pack“) ausführlich derselben Prozedur. Und ebenso, wie die „Typen“ für „uns“, für „Deutschland“, für „hier“, für die „Nachbarschaft“ sprechen wollen, spricht nun Gabriel für „uns“, sogar mit Bezug auf seine eigene Nachbarschaft zuhause („bei uns“) und schließt die „Typen“ aus der Gemeinschaft der Deutschen aus. Entsprechend handelt es sich bei den herabsetzenden Bezeichnungen „Typen“, „Mob“ und „Pack“ um umgekehrte oder ‚reziproke Zuschreibungen‘, ((Vgl. etwa die Formulierung „braune Brühe“, die das Ausgrenzungskonstrukt (Fäkal-Aspekt) z.B. auf Nazis bezieht. )) mit denen man in gängigem Verständnis „mit gleicher Münze“ heimzahlt.
Damit bleibt eine andere Frage aber noch offen: Hat sich Gabriel damit auch vor die Flüchtlinge – als zu Deutschland Gehörigen – gestellt? Um diese Frage beantworten zu können, sind einige allgemeine Gedanken hilfreich.
Vor allem muss man festhalten, dass sich reziproke Zuschreibungen in denen die dehumanisierende Logik, die sie vermeintlich bekämpfen wollen, verhaken und sie reproduzieren. Dies ist beim Begriff ‚Pack‘ besonders eklatant. ((Die Komponente ‚Mob‘ scheint aufgrund von aktuellen Varianten der Selbstzuschreibung (vgl. flash-mob) und wissenschaftlich beschreibenden Funktionen (vgl. mobbing) an Sagbarkeit gewonnen zu haben. Zur Komponente ‚Typen‘ siehe weiter unten.)) Er verweist nämlich – etwa über Komposita wie Arbeiterpack, Diebespack, Hurenpack, Judenpack, Zigeunerpack, Lumpenpack – auf eine propagandistische und alltagssprachliche Konjunktur vor 1945 und auf die Absicht, damit das Gegenteil von ‚deutsch‘ anzuprangern. Diese Konjunktur riss nach dem Krieg freilich nicht sofort ab, wie ausgerechnet die Variante Flüchtlingspack zeigt.
Mit seinem Rückgriff auf den Begriff ‚Pack‘ nimmt Gabriel also den Eindruck in Kauf, dass er damit an alte Perspektiven dessen, was „deutsch“ und „undeutsch ist, wiederanknüpft. Es sind dies übrigens Perspektiven, die wohl von den ‚rechten Typen‘ geteilt werden, die er ins Visier zu nehmen vorgibt. Doch Gabriel geht weiter und knüpft auch aktiv an eine völkische Perspektive auf ‚Undeutsches‘ an, indem er mit „sich herumtreiben“ und „erwischen“ zum einschlägigen Vokabular greift.
Allerdings ist zweifelhaft, ob sich Gabriel mit seiner Verteidigung dessen, was deutsch ist, tatsächlich vor die Flüchtlinge in Heidenau gestellt hat. Er erwähnt sie in seiner Einlassung nicht, erörtert auch nicht ihre jetzigen Lebensbedingungen und ihre künftigen Aussichten oder die Gründe für Flucht und Vertreibung. Die beiden binären Positionen, hier das „Deutschland, das wir in diesem Land haben wollen“, dort das „undeutscheste“, sich herumtreibende „Pack“, bleiben die einzigen ‚existenziellen‘ Kategorien, in die sich offenbar auch die Flüchtlinge finden müssen.
Was aber ist unter „Pack“ konkret zu verstehen? Wie korreliert der Begriff zu „Mob“ und „Typen“? Wie hätten wir uns „das Deutsche“ vorzustellen? Und wo bleiben die Flüchtlinge?
Das „Pack“ bezeichnet herkömmlich, aber bereits mit Blick auf die Zuschreibung an menschliche Minderheiten, den Zusammenschluss von jagenden Tieren (Löwenpack, Wolfspack) zum einzigen Zweck, eine Beute zu erlegen. Dem „Pack“ wird ein hohes Maß an instrumenteller Intelligenz (Schlauheit) und kollektiver Disziplin zugeschrieben. (( Vgl. die Redewendung: ‚Pack schlägt sich, Pack verträgt sich‘, die offenbar ausdrücken will, dass es in der Meute stets Machtkämpfe gibt, dass die gemeinsame ‚Gier‘ auf die Beute aber immer wieder für Disziplin sorgt. Zur Rolle der Vorstellung der ‚Meute‘ als handlungsleitendes Konzept der Polizei und anderer Ebenen im Kontext der „Döner-Morde“ vgl. Das Entwürdigende in Worte fassen. Zur kulturellen Dimension des Institutionellen Rassismus – am Beispiel des Unworts des Jahres 2011. In: DISS-Journal 23 (2012) S. 54–56. Kurzfassung in: Skandal und doch normal. Impulse für eine antirassistische Praxis, hrg. v. Margarete Jäger und Heiko Kauffmann (Edition DISS Bd. 31),S. 68–78.)) Als Jäger hat das Kollektiv den unbedingten Willen, Beute zu machen – darin aber erschöpft sich die Identität des ‚Packs‘, d.h. seine unveränderliche Natur. Von ihm geht daher große Gefahr aus: Es zieht (‚wandert‘) von einer Beute zur nächsten, weil es nicht – wie Zivilisierte – Vorräte anlegen, d.h. durch Arbeit kumulieren kann. Kurz: Die Mitglieder des ‚Packs‘ lauern und rauben und leben von ‚anderen‘. ((Vgl. auch die frz. Begriffe der canaille (Hundemeute, ‚hündisches‘ Pack) und der bagage (für Gesindel und Gepäck).)) Mit der Verwendung der Begriffe der ‚Typen‘ ((Ein Kürzel für ‚Verbrecher‘, ursprünglich entwickelt aus Typologien sogenannter Physiognomien. Vgl. z.B. Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe (1775ff).)), des ‚sich Herumtreibens‘ ((Die „Typen“ müssen (und wollen) zum Beispiel nicht am Montag arbeiten und haben auch mit Vereinsarbeit nichts am Hut.)), mit der Anrufung von „Polizei, Staatsanwaltschaft“ und Gefängnis „für jeden, den wir da erwischen“, hat Gabriel das ‚Pack‘-Motiv in durchaus traditioneller, völkischer Tradition als kriminell und ‚asozial‘ abgesteckt. Das ‚Deutsche‘ kann demgegenüber nur als das Gegenteil erschlossen werden, als das lokale ‚vor Ort‘, als die Eigenschaft des ‚Sesshaften‘, versehen mit den Merkmalen der regelmäßigen Arbeit, der Kumulation von Gütern, der sozialen Vernetzung und selbst der Vereinszugehörigkeit. ((Der Aspekt des ‚gesunden Volksempfindens‘, die unpolitische, lokale Perspektive von Mitgliedern in Vereinen und ihr Bedürfnis nach „Heimat“-Gefühl, scheint Gabriel mit der Formulierung „bei uns zuhause“ anzusprechen. Ganz ähnlich sprach Gabriel am 3. September 2015 von „bei uns in Goslar“ im Zusammenhang von „Schützenverein“-Festen und von „Heimat“ (http://www.rp-online.de/nrw/staedte/leverkusen/genosse-gabriel-weckt-wahlkampf-auf-aid-1.5362182).))
Doch hier muss man stutzig werden: Zahlreiche Videomitschnitte der Demonstrationen in Heidenau zeigen gewalttätige Akteure inmitten der von Gabriel als das ‚Gute‘ angerufenen deutschen Wohnbevölkerung. Gabriels Verurteilung lässt diese bürgerliche, gewaltbereite oder gewaltunterstützende rechtsradikale Szene in Heidenau aber letztlich unbehelligt. Seine Suada lässt nicht das geringste Interesse daran erkennen, die Verbindung zwischen diesem rechtsradikalen ‚Deutschland‘ und ‚Rassismus‘ näher zu beleuchten. Stattdessen richtet Gabriel die Exkommunikation gegen das Stereotyp reisender ‚krimineller Asozialer‘, die nicht zu Deutschland, aber eben auch nicht zu Heidenau gehören.
Mit anderen Worten: Gabriel hat in Heidenau zwar einen gegen den „rechtsradikalen Mob“ gerichteten, anklagenden Rahmen geschaffen. Er füllt diesen Rahmen aber mit einem gerade diesem „Mob“ genehmen Ton gegen ‚Kriminelle‘, die ‚auf Kosten anderer‘ leben und die deutschen Sozialsysteme plündern. Im Hinblick auf das Stichwort des Asylmissbrauchs kann dieser Ton auch als Warnung an die Adresse jener Flüchtlinge verstanden werden, die Gabriel in vermeintlich humanitärer Absicht besuchte. ((Bei einem ähnlichen Besuch in Ingelheim am 28. August 2015 ‚tröstete‘ Gabriel Flüchtlinge mit den Worten: „Die Wahrheit ist: Sie werden nicht in Deutschland bleiben können.“ DIE ZEIT kommentierte: „Der Kampf gegen Rechtsextremismus, das ist etwas, das Gabriel glaubhaft umtreibt. Beim Thema Flüchtlinge kann er zudem seine Emotionalität gewinnbringend einsetzen, sie war ihm oft vorgeworfen worden. Der Kontrast zur technokratischen Kanzlerin wird so noch sichtbarer. Angela Merkel wirkte bei ihren Fernsehstatements zu Heidenau unbeholfen und las ihre Worte vom Blatt ab. Gabriel ließ sie aussehen wie eine Getriebene.“ (http://www.zeit.de/politik/deutschland/2015-08/sigmar-gabriel-klartext-politiker) )) Zu denken ist insbesondere an den in den letzten Jahren geführten, zumeist antiziganistischen Diskurs über ‚kriminelle Banden‘ und ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ aus Rumänien und Bulgarien. ((Vgl. Fatale Antworten auf Herrn S. – Ökonomie und Minderheiten-bashing zum 20. Jahrestag der Einheit. Von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal 20 (2010).))
Offenbar wollte der SPD-Chef mit dieser rechtspopulistischen Strategie die zunächst abwartende Haltung Merkels vorführen. Der zweifelhafte Erfolg des Vizekanzlers zeigte sich zwei Tage später, als der Kanzlerin aus den Reihen der Demonstranten die selbstsichere Selbstzuschreibung „Wir sind das Pack!“ zugerufen und die Kanzlerin selbst als „Verräterin“ bezeichnet wurde. ((http://www.welt.de/politik/deutschland/article145659437/Wir-sind-das-Pack-Merkel-wird-ausgebuht.html.))
In einem Interview mit der BILD-Zeitung vom 18. September 2015 trat Gabriel mit seiner rechtspopulistischen Strategie, zwischen ‚deutsch‘ und ‚undeutsch‘ zu unterscheiden, tatsächlich ganz nach vorn und warnte (ungenannte) Flüchtlinge: „Wer unsere Werte nicht teilt, kann auf Dauer auch nicht auf unser Geld hoffen.“ Er legte nach, indem er ‚Deutsche‘ und ‚Flüchtlinge‘ über das Neid-Argument gegeneinander auszuspielen versuchte: Bei „den Menschen in Deutschland“ dürfe „nicht der Eindruck entstehen, ‚für die Flüchtlinge ist Geld da, aber für uns nicht‘“. ((ttp://www.focus.de/politik/deutschland/gabriel-warnt-vor-ueberforderung-deutschlands-in-fluechtlingskrise-vize-kanzler-verlangt-von-eu-partnern-und-usa-mehr-engagement_id_4956074.html.))