Online-Broschüre zur antiziganistischen Stimmungsmache

  • Lesedauer:131 min Lesezeit

Stimmungsmache

Extreme Rechte und antiziganistische Stimmungsmache
Analyse und Gefahreneinschätzung am Beispiel Duisburg

Dies ist die vereinfachte Web-Version der kostenlosen Online-Broschüre „Stimmungsmache“.

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Impressum

AK Antiziganismus im DISS (Hg.)
Veröffentlicht als kostenlose Online-Publikation im März 2015

Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung
Siegstraße 15, 47051 Duisburg
www.diss-duisburg.de
info@diss-duisburg.de

Autor_innen:
Martin Dietzsch
Anissa Finzi
Alexandra Graevskaia
Ismail Küpeli
Zakaria Rahmani
Stefan Vennmann

Dank an:
Miriam Rosin
Maren Voetzsch

Wir danken für die Förderung durch die Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Seit dem EU-Beitritt Rumäniens und Bulgariens im Jahr 2007 machen Bürger_innen dieser Länder von ihrem Recht Gebrauch, sich in Duisburg, Dortmund, Berlin, aber auch vielen anderen deutschen Städten niederzulassen. Duisburg ist eine arme Stadt, und viele der Migrant_innen sind ebenfalls arm. Viele von ihnen sind nicht nur arm, sondern gehören auch der diskriminierten Minderheit der Rom_nija an. In Duisburg und in anderen Städten gab es in den letzten Jahren heftige öffentliche Debatten, die stark von Antiziganismus geprägt waren. Die Stimmung in Teilen der Bevölkerung spitzte sich so zu, dass sich viele an die rassistischen Pogrome gegen Asylsuchende Anfang der 1990er Jahre erinnert fühlten. Es dürfte kaum überraschen, dass Gruppierungen und Parteien der extremen Rechten versuchten, diese Stimmung für sich zu nutzen. Dies ist ihnen zum Teil gelungen, sie zogen z.B. mit einem Rekordergebnis in den Duisburger Stadtrat ein.

Diese Broschüre untersucht exemplarisch am Beispiel der Stadt Duisburg, wie die extreme Rechte das Thema Antiziganismus aufgriff. Sie agierte dabei nicht isoliert im luftleeren Raum. Vielmehr besteht ein Zusammenhang zwischen Alltagsrassismus, etablierten Medien, Kommunalpolitik, und den Erfolgschancen der extremen Rechten. Dieses komplizierte Wechselspiel ist Gegenstand dieser Broschüre.

Auch wenn sich manche Entwicklungen in Duisburg besonders zugespitzt haben, so lassen sich ähnliche Beobachtungen auch in anderen Städten ausmachen. Trotzdem wird Duisburg überregional immer wieder exemplarisch als Extrembeispiel dargestellt. Insbesondere die extreme Rechte pflegt ein Schreckensbild von Duisburg und behauptet des Öfteren, dass die Stadt durch Einwanderung verloren sei und demnächst auch weitere deutsche Städten folgten, wenn nicht dringend etwas getan werde. Doch auch etablierte Medien haben Duisburg in den letzten Jahren immer wieder als Schreckensbeispiel dargestellt. Über das von den lokalen Medien als „Problemhaus“ getaufte Gebäude und seine Bewohner_innen berichteten sogar eine britische Nachrichtenseite und ein russischer Fernsehsender und stellten Duisburg dem internationalen Publikum reißerisch und vollkommen verzerrend dar.

Mit dieser Broschüre wollen wir über die Gefahr der extrem rechten und antiziganistischen Stimmungsmache informieren und Anregungen geben, sich mit dieser auseinanderzusetzen, damit solche Entwicklungen wie in den letzten Jahren in Duisburg in Zukunft vermieden werden können. Durch das Wissen um das Negativbeispiel Duisburg können Akteur_innen in anderen Städten ähnliche Entwicklungen rechtzeitig erkennen und diesen gezielt entgegenwirken.

Aufbau

Diese Broschüre besteht aus mehren sich ergänzenden Kapiteln.

Zu Beginn erfolgt unter dem Titel „Überlastung und Populismus“ eine Analyse der Darstellung der Migration aus Südosteuropa in lokalen Medien am Beispiel der WAZ.

Danach werden die Medien der extremen Rechten näher betrachtet. Im Kapitel „Extreme Rechte: In den Strömungen getrennt – im Antiziganismus geeint“ erfolgt zunächst ein kurzer Überblick über den Stellenwert von Antiziganismus im extrem rechten Ideologiegebäude. Vor diesem Hintergrund werden die in repräsentativen Medien der extremen Rechten getätigten Grundbehauptungen zum Thema Migration aus Südosteuropa analysiert. Zum Schluss geht es um das Beispiel Duisburg.

Im Kapitel „Benzin ins Feuer gießen. Das Agieren der extremen Rechten in Duisburg“ werden die vorhergehenden Analysen zusammengeführt, indem aufzeigt wird, wie die organisierte extreme Rechte die in der Duisburger Bevölkerung weit verbreitete negative Stimmung gegen Migrant_innen aus Südosteuropa aufnahm, für sich zu nutzen versuchte und wie sie gleichzeitig den Konflikt aktiv weiter zugespitzt hat.

Anschließend werden im Kapitel „Antirassismus in der Zwickmühle zwischen Verdrängung und Expertentum“ Probleme und Herausforderungen für Menschen, die sich antirassistisch engagieren (wollen) aufgezeigt.

Zum Abschluss folgen konkrete Handlungsempfehlungen für Kommunalpolitiker_innen und andere Engagierte.

Auch Sprache schafft Bewusstsein

In den Medien werden Migrant_innen aus Südosteuropa als „Rumänen“, „Bulgaren“, „Südosteuropäer“, „Roma“, „Sinti und Roma“, „(Neu-)Zuwanderer“, „Armutsflüchtlinge“ usw. bezeichnet. Diese Begriffe gelten als austauschbar und werden meist synonym verwendet. Die jahrelange Berichterstattung in diesem Stil hat dazu geführt, dass beim Auftauchen einer dieser Bezeichnungen automatisch die anderen mitgedacht werden. Damit einhergehend erfolgt eine ste-reotype Charakterisierung bei der mit einer (ethnisierenden) Bezeichnung (sei es ‚Bulgaren‘, ‚Roma‘, ‚Armutsflüchtlinge‘ usw.) vermeintlich alles gesagt sei, wodurch die gemeinten Menschen als eine homogene Masse dargestellt werden (vgl. End 2014, 32).

Wir sehen diese Entwicklung als problematisch an. Deshalb versuchen wir, in dieser Broschüre eine Sprache zu verwenden, die möglichst frei von konstruierten ethnisierenden Kategorien und diskriminierenden Ausdrücken ist.

Mittlerweile hat sich in vielen Publikationen eine gendergerechte Schreibweise durchgesetzt, so dass man z.B. statt „Amerikaner“ „Amerikaner_innen“ schreibt und damit Frauen, Männer, sowie auch Menschen, die sich keinem der beiden Geschlechter zuordnen möchten, abbildet. Trotzdem werden die Selbstbezeichnungen „Roma“ und „Sinti“ fast nur im männlichen Plural verwendet. Nur wenn explizit die weibliche Form gemeint ist, werden hin und wieder die weiblichen Bezeichnungen benutzt, viel zu oft aber werden stattdessen (aus Unwissenheit) Wortschöpfungen wie „Roma-Frau“ gebraucht. Wir verwenden in dieser Publikation bewusst die gendergerechte Schreibweise „Rom_nija“ und „Sinti_ze“.

Dass hierbei bis zu einem gewissen Grad eine Verfremdung des gerade in Deutschland hart er- und umkämpften ‚Sinti und Roma‘ stattfindet, ist uns bewusst, und wir halten dies für bedenkenswert. Gleichzeitig wollen wir gerade durch die geschlechtsneutrale Verwendung unserer Überzeugung Ausdruck verleihen, dass die Worte ‚Sinti‘ und ‚Roma‘ für uns keine Sonderposition bedeuten, sondern selbstverständlicher Teil von Sprache und Gesellschaft sind.“ (Bartels et al 2013, S. 15)

Des Weiteren wollen wir nicht die sprachliche Sonderposition des Begriffs ‚Zuwanderung‘ reproduzieren. Betrachtet man die Berichterstattung der letzten Jahre, fällt auf, dass der Begriff der „Zuwanderung“ bzw. „Neuzuwanderung“ fast ausschließlich für die EU-Migration aus Bulgarien und Rumänien Verwendung findet, während andere Gruppen meist als Migrant_innen bezeichnet werden. Als Zuwander_innen gelten all jene Menschen, die nach Deutschland ziehen, unabhängig davon, wie lange sie im Land bleiben oder ob sie bereits nach kurzer Zeit wieder fortziehen (vgl. Neue deutsche Medienmacher e.V. 2015, S. 15). Von dem Stereotyp des Nomadentums sind vor allem als ‚Zigeuner’ stigmatisierte Menschen betroffen. Wir möchten diesem Sonderstatus entgegenwirken und sprechen deshalb von „Migrant_innen aus Südosteuropa“.1

Im Gespräch war ebenfalls der Begriff „Neubürger_innen“ bzw. „neue Duisburger_innen aus Südosteuropa“. Dieser bietet zwar die Chance, Migrant_innen als selbstverständlichen Teil der Stadtgesellschaft anzuerkennen und durch den Begriff das Recht auf Bürgerschaft deutlich zu machen. Wir haben uns dennoch gegen die Verwendung dieses Begriffs entschieden, da er durch das Präfix „Neu“ eine bestimmte Gruppe stets als Andere markiert. Denn wie lange muss eine Person aus Südosteuropa in Duisburg leben, um nicht mehr als „Neubürgerin“ zu gelten? Reicht ein Jahr? Oder sollten es besser zwei, fünf oder mindestens zehn Jahre sein? Dieser Sonderstatus gilt lediglich für eine bestimmte Gruppe von Migrant_innen, eine Kölnerin, die nach Duisburg zieht, würde nicht mit der Kategorie „Neubürgerin“ konfrontiert.

Während in der Berichterstattung häufig Kategorien vermischt werden, mal von „Sinti und Roma“, mal von „Rumänien und/oder Bulgaren“, dann wieder von „Flüchtlingen“ oder „Asylsuchenden“ die Rede ist, ist es uns wichtig, zwischen diesen Kategorien zu unterscheiden. Bei den von uns als „Migrant_innen aus Südosteuropa“ bezeichneten Personen handelt es sich um EU-Bürger_innen aus Rumänien oder Bulgarien, die ihrem Recht auf Freizügigkeit nachkommen und weder „Flüchtlinge“ noch „Asylsuchende“ sind. Wenn andere Begriffe als „Migrant_innen aus Südosteuropa“ verwendet werden, handelt es sich um ein direktes oder indirektes Zitat oder es ist inhaltlich notwendig an dieser Stelle von z.B. der politischen Kategorie der „Asylsuchenden“ oder von „Rom_nija“ oder von „Einwander_innen“ zu sprechen. Den ‚Zigeuner‘-Begriff verwenden wir lediglich als Zitat bzw. um auf ein konstruiertes Stereotyp zu verweisen. Da mit dem Begriff keine realen Menschen gemeint sind, wird er von uns ohne Gender_Gap verwendet.

Wir halten einen sensiblen und reflektierten Sprachgebrauch für notwendig. Dennoch sind wir uns sicher, dass ein bloßer Austausch von Begriffen nicht ausreicht, um rassistische Diskurse zu ändern. Vielmehr braucht es neue Formen und Inhalte, ein Umdenken generell, um bestehende Machtverhältnisse und Ausschlussmechanismen verändern zu können.

Überlastung und Populismus.

Die Migration aus Südosteuropa in lokalen Medien am Beispiel der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ)

Von Zakaria Rahmani

In der vorliegenden Untersuchung wurden alle Artikel aus dem Duisburger Lokalteil der WAZ berücksichtigt, die die Migration aus Südosteuropa in der Zeit vom 01.01. bis 31.05.2014 als Thema haben. Aufgrund einer inhaltlichen Vermengung innerhalb der Zeitungsberichterstattung wurden auch angrenzende Themen betreffend der „Armutsmigration“ aus Südosteuropa, der Migration aus Bulgarien und Rumänien und Artikel über Sinti_ze und Rom_nija in den Materialkorpus miteinbezogen. Ferner wurden Berichte über und Anspielungen auf die Vorfälle ‚In den Peschen‘ beachtet. Auch wenn dies keine Unterkunft war, die ausschließlich von Migrant_innen aus Südosteuropa bewohnt wurde, so kam es in der Medienberichterstattung dennoch zu einer starken Verknüpfung zwischen den Vorfällen rund um die Häuser ‚In den Peschen‘ und der Migration aus Südosteuropa. Insgesamt hat das untersuchte Material einen Umfang von 61 Zeitungsartikeln.

Wir kommen an unsere Grenzen“

Die Konstruktion eines Notstands und einer sowohl finanziellen als auch sozial-infrastrukturellen bzw. kulturellen Überforderung und Überlastung beherrscht den Diskurs über die Migration aus Südosteuropa durchgehend. Dies ist Thema in beinahe achtzig Prozent der untersuchten Artikel, die sich mit dieser Migration beschäftigen.

Migration aus Südosteuropa – Die spezielle Herausforderung

Die südosteuropäische Migration wird medial und politisch stets als Überlastungsszenario inszeniert und als „spezielle Herausforderung“ (WAZ 08.02.2014a) hervorgehoben. Zu diesem Zwecke wird ein Vergleich mit früheren Migrationsphasen angestellt. So heißt es im Artikel „So lernen die Kinder der Roma“ (WAZ 24.01.2014a): „‚Wir kommen kaum noch zurecht‘, sagt Schulamtsdirektor Dieter Ihlmann. Stammten die Schüler früher aus der Türkei oder aus Portugal, kommen sie heute mehrheitlich aus Osteuropa“. Die Beschwerde, dass man „kaum noch zurecht“ komme, steht in einem kausalen Zusammenhang mit der Nennung der osteuropäischen Herkunft, welche hier als Synonym für Rom_nija verwendet wird. Demnach stellt diese bloße osteuropäische Herkunft der Migrant_innen eine Überforderung dar. Die Migration aus Südosteuropa wird mit der türkischen und portugiesischen Migration kontrastiert, sodass die Einzigartigkeit dieser Migration und das damit einhergehende Überlastungsszenario plausibel erscheinen. Worin diese Einzigartigkeit besteht, wird nicht explizit erklärt. Vielmehr kann die hervorgehobene Einzigartigkeit als Anspielung gedeutet werden, bei der auf tradierte, vorherrschende Stereotype einer vermeintlichen ‚Eigenart’ südosteuropäischer Migrant_innen zurückgegriffen wird. Die im Diskurs der südosteuropäischen Migration vorherrschenden Aussagen, die Migrierte als „Problemgruppe“ (Graevskaia 2013, 85) stigmatisieren und sie mit Dreck, Elend und Kriminalität in Verbindung bringen, sind kulturell verfestigte Bilder, die einen Erklärungsansatz für diese ‚Eigenart‘ bieten und die vermeintliche Plausibilität der Einzigartigkeit der Migration aus Südosteuropa und der damit verbundenen Überlastung untermauern.

Auch wird die Migration als „größte[…] sozialpolitische[…] Herausforderung[…]“ bezeichnet. Auf dieser Strategie fußt z.B. der Artikel „Junge Straftäter sollen lernen klarzukommen“ (WAZ 29.04.2014). Einführend wird erklärt, dass es unter „den Armutszuwanderern aus Südosteuropa […] Kinder und Jugendliche [gibt], die bereits mehrere Straftaten auf dem Buckel haben. Das neue Projekt ‚klarkommen!‘[…] will sich dieser Gruppe nun widmen“. Dieses Projekt steht symptomatisch für die Bewertung der südosteuropäischen Migration als spezielle Herausforderung, der man durch entsprechend besondere Mittel entgegentreten müsse. Dass das Projekt speziell auf diese Zielgruppe ausgerichtet ist, wird durch die Beteiligung einer „rumänischen Diplom-Pädagogin [und] Kriminologin“ und einer „bulgarische[n] Sozial-Wissenschaftlerin“ nachdrücklich betont. Dass man dem Problem der Jugendkriminalität unter Migrant_innen auch mit bereits existierenden Projekten und Initiativen entgegenwirken kann, die sich an Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft richten, wird von den Projektinitiatoren erst gar nicht als mögliche Alternative in Erwägung gezogen.

Zahlen suggerieren Handlungsdruck

Um diese Überforderung plastisch zu machen, wird sehr häufig auf Zahlen und Statistiken zurückgegriffen, wodurch die suggerierte Handlungsdringlichkeit eine objektive Berechtigung erhält. Im Artikel „So lernen die Kinder der Roma“ (WAZ 24.01.2014a), der sich mit den sogenannten ‚Auffangklassen‘ für Schüler_innen aus Südosteuropa beschäftigt, kommt dieses Spiel mit den Zahlen beispielhaft zur Geltung: „Solche Auffangklassen werden immer mehr, weil die Schüler immer mehr werden: 30 neue Kinder aus Zuwandererfamilien zählt Dortmund derzeit jede Woche, 120 im Monat“. Durch die wiederholte Verwendung des Ausdrucks „immer mehr“ entsteht der Eindruck unaufhaltbarer Migration. Durch das Kumulieren der Zahlen, von 30 auf 120, erhält das Notstandsszenario eine quantitative Dimension und das vermeintliche Ausmaß drohender Überlastung wird authentisierend aufbereitet. Dabei muss das prognostizierende Hochrechnen eher als Dramatisierung einer Belastung der öffentlichen Schulen und somit der subtilen Betonung einer Handlungsdringlichkeit verstanden werden.

Ein Artikel vom selben Tag bedient sich der gleichen Strategie und reizt die Unterfütterung durch Zahlen stärker aus:

Fast 800 nicht deutsch sprechende Schüler lernen derzeit allein in Dortmund in 45 ‚Auffangklassen‘ an 32 Schulen aller Schulformen. […] Auch in Duisburg, ebenfalls stark betroffen vom Zustrom aus Bulgarien und Rumänien, hat sich die Zahl der zu integrierenden Schüler im Schuljahr 2012/2013 im Vergleich zum Vorjahr von 249 auf 460 erhöht. Im laufenden Schuljahr sind bereits 272 neue Schüler aufgenommen worden. […] Essen zählt derzeit 358 ‚Seiteneinsteiger‘, pro Woche werden es rund 15 mehr.“ (WAZ 24.01.2014b)

Der Artikel ist durchzogen von einem Zahlenspiel, bei dem die Information eher nachrangig erscheint, da die angegebenen Zahlen in keinem quantitativen Verhältnis mit der Migration anderer Gruppen stehen und somit auch nicht bewertend eingeordnet werden können. Ob eine wöchentliche Zunahme von 15 Schüler_innen oder eine jährliche Verdopplung von zugewanderten Schüler_innen die Schulen tatsächlich an ihre ‚Grenzen‘ bringt, wird nicht ausgeführt, jedoch als selbstverständlich angenommen. Auch hier wird durch das Zahlenspiel die Selbstverständlichkeit einer Überlastung konstruiert und das verwendete Kollektivsymbol des unaufhaltbaren „Zustroms“ (Link 1982; zitiert nach Jäger 2010, 71ff.) wird statistisch unterfüttert und damit auf eine Handlungsnotwendigkeit angespielt. Die Selbstverständlichkeit einer Überlastung schlägt sich auch in einem Leserbrief nieder, wonach 600 Migrant_innen monatlich in die Stadt einwandern würden und dies „nicht zu schaffen“ sei. „Auch wenn es viele leerstehende Wohnungen gibt, frage ich mich, wo die Menschen unterkommen“ (WAZ 10.02.2014b), so der besorgte Leser. Die These einer Überlastung entwickelt hier förmlich ein Eigenleben. Die explizit erwähnten entdramatisierenden Faktoren („viele leerstehende Wohnungen“) werden im Vorhinein verworfen und kommen als Unterbringung für die Menschen erst gar nicht in Frage. Dadurch wird die Selbstverständlichkeit einer Überlastung der Stadt durch südosteuropäische Migrant_innen aufrechterhalten.

Zudem wird statistisches Material selektiv und zusammenhanglos verwendet. So habe sich beispielsweise die „Zahl von Zuwanderern aus Rumänien und Bulgarien […] in Duisburg seit Juli 2011 um rund 6900 Menschen erhöht“ (WAZ 05.02.2014a). Auch hier wird die Zahl in keine Relation zur Migration anderer Gruppen gesetzt und die zeitgleiche Abwanderung erst gar nicht erwähnt, sodass eine sachliche Einordnung nicht möglich ist.2 Durch solch eine einseitige Auswahl von Datenmaterial wird eine starke Zunahme der Migration suggeriert und dem Argument der Überlastung weitere Berechtigung verliehen. Diese Strategie findet auch in einem Info-Kasten desselben Artikels Verwendung. Demnach ermittelte die Polizei „allein in den ersten sechs Monaten des Jahres 2013 […] gegen 2974 Tatverdächtige aus dem Umfeld der rumänischen oder bulgarischen Einwanderer in Rheinhausen und Hochfeld. Die Delikte sind immer die gleichen: Diebstahl, Betrug, Schwarzarbeit, Ruhestörung“. Der Informationsgehalt dieser Aussage ist eher fragwürdig3. Zudem knüpft er an bekannte antiziganistische Ressentiments an und unterschlägt dabei, dass ein Tatverdacht erst einmal keinerlei Schuld beweist. Diesen Umstand ignorierend, werden die gesamten Delikte unkommentiert aufgelistet und Verdächtige zu Schuldigen gemacht. Dabei werden tradierte Stereotype und bereits verfestigte Selbstverständlichkeiten zu bestätigen versucht.

Bei der Strategie, durch Zahlen eine Handlungsdringlichkeit zu suggerieren, wird statistisches (Zahlen-)Material zur Authentisierung von Aussagen verwendet und, im Sinne der Manifestation einer bestimmten Selbstverständlichkeit bzw. eines Stereotyps, zurechtgestutzt. In dem untersuchten Material wird die Überlastung der Stadt und öffentlicher Einrichtungen durch südosteuropäische Migration als Selbstverständlichkeit etabliert und durch eine fragwürdige Verwendung vermeintlich authentisierender Zahlen zu erhalten versucht.

Die machtlose Kommune

An der ‚speziellen Herausforderung‘ durch die südosteuropäischen Migrant_innen scheinen auch staatliche bzw. kommunale Akteur_innen zu scheitern. Neben Schulamtsdirektor_innen, die „kaum noch zurecht“ (WAZ 24.01.2014a) kommen, musste „die Stadt eher hilflos dabei zuschauen, wie immer mehr Zuwanderer aus Südosteuropa nach Duisburg zogen“ (WAZ 05.02.2014b). Die Kommune „kriegt die Sache nicht hin“ und die Äußerungen des Oberbürgermeisters zu dem Thema seien ein „Dokument völliger Hilflosigkeit“ (WAZ, 11.02.2014b). Die kommunale Politik tritt als gelähmte Akteurin auf, die durch die Migration völlig überfordert zu sein scheint. Vor diesem Hintergrund wirkt es auch plausibel, dass „zwei rumänische Polizisten über mehrere Wochen erfolgreich die Duisburger Ordnungshüter“ (WAZ 21.02.2014) unterstützen. Durch die Notwendigkeit „internationaler Zusammenarbeit“ (ebd.) gewinnt die Überlastung durch die Migration unweigerlich an Drastik und die Überforderung der Stadt Duisburg an Nachvollziehbarkeit.

Daran anknüpfend kann die kommunale Ordnungsabsicht nur begrenzt umgesetzt werden. In der Reportage „Hier kennt jeder jeden“ (WAZ 14.02.2014b) wird diese behördliche Überlastung plastisch an einem Beispiel durchexerziert. Die Reportage gewährt einen Einblick in den Arbeitsalltag eines Duisburger Polizisten. Bei der Ermittlung von Meldeadressen besucht der Polizist zwei rumänische Familien: Über eine Familie wird angemerkt, dass „[a]mtliche Post […] hier nie ankommen“ würde. Im zweiten Fall muss der Beamte die Eltern darüber in Kenntnis setzen, dass die Tochter beim Klauen erwischt wurde und vor Gericht erscheinen müsse. In diesem Artikel geht die Machtlosigkeit der Duisburger Ordnungshüter soweit, dass nur „sowas wie ein Wunder“ weiterhelfen kann, da die Mutter des angezeigten Mädchens kein Deutsch verstehe und der Polizeibeamte nicht wisse, wie er ihr den Sachverhalt ,,verklickern“ soll. Nur durch ein Wunder erklärt sich die Autorin das plötzliche Auftreten des Vaters und die Kontaktaufnahme mit dem Polizeibeamten, der den Mann über den Gerichtstermin seiner Tochter informieren kann, sodass dem Rechtsstaat so doch noch Genüge getan werden kann.

Diese Handlungsunfähigkeit und Überforderung der Stadt schlagen sich häufig auch in sprachlichen Formulierungen nieder. So „versuchte“ die Stadt „festzustellen, wie viele gemeldete Bulgaren und Rumänen tatsächlich in bekannten Wohnhäusern […] leben“ (WAZ 04.04.2014a). Auch „hofft“ ein Politiker auf die Motivation arbeitsloser ,,Zuwanderer“ (WAZ 05.02.2014c) und bezüglich der „erhofften“ Hilfen aus der EU, „stirbt [die Hoffnung] zuletzt“ (WAZ 10.02.2014a). Und was die südosteuropäischen „Klaukids“ betrifft, so sind sie für die Ordnungsmacht „kaum zu packen“ (WAZ 06.05.2014). Hier wird ein Erfolg der Handlungen stets als ungewiss dargestellt und somit die Grenzen und die Überlastung der Behörden auf sprachlicher Ebene übertragen. Dabei entsteht ein Bild von südosteuropäischen Migrant_innen, welche sich den „disziplinierenden Mittel[n] des Staates“ (Hund 1996, 42) verschließen, wodurch wiederum ein tiefverwurzelter Bestandteil im Repertoire antiziganistischer Ressentiments zum Einsatz kommt. Der vor Jahrhunderten konstruierte ‚Zigeuner‘ stand schon zu Beginn der Herausbildung des modernen Staates, in einer konfliktbehafteten Beziehung mit diesem. Der moderne Staat benötigte „seßhafte und administrativ beherrschbare Bürger und unternahm deswegen ‚gigantische Anstrengungen, seine Untertanen zu disziplinieren, gehorsam und fleißig zu machen‘“ (Hund 1996, 42). So bestand die einzige Handlungsoption im Umgang mit den „‚schädliche(n) Bösewichter(n)‘“ (Hund 1996, 42) darin, diese aus dem Land zu verweisen.

Die Haltung einer ‚Quasi-Resignation‘ erlebt stellenweise dann einen Wandel, wenn außergewöhnliche bis gar drastische Reaktionen auf die Überforderung angeboten werden: So stellt die Autorin des Artikels „So lernen die Kinder der Roma“ die Frage, wie man denn Unterricht machen könne, wenn die „Roma-Kinder“ in keiner Sprache „sattelfest“ seien. Die sentimentale Antwort der Lehrerin lautet „Mit Kopf, Herz und Hand“ und markiert die Notwendigkeit außergewöhnlicher Mittel in Bezug auf diese scheinbare Ausnahmesituation. Die Steigerung in drastische Reaktionen ist erkennbar, wenn der Duisburger Sozialdezernent Reinhold Spaniel sicherstellen will, dass die Häuser ‚In den Peschen‘ nicht weiter bewohnt werden und androht „die Türen notfalls“ (WAZ 23.04.2014) zuzumauern. Hier wird erneut eine Ausnahmesituation konstruiert und gleichermaßen suggeriert, dass bei Migrant_innen aus Südosteuropa die gängigen Regeln eines Wohnverbots nicht greifen, beispielsweise durch einen beschilderten Hinweis. Es wird eher unterstellt, dass eine gewisse Drastik her muss, wahrscheinlich nicht zuletzt erneut aufgrund ihrer kulturellen ‚Eigenart’, wodurch sie schon seit Jahrhunderten als umherziehende Nomaden stigmatisiert werden (vgl. Hund 2000, 87). Der dadurch aufscheinende Konfliktcharakter wird im Laufe des Diskurses maßgeblich ausgeweitet.

Konflikte

In den untersuchten Artikeln tun sich diverse Konfliktfelder auf, die auf verschiedene Handlungsebenen verweisen.

Konfliktfeld 1: Gegen Kriminalität und Willkür

In diesem Feld tritt die Kommune in eine Konfliktsituation und zielt darauf ab, die kommunale Ordnung aufrecht zu erhalten. So stehen die Sicherheitsbehörden „[i]m Kampf gegen steigende Einbruchszahlen“ (WAZ 18.03.2014) und im selben Artikel auch „[i]m Kampf gegen hochprofessionelle Banden aus Südosteuropa“. Auch müsse die Stadt – zwecks Unterbringung von Asylsuchenden aus dem Kosovo und Serbien – „Wohnungen […] konfliktträchtig beschlagnahmen“ (WAZ 21.03.2014). In einem anderen Bericht (WAZ 04.04.2014a) wird eine Zählaktion von gemeldeten Bewohner_innen ‚In den Peschen‘, narrativ so aufbereitet, dass das Element des Konflikts zur Geltung kommt. So wird berichtet, dass die Zählaktion von einem Gasalarm unterbrochen wurde, jedoch kein Gasaustritt festgestellt werden konnte. Auch wenn der Informationsgehalt dieses Zwischenfalls eher marginal ist, so erscheint die Zählaktion dadurch konfliktgeladen, sodass das geplante Vorhaben des Ordnungsamtes nicht reibungslos verlaufen konnte und eine beabsichtigte Störung der städtischen Ordnungsmacht – möglicherweise durch die Bewohner_innen – suggeriert wird. Das gleiche gilt für die Äußerung des Sozialdezernenten Reinhold Spaniel. Dieser droht damit, die Türen der Wohnungen ‚In den Peschen‘ notfalls zuzumauern (WAZ 23.04.2014), was als präventive Aktion gegen eine ‚Belagerung‘ erscheint und der grundlegenden, konfliktgeladenen Rhetorik – bezüglich der Migration aus Südosteuropa – weitere Berechtigung verleiht.

Konfliktfeld 2: Kampf gegen die EU

In diesem Konfliktfeld vertritt die Kommune ihre Interessen gegenüber höheren politischen Instanzen.

Im Artikel „Hochfeld präsentiert Stärken und Kanten“ (WAZ 08.02.2014a) wird sich eines Sprachbildes bedient, um diese Konfliktebene beinahe episch und märchenhaft auszubauen: „EU-Sozialkommissar Laszlo [László – d.Verf.] Andor kam, schaute sich um, hörte zu, machte sich viele Notizen. Am Ende empfahl er der Stadt, die bekannten Fördertöpfe anzuzapfen. OB Link gibt sich kämpferisch“. Der Oberbürgermeister erscheint demnach als „kämpferisch[er]“ Akteur im Konflikt mit der EU und dem EU-Sozialkommissar Andor, dem „Herr[n] der Brüsseler Fördertöpfe“, der „noch den EU-Fond für die Ärmsten aus dem Ärmel [zaubert]“. Letztlich handelt es sich hierbei um einen Kampf um diese „Fördertöpfe“, der mit der EU bzw. deren Repräsentanten ausgetragen werden muss.

Im Artikel „Duisburg-Brüssel 1:1“ (WAZ 14.02.2014a) wird dieser Konflikt anhand der Kollektivsymbolik eines Fußballspiels fortgeschrieben. Dabei schlägt Sozialdezernent Reinhold Spaniel bei der EU „auf die Pauke“ und holt so den „argumentativen Tagessieg“. Auf der einen Seite freut sich die Vizepräsidentin der EU „wie gut der ‚Umgang mit mobilen EU-Bürgern‘ funktioniert“ und auf der anderen Seite stellt Reinhold Spaniel fest, „dass dies nur eine Seite der Medaille ist“, woraufhin er die mangelnde Schulbildung, die steigende Kriminalitätsrate und das Sozialverhalten der südosteuropäische Migrant_innen kritisiert. Dieser Vorfall blieb jedoch ergebnisoffen, da „Brüssel […] den Ball nach Berlin“ spielte. In diesem Artikel wird ein Konflikt um die Deutungshoheit über das Ausmaß der Überlastung und der negativen Auswirkungen durch die Migrationsbewegungen beschrieben, der zwangsläufig auch an eine Erwartungshaltung gegenüber EU-Institutionen gekoppelt ist. Dabei spielen Geldmittel und strukturelle Unterstützung durch die EU eine wichtige Rolle. Dieses spezifische Konfliktfeld weitet sich im Diskurs weiter aus, wirkt identitätsstiftend und fußt auf einer Strategie, die mit dem Konzept des Populismus erfasst werden kann.

Populismus

Nach Franz Januschek meint Populismus „ein tiefes Unbehagen mit der herrschenden Politik, verursacht durch das Gefühl, von der Macht ausgeschlossen“ und „das Objekt von Kungeleien von ‚denen da oben‘ zu sein“ (Grewening 1993, 119). Dabei gibt Populismus vor, „das allgemeine Interesse des ‚Mannes auf der Straße‘ (des ‚Volkes‘) gegen die partikularen Interessen herrschender Gruppen zu vertreten“ (ebd.). Ergänzt um das Konzept des populistischen Vierecks nach Sebastian Reinfeldt, wirkt der Populismus auch identitätsstiftend (Reinfeldt 2013, 48ff.). Dabei stehen unter anderem die Akteur_innen ‚Wir‘, den Akteur_innen ‚Nicht-wie-wir‘ abgrenzend gegenüber. Die oben dargelegte populistische Rhetorik bezieht sich dabei auf ‚Die-da-oben‘, welche die Bürger_innen „schlecht“ regieren und „nur unzureichend repräsentieren“ (Reinfeldt 2013, 48ff.) würden.

Im Folgenden fasst das ‚Wir‘ alle die Akteur_innen, welche sich in den untersuchten Artikeln als Mitglieder der Stadtkommune, als betroffene Anwohner_innen und Einzelpersonen und nicht zuletzt als Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft wiedererkennen und den ‚Nicht-wie-wir‘ (in dem Fall: Migrant_innen bzw. Rom_nija) gegenüberstehen. Die oben dargestellten Konfliktfelder (Gegen Kriminalität und Willkür/Kampf gegen die EU) sind als Bestandteil dieser konfliktgeladenen Dichotomie zu betrachten.

Die allgemeine Bevölkerung Deutschlands einerseits und ihre Eliten andererseits“

In dem untersuchten Material gibt es eine auffällige Zweiteilung zwischen den Akteur_innen des ‚Wir‘ und denen des ‚Die-da-oben‘, womit konkret EU-Institutionen und deren Entscheidungsträger_innen gemeint sind.

So heißt es über den Besuch des EU-Kommissars in Duisburg-Hochfeld: „Raus aus dem Brüsseler Elfenbeinturm, rein in den echten Duisburger Alltag: Laszlo [László – d.Verf.] Andor, EU-Sozialkommissar, und Verfechter der Arbeitnehmerfreizügigkeit von Bulgaren und Rumänen, will sich am Freitag vor Ort selbst ein Bild der Konsequenzen machen“ (WAZ 05.02.2014a). Hier wird der Akteur László Andor dem Bereich des ‚Die-da-oben‘ zugeordnet und dies nicht nur auf einer reinen Sinn-Ebene, sondern auch auf einer kollektivsymbolischen Ebene: Der EU-Kommissar steigt vom „Brüsseler Elfenbeinturm“ hinunter und begibt sich „in den echten Duisburger Alltag“, um sich ein „Bild [von] de[n] Konsequenzen“ der Entscheidungen zu machen, die ‚Die-da-oben‘ gefällt haben. So könne „Andor seine Haltung an der Duisburger Realität überprüfen“, womit gleichermaßen erklärt wird, dass die Deutungshoheit an dieser Stelle zu Gunsten des ‚Wir‘ ausfällt. Dasselbe gilt auch für die Verwendung des Begriffs der „Duisburger Wahrheit“, welcher auf die Probleme mit den südosteuropäischen Migrant_innen anspielt, eine Zuordnung von Wahrheiten zugunsten des ‚Wir‘ anstellt und das ‚Wir‘ klar von den „EU-Vordenkern“ abgrenzt, die lediglich von einem „vereinten Europa träumen“ (WAZ 08.02.2014b) und demnach realitätsfern seien. Vor diesem Hintergrund erscheint jegliche Deutungshoheit – ihrerseits – unangemessen, sodass sie einen entsprechend „authentischen Eindruck“ (WAZ 08.02.2014a) mitnehmen müssen und zu belehren sind. Diese Zuordnung wird auch an einer anderen Stelle deutlich, wenn sich „Laszlo [László – d.Verf.] Andor, […] die Mühe machte, zu schauen, welche Effekte die in Brüssel entschiedene Freizügigkeit […] im echten Leben produzieren kann“ (WAZ 14.02.2014a). Der Hinweis auf das „echte Leben“ suggeriert einen entsprechend gegenteiligen Bezug der – wie es in einem Leserbrief heißt – „abgehobenen Selbstbeweihräucherung der Politik“ (WAZ 18.02.2014). Auch erklärt sich der Verfasser eines anderen Leserbriefs die EU-Freizügigkeit mit den „kosmopolitischen Ideale[n]“ einer „Elitenideologie“, die in keiner Weise dem Urteil der „allgemeinen Bevölkerung“ (WAZ 11.02.2014b) entspräche. In diesen Aussagen spiegelt sich das populistische Verständnis einer Zweiteilung wider, wonach sich das ‚Wir‘ durch ‚Die-da-oben‘ schlecht regiert und unzureichend repräsentiert sieht. Dies bezieht sich vor allem auf die europäische Politik, welche eine „Lethargie“ (WAZ 10.02.2014c) an den Tag lege, realitätsfern und nicht mit der „Duisburger Wahrheit“ (WAZ 14.02.2014a) kompatibel erscheint. Ein Zeitungsartikel fasst diesen Sinngehalt in der folgenden Aussage symbolisch zusammen: „Andor hat die Stadt im Regen stehen gelassen“ (WAZ 11.02.2014a).

Der Populismus wird in den vorliegenden Artikeln weitergeführt, wenn es darum geht, „das allgemeine Interesse“ (Grewenig 1993, 119) der Duisburger_innen gegen EU-Entscheidungsträger_innen zu verteidigen. So müsse ein „lokaler Vertreter“ der EU-Politik „entgegentreten“, was die Verfasserin desselben Leserbriefs dazu bewegt, sich mehr „Staatssekretäre, Minister und Bundeskanzler mit klaren Worten, echter Volksvertretung und Rückgrat“ (WAZ 18.02.2014) herbeizusehnen. Dabei bezieht sich der Leserbrief lobend auf den Auftritt des Duisburger Sozialdezernenten Reinhold Spaniel in Brüssel, der – wie schon erwähnt – „auf die Pauke“ haute, da er das Gefühl gehabt habe, dass „Duisburg […] mit seinen Problemen beiseite gewischt“ (WAZ 14.02.2014a) werde, weshalb auch die „Duisburger Wahrheit“ (ebd.) raus müsse. Um dieselbe Art kommunaler ‚Interessenvertretung der Bürger_innen‘ handelt es sich auch bei der Bezeichnung des Oberbürgermeisters Link als „kämpferisch“ (WAZ 18.02.2014), wenn es um den Zugang zu „Brüsseler Fördertöpfe[n]“ (ebd.) geht, den er sich erkämpfen muss, um die Probleme durch die südosteuropäische Migration zu bewältigen.4

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die gesamte populistische Strategie rund um die Überlastung und die Forderung nach mehr Geldmitteln um Akteur_innen (László Andor, Reinhold Spaniel, Sören Link) ergänzt wird, die im Konfliktfeld zwischen ‚Wir‘ und ‚Die-da-oben‘ agieren. Diese populistische Strategie ist sowohl Bestandteil der Berichterstattung der WAZ als auch wiederkehrendes Element im Sagbarkeitsfeld5 der Duisburger Politik und Stadtverwaltung.

Die Strategie hinter den Forderungen nach Geldmitteln für die Kommune wird im Folgenden weiter ausgeführt.

Duisburg hätte […] mehr Unterstützung aus Brüssel verdient“

Hinsichtlich der politischen Interessenvertretung der Duisburger Bürger_innen gegenüber der EU (‚Die-da-oben‘) und der oben thematisierten Überlastung durch die südosteuropäische Migration, wird stets die Notwendigkeit finanzieller Hilfen betont, da die Integration von Migrant_innen „viel zusätzliches Geld in Millionenhöhe“ (WAZ 05.02.2014a) koste.

Dabei kommt es zu einem Ineinandergreifen verschiedener Themenbereiche, wobei die Aspekte der nötigen Geldmittel, der Überlastung und des Populismus in einer Wechselwirkung miteinander stehen. Diese Wechselwirkung kommt im folgenden Kommentar plastisch zur Geltung: „Es ist Flickschusterei, die die Kommune damit leisten muss, geschuldet EU-Vordenkern, die von einem vereinten Europa träumen und erst spät, zu spät, überlegen, wie sie Städten helfen, in denen sich die soziale Unwucht des Kontinents kristallisiert“ (WAZ 08.02.2014b). In diesem Zitat wird eine der grundlegenden Aussagen der untersuchten Artikel deutlich: Migration wird als beispiellose Belastung für die Kommune (‚Wir‘) betrachtet, die auf Entscheidungen der EU-Institutionen (‚Die-da-oben‘) zurückzuführen sei und für deren Bewältigung Geldmittel von der EU berechtigt und nötig seien.

Entsprechend stark ist die Berichterstattung über die südosteuropäische Migration auf das Thema der nötigen Geldmittel fokussiert. So bewertet die WAZ den Besuch des EU-Sozialkommissars László Andor in Duisburg mit der Feststellung: „Mehr Geld in die klamme Stadtkasse hat der Besuch […] nicht gebracht“ (WAZ 08.02.2014a). Und ein Leserbrief fordert – genauso ernüchternd –, dass „diesen Kommunen, die Ziel finanzschwacher und schwer vermittelbarer Zuwanderer aus Südosteuropa sind, finanziell geholfen“ werden müsse, auch wenn dies „nur ein Tropfen auf dem heißen Stein“ (WAZ 10.02.2014a) sei. Ein anderer Artikel stellt fest: „Duisburg […] hätte mehr Unterstützung aus Brüssel verdient“ (WAZ 11.02.2014a) und Sozialdezernent Reinhold Spaniel bemerkt: „Wir tun, was wir können […] aber die Stadt braucht für Hilfen Geld“ (WAZ 14.02.2014a).

Die Forderung nach mehr Geldmitteln durchzieht den gesamten untersuchten Teil des Diskurses, kommt in der WAZ besonders häufig vor und wird – unabhängig von der Person, dem Amt, der Parteizugehörigkeit und Institution – stetig formuliert. Diese Forderung entspricht auch der politischen Linie der kommunalen Regierung und wird in der WAZ stellenweise um das im Folgenden ausgeführte Bedrohungsszenario erweitert, wodurch erneut eine Handlungsdringlichkeit konstruiert wird.

Lassen Sie das, spielen Sie nicht mit dem Feuer“

Zum einen wird die Forderung nach mehr Geldmitteln argumentativ mit der Bewältigung der Überlastung durch Migration aus Südosteuropa begründet und zum anderen mit der Aufrechterhaltung des sozialen Friedens untermauert.

Exemplarisch formuliert es der Verfasser eines Leserbriefs: „[O]hne weiteres Geld wäre[…] der soziale Friede […] in Frage gestellt“ (WAZ 10.02.2014a). Konkret ist damit ein ‚Rechtsruck‘ gemeint, wenn die „Stimmung in der Bevölkerung“ von den Politiker_innen „auf die leichte Schulter“ (WAZ 11.02.2014a) genommen werde, weshalb man auch „nicht mit dem Feuer“ (WAZ 21.03.2014) spielen solle. Der Rechtsruck erscheint also als – nachvollziehbare – Folge einer verfehlten EU-Politik, die für die Bewältigung der südosteuropäischen Migration zu wenig Mittel zur Verfügung stellt. In diesem Zusammenhang entfaltet sich ein Bedrohungsszenario, das man ansonsten von Rechtspopulist_innen kennt, wonach (rechte) Gewalt bzw. eine entsprechende Stimmung in der Kommune als nachvollziehbare Folge einer ‚falschen‘ Migrationspolitik dargestellt wird. Damit distanziert sich der Urheber einer solchen Einschätzung einerseits vom rechten Spektrum und den drohenden gewaltvollen Ausschreitungen, stellt diese jedoch andererseits als Drohkulisse in Aussicht (vgl. Bredehöft/Januschek 1994, 21). Dadurch wird versucht, Druck auf die Politikgestaltung auszuüben. Bei der Duisburger Kommunalwahl Ende Mai 2014 konnten rechte Parteien deutliche Wahlerfolge für sich verbuchen, was erneut als eine Gefahr für den sozialen Frieden in der Stadt gewertet wurde und an die immer gleichen Forderungen nach mehr Geldmitteln geknüpft wurde. So werden „zu viele Politiker […] kurz vor Wahlen wach und wundern sich dann über die steigende Anzahl von Rechten“ (WAZ 30.04.2014). An einer anderen Stelle wird das Ergebnis als „deutliches Warnsignal“ gewertet. Demzufolge müssten „Europa, Bund und Land […] Städte wie Duisburg bei der Armutszuwanderung energisch […] unterstützen“ (26.05.2014). Die Ursache des Erfolgs rechter Parteien wird somit allein auf eine Überforderung durch die Migration aus Südosteuropa und die geringen Mittel der EU zurückgeführt. Rassistische Vorbehalte bei Teilen der Duisburger Bevölkerung, die sich in den Wahlerfolgen niederschlugen, geraten nicht in den Blick.

Diese Strategie führt zu weiteren Aussagefeldern, in denen der soziale Friede zum Thema gemacht wird. So wurde die „Umsiedlung einer „Roma-Familie“ deshalb nicht öffentlich gemacht, „um nicht neuen Ärger bei Nachbarn zu provozieren“, „[b]loß keine Ressentiments bei den neuen Nachbarn [zu] wecken [und] […] keine Unruhe [zu] provozieren“ (WAZ 23.04.2014). Auch das Hilfsprojekt „klarkommen“ (WAZ 29.04.2014), das junge Straftäter_innen aus Südosteuropa von der schiefen Bahn abbringen soll, soll „ein Signal an die besorgte Bevölkerung in einigen Stadtteilen sein, dass dieses Problem erkannt ist und nachhaltig angegangen wird“. In erster Linie dienen diese Projekte also nicht den Migrant_innen, sondern eher der Beschwichtigung der Mehrheitsgesellschaft, die als leidtragende Akteurin dargestellt wird. Die Geldmittel der EU sind in dieser Perspektive nicht erstrangig dazu da, die Gruppe der südosteuropäischen Migrant_innen zu unterstützen, sondern die Begleiterscheinungen der Migration einzudämmen, um das ,sittliche Empfinden‘ der Mehrheitsgesellschaft zu schonen und der Gefährdung sozialen Friedens entgegenzuwirken. So wird, auf einer übergeordneten Bedeutungsebene, der Rechtsruck als Folge der Störung dieses sittlichen Empfindens und der vermeintlichen Verletzung kultureller Normen dargestellt und diesen dadurch zu erklären versucht. Dieser sich entfaltende Sinngehalt hat aber fatale Folgen, da durch diese Argumentation, dieser Reaktion der Mehrheitsgesellschaft eine gewisse Nachvollziehbarkeit, wenn nicht sogar Legitimität verliehen wird (vgl. End 2014, 212).

Einige Duisburger Kommunalpolitiker_innen instrumentalisieren die vermeintliche Gefährdung des sozialen Friedens infolge eines blanken politischen Kalküls und konstruieren dadurch eine Handlungsdringlichkeit, die weitere Geldmittel seitens der EU legitimieren soll. Dabei werden die realen, gesellschaftlichen Folgen und Wirkungen einer solchen konstruierten ‚Überforderungspolitik‘ und der Instrumentalisierung einer Gefährdung des sozialen Friedens gleichermaßen ignoriert. Darüber hinaus werden Erklärungsmuster und Argumente angeboten, die mit einer vermeintlichen Benachteiligung und Elementen des Populismus vermengt werden. Dies kann dazu führen, dass diese Erklärungsmuster die mögliche rechtslastige Perspektive einiger Leser_innen auf die Migration aus Südosteuropa argumentativ unterfüttern. Letztlich stellt eine solche (politische) Strategie die eigentliche Gefährdung des sozialen Friedens dar.

Duisburger Selbstheilungskräfte“

Im Rahmen der Berichterstattung über die Migration aus Südosteuropa wird die Kommune stets als ‚Betroffene‘ dargestellt. Hierbei werden der Kommune körperliche Eigenschaften zugeschrieben: Demnach sei in Duisburg der „Zustrom“ (WAZ 24.01.2014b) von südosteuropäischen Migrant_innen „zu spüren“ (WAZ 19.02.2014), sodass auch die „Duisburger Selbstheilungskräfte“ (WAZ 10.02.2014c) nicht mehr helfen würden. Die Migration aus Südosteuropa erscheint als eine Art Infektion des gesunden Körpers der Kommune, den es – durch Geldmittel – zu heilen gilt. Dieser infektiöse Befall gewinnt durch Kollektivsymbole an Drastik, entfaltet eine entsprechende Logik und wirkt dadurch plastischer. Dabei entfalten die Kollektivsymbole einen tieferen Sinngehalt, der komplexe Sachverhalte vereinfachend darstellt und den Rückgriff auf ein kulturspezifisches System kollektiver Symbolik erlaubt (vgl. Jäger/Zimmermann 2010, 39): Die Duisburger Kommune wird mehrfach als „Zuwanderungsmagnet“ (WAZ 08.02.2014b/21.03.2014) charakterisiert, die von einer ganzen „Zuwanderungswelle“ (WAZ 11.02.2014b/04.04.2014b) bzw. einem „Zuwandererstrom“ (WAZ 29.04.2014) „betroffen“ (WAZ 24.01.2014b) sei. Diese Symbole wirken dadurch subjektkonstituierend, da sich das ‚Wir‘ als Teil dieses Körpers betrachtet und damit zwangsläufig die Position eines Bedrohten einnimmt. In diesem Fall rührt die Bedrohung von einer unaufhaltbar erscheinenden „Zuwanderungswelle“ bzw. eines „Zuwandererstrom[s]“, der den Körper der Kommune – u.a. das ‚Wir‘ – befällt und wogegen es sich zu wehren gilt.

In der WAZ werden hierbei diverse Handlungsoptionen angeboten, wie man auf diese „Zuwanderungswelle“ reagieren könne. Zum einen wird eine Gefährdung des sozialen Friedens prognostiziert. Wie diese Gefährdung aussehen könnte, wird durch die Anspielung auf „die steigende Anzahl von Rechten“ (WAZ 30.04.2014) ersichtlich. Eine andere Handlungsoption ist eine Bewältigung des Problems durch einen Einsatz entsprechender Geldmittel. Durch den Einsatz von Kollektivsymbolen werden sowohl die oben dargelegten Strategien des Populismus wie auch die stetigen Forderungen nach mehr Geldmitteln und das Heraufbeschwören einer Gefährdung des sozialen Friedens weiter untermauert.

Anknüpfungspunkte zwischen extrem rechten und etablierten Medien

Von Alexandra Graevskaia

Die extreme Rechte bezieht sich oft auf Artikel in den etablierten Medien. Auch das Buch des Fotografen Rolf Bauerdick „Zigeuner – Begegnungen mit einem ungeliebten Volk“ empfangen sie mit offenen Armen und ziehen es als authentische Erzählung zur Bestätigung der eigenen antiziganistischen Ressentiments heran. Bauerdick wird von der Jungen Freiheit gelobt (vgl. JF 19/2013, 20) und von PI-News mit den Worten „Wir bezweifeln kein Komma“ (PI 21.11.2013) angepriesen. Auch die restriktiven Forderungen der etablierten Parteien greifen die extremen Rechten mit positiven Tönen auf. Mit Bezugnahme auf eine Pressemitteilung des Duisburger Oberbürgermeisters Sören Link schreibt PI: „Link würde schon gerne Zigeuner, die Straftaten verüben oder Sozialmissbrauch betreiben, abschieben, wird aber durch fehlendes Bundesrecht daran praktisch gehindert.“ (PI 15.07.2013) Auch die Deutsche Stimme befürwortet die von der Regierung getroffenen Maßnahmen:

Da es sich beim Großteil der Einwanderer aus den Balkanländern um Zigeuner handelt, sah sich selbst Innenminister Friedrich (CSU) dazu veranlaßt, die Wiedereinführung der Visa-Pflicht, schnellere Verfahren und das Kürzen von ausgezahlten Geldern einzufordern.“ (DS 12/2012, 7)

In Bezug auf einen Brief des Innenministers Friedrich und einiger seiner europäischen Amtskollegen schreibt die Deutsche Stimme sogar, dass der Inhalt so auch in einem NPD-Parteiprogramm stehen könnte (vgl. DS 07/2013, 12).

Insgesamt fällt auf, dass die extremen Rechten sich größtenteils nicht um eigene Argumentationsmuster bemühen, sondern die der etablierten Medien (in zugespitzter Form) übernehmen oder direkt eins zu eins kopieren. So bezieht sich die Deutsche Stimme immer wieder positiv auf Politiker_innen der etablierten Parteien, darüber hinaus bestehen viele PI-Artikel aus zusammengetragenen Meldungen der etablierten Medien. Diese Anknüpfung an die Diskurse in den etablierten Medien und der regierenden Parteien funktioniert aufgrund der tiefen historisch bedingten Verankerung und Verbreitung antiziganistischer Stereotype in der Gesellschaft. So stimmten laut der Mitte-Studie im Jahre 2014 47,1 bis 55,9 Prozent der Bevölkerung antiziganistischen Aussagen zu (vgl. Decker et al 2014, 50).

Extreme Rechte:
In den Strömungen getrennt – im Antiziganismus geeint

Von Alexandra Graevskaia und Stefan Vennmann

Welchen Stellenwert hat Antiziganismus im extrem rechten Ideologiegebäude?

Welche Rolle spielt dabei der aktuelle Diskurs um Migration aus Südosteuropa?

Welche Aussagen trifft die extreme Rechte im aktuellen Diskurs und wie argumentiert sie dabei?

Diese Leitfragen strukturieren dieses Kapitel, bei dem es zunächst um den Diskurs auf der Bundesebene geht, bevor die spezifische Situation in Duisburg thematisiert wird.

Stellenwert von Antiziganismus im extrem rechten Ideologiegebäude

In der gängigen Literatur werden folgende Elemente der extrem rechten Ideologie genannt: Rassismus (der oft unzutreffend mit ‚Fremden‘- oder ‚Ausländerfeindlichkeit‘ gleichgesetzt wird), Antisemitismus, Sozialdarwinismus, Nationalismus bzw. Chauvinismus und die Verharmlosung des historischen Nationalsozialismus und Autoritarismus bzw. die Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur (vgl. Decker et al 2014, 28; Bundschuh 2010, 5; siehe auch Kellershohn et al 2014 zum Völkischen Nationalismus). Der Antiziganismus kommt in dieser Aufzählung nicht vor. Wenn man aber das aktuelle Weltbild der extremen Rechten und die Ursprünge (vgl. Wippermann 1997) des Antiziganismus näher betrachtet, so müsste Antiziganismus als weiteres Element neben Antisemitismus und Rassismus stehen.

Seit den 1970er Jahren hat sich unter den extremen Rechten das Konzept des ‚Ethnopluralismus‘ ausgebreitet, das die Menschheit in Ethnien unterteilt, die sich jeweils durch eine spezifische Kultur auszeichnen, wodurch das Aneignen einer Kultur, in die man nicht hineingeboren wurde, nicht möglich sei (vgl. Fröchling 1996, 99). Diese Vorstellung von Kultur ist so weit als natürliches Phänomen gewachsen, dass sie sich vom biologischen Rassismus kaum unterscheidet. Somit strebt der Ethnopluralismus nach ‚reiner‘ genetischer, kultureller und nationaler Identität aller ‚Völker‘. Entsprechende plakative Forderungen formulierte bspw. eine Gruppierung der ‚Autonomen Nationalisten‘:

Türkei den Türken, […] Israelis raus aus Palästina, […] Amerika den Indianern, Serbien den Serben, Griechenland den Griechen. Und Deutschland uns Deutschen.“ (Volksfront-Medien 10.02.2011)

Anstelle einer Aufwertung der eigenen Gruppe gegenüber anderen Gruppen steht das nationale Selbstbestimmungsrecht und das Nebeneinander der Gruppen „nach dem Schema ‚X’ den ‚X’-en“ (Globisch 2011, 203) im Vordergrund. Dabei wird fast allen Gruppen das Recht auf einen Staat zugesprochen, nur für Israelis (wobei in diesem Fall Juden und Jüdinnen gemeint sind) und für US-Amerikaner_innen gilt die Vorstellung einer Einheit von Staat/Volk/Kultur/Nation nicht. US-Amerikaner_innen werden „als Eindringlinge gesehen, denen als nicht-authentische Gruppe das Existenzrecht in diesem Staat abgesprochen wird […] Israel wird nicht als legitimer Staat anerkannt, den Israelis wird kein Ort zugeschrieben, sie sollen ‚raus‘ aus der Ordnung der Welt“ (Globisch 2011, 204). ‚Zigeuner‘ finden in dieser Aufzählung keine Erwähnung, ähnlich wie Jüdinnen und Juden haben sie im extrem rechten Weltbild keine Heimat. Gemäß tradierten antiziganistischen Stereotypen sind sie zum ewigen Umherziehen verdammt (vgl. Winckel 2002, 15, 21).

Im aktuellen Diskurs werden ‚Zigeuner‘ von den extremen Rechten als Fremde konstruiert, unabhängig davon, ob es sich um vor kurzem eingewanderte Rom_nija oder seit Jahrhunderten in Deutschland lebende Sinti_ze handelt. Die Existenz deutscher Rom_nija und deutscher Sinti_ze widerspricht dem ‚ethnopluralistischen‘ Weltbild, das von starren nebeneinander existierenden Kulturen ausgeht. Man könnte noch weiter gehen und sagen, dass ‚Zigeuner‘ im ‚Ethnopluralismus‘ keinen Platz haben. Wenn extreme Rechte darauf verweisen, dass die Herkunftsländer sich mit den Problemen der Rom_nija auseinander setzen müssen, dann meinen sie nicht die Probleme der Rom_nija, sondern dass Rom_nija an sich ein Problem darstellen würden, egal wo sie sich befinden.

Da Antiziganismus eine sehr weit verbreitete und akzeptierte Form rassistischer Ausgrenzung darstellt,6 kann die extreme Rechte besonders gut an die Diskurse in der Mehrheitsgesellschaft anknüpfen.

Grundbehauptungen der extremen Rechten

In den Publikationen der extremen Rechten lassen sich drei inhaltlich miteinander verwobene bzw. aufeinander basierende Grundbehauptungen identifizieren:

  1. die korrekte Bezeichnung derer, die hier einwandern, sei ‚Zigeuner‘, man müsse die Dinge beim Namen nennen
  2. ‚sie‘ seien grundsätzlich nicht integrierbar, ihre Kultur rückständig, kriminell und passe nicht hierher
  3. ‚sie‘ stellten eine Bedrohung für ‚uns‘ dar und wanderten in die Sozialsysteme ein.

Im Folgenden werden diese Grundbehauptungen anhand einiger Beispiele ausgeführt und die damit einhergehende Argumentationsstruktur beleuchtet.

In den Publikationen der extremen Rechten werden in allen Artikeln die EU-Migrant_innen und Asylsuchenden aus Südosteuropa auf irgendeine Art und Weise ethnisiert, sei es als „Roma“, „Rotationseuropäer“, „mobile ethnische Minderheit“ oder direkt als „Zigeuner“. Während die abwertende Fremdbezeichnung „Zigeuner“ in den etablierten Medien kaum mehr zu finden ist, wird der Begriff von den extremen Rechten fast durchgängig verwendet.

Forderungen von Selbstorganisationen, wie dem Zentralrat der deutschen Sinti und Roma, nach einer diskriminierungsfreien Berichterstattung werden von den extremen Rechten abgelehnt, lächerlich gemacht

Zigeuner, äh Sinti und Roma, äh Rotationseuropäer verlangen eine Selbstzensur von der Presse“ (PI 07.11.2009)

und mit der Zuschreibung negativer Attribute gekontert. Den Verzicht auf abwertende Fremdbezeichnungen sehen sie als Bedrohung der Pressefreiheit durch ‚Political Correctness‘. Sich selbst inszenieren die extremen Rechten hingegen als das Sprachrohr der Wahrheit, das Dinge beim Namen benenne und nicht verschweige wie schlimm ‚die Zigeuner‘ seien. Zu dieser Strategie gehört es auch, den ‚Zigeuner’-Begriff erst recht zu verwenden, wenn er von den Betroffenen abgelehnt wird. So bezeichnen sie z.B. ein in den etablierten Medien so genanntes „Roma-Haus“ als „Zigeunerhaus“ (PI 17.08.2013). Manche Schlagzeilen spielen auch auf spöttische Art und Weise auf das romantisierend-antiziganistische Volkslied mit dem Titel „Lustig ist das Zigeunerleben“ (u.a. DS 03/2014, 14) an. Ähnlich sarkastisch wird auch der Begriff ‚Rotationseuropäer‘ als vermeintlich unbelastete Alternative zum ‚Zigeuner‘-Begriff benutzt.

Die extreme Rechte betont, dass man benennen müsse, um wen es sich bei den EU-Migrant_innen und Asylsuchenden aus Südosteuropa wirklich handelt. Die Ethnisierung der Migrant_innen und Asylsuchenden erfolgt allerdings nicht der bloßen Benennung willens, sondern um die Menschen als möglichst fremd darzustellen. Ständig schwingt die Aussage, sie seien anders als wir‘, mit. Bspw. findet man in einer Reportage der Jungen Freiheit über den Stadtteil Duisburg-Hochfeld (JF 45/2011, 7) zwischen der Darstellung von Diebstählen und der abschließenden Beschreibung der Untätigkeit der städtischen Behörden einen merkwürdig irrelevant erscheinenden Einschub, der dem Anschein nach einzig dazu benutzt wird, um sich noch nicht ausreichend angeführter Stereotype zu bedienen. So wird scheinbar völlig banal von spielenden Kindern berichtet, die sich nahe der Wohnung einer „Zigeuner-Großfamilie“ aufhalten, während laut „exotische Musik“ ertönt. In einem anderen Artikel wird ‚ihnen‘ sogar ganz direkt eine „verstörende Lebensart“ (JF 19/2013, 20) zugeschrieben. Diese und weitere vermeintliche Eigenschaften werden als ‚ihre‘ unveränderliche Kultur ausgegeben. Damit gelten ‚sie‘ als „unanpassungsfähig“ (JF 45/2011, 8), nicht integrierbar und als Bedrohung durch ‚Überfremdung‘. In der NPD Parteizeitung ‚Deutsche Stimme‘ wird die ‚steigende Armutsimmigration von Roma aus Südosteuropa‘ neben ‚Islamisierung‘ und Asylbewerberheimen als das „sichtbarste Zeichen der zunehmenden Überfremdung“ (DS 09/2013, 17) bezeichnet. Des Weiteren erfolgt die pauschalisierende Zuschreibung antiziganistischer Stereotype (‚Verdreckung‘ und ‚Kriminalität‘). ‚Pro NRW‘ behauptet z.B. auch, es gäbe eine spezifische „Zigeunerkriminalität“ (‚Pro NRW‘ November 2013). Die ‚Deutsche Stimme‘ verwendet in einem Artikel zu ‚Ausländerkriminalität‘ ein klischeehaftes Bild von ‚Zigeunern‘ mit der Beschriftung: „Problemgruppe Zigeuner: ‚Fast 50 Prozent aller Tatverdächtigen im Bereich Organisierte Kriminalität sind Nichtdeutsche‘“ (DS 08/2012, 12). Damit impliziert die ‚Deutsche Stimme’, ‚Zigeuner‘ könnten nicht Deutsch sein und stellt diese Gruppe als besonders problematisch dar.

Insgesamt wird die Darstellung ‚der Zigeuner‘ als Bedrohung gestützt, indem sie in verschiedenen thematischen Zusammenhängen mit äußerst negativen Attributen beschrieben werden. Dazu gehört u.a. die Zuschreibung, Krankheiten zu verbreiten (vgl. PI 15.07.2013) oder „Einbrecher“ und „Asyl-Anträge von Zigeunern“ (PI 11.01.2013) im selben Atemzug abzuhandeln.

Die zentrale Grundbehauptung im Diskurs um Asylsuchende und Migrant_innen aus Südosteuropa ist, dass diese mit ihrer fremden Lebensweise nach Deutschland kämen, um den Sozialstaat auszunutzen und sich die Lebensbedingungen der deutschen Mehrheitsgesellschaft durch ihre Anwesenheit zwangsläufig verschlechtern würden. Um diese Behauptungen zu unterstreichen erfolgen Zuschreibungen von Kriminalität und Verdreckung des Wohnumfeldes. Des Weiteren werden als ‚Zigeuner‘ stigmatisierte Menschen fälschlicherweise7 immer wieder mit Zuwanderung gleichgesetzt und damit das Stereotyp des Nomadentums gestützt. Diese Grundbehauptungen finden sich in folgender Aussage wieder: „Tatsächlich schleichen sich im Moment aber mit einfachsten Tricks hunderttausende vor allem ‚Rotationseuropäer‘ in unseren überschuldeten Städten in die Sozialsysteme.“ (PI 01.03.2013) Die hier als Synonym für ‚Zigeuner‘ verwendete Bezeichnung ‚Rotationseuropäer’ spielt auf das Stereotyp des Nomadentums an und „soll zum Ausdruck bringen, dass Menschen von EU-Land zu EU-Land ‚zögen‘, um von den jeweiligen Sozialleistungen zu profitieren“ (A. Friedrich 2013, 271). Der o.g. Satz enthält zugleich auch eine sehr direkte Unterstellung von Betrug und stellt die einheimische Bevölkerung als Opfer dar. Durch die Behauptung, es kämen ‚hunderttausende‘, wird die konstruierte Bedrohung dramatisiert und erzeugt damit Handlungsdruck. Diesen streben auch die (Wahlkampf-)Kampagnen der extremen Rechten an. Zur Bundestagswahl 2013 warb die NPD großflächig mit dem Slogan „Geld für Oma, statt für Sinti und Roma“, ‚Pro NRW‘ verbreitete ein Banner mit derselben Forderung im Internet (vgl. Killgus 2013, 105). Dabei wurden ‚Sinti und Roma“ gezielt ‚den Einheimischen‘ gegenübergestellt und das Thema Altersarmut unter Ausblendung älterer und/oder deutscher Sinti_ze und Rom_nija als Argumentationsvorwand gegen die Minderheit verwendet. Auch außerhalb offizieller Wahlkampf-Werbung findet man solche zugespitzten Aussagen. So hieß es bei PI-News, dass die Migration aus Südosteuropa „auf Kosten der Einheimischen [gehe], die absolut nichts von dieser Invasion haben, nur Ärger, Dreck und Kriminalität“ (PI 02.11.2013).

Die Dramatisierungen der Migrationsfolgen, die allgemein im Migrations- bzw. Asyldiskurs zu finden sind, werden dabei mit der Hilfe von Kollektivsymbolik verdeutlicht. Die metaphorische Verwendung von Kriegs- und (Natur-)Katastro-phenvokabular (z.B. ‚Invasion‘, ‚Flut‘, ‚Einwanderungsschleusen‘, ‚tickende Zeitbombe‘, ‚Lawine aus Überfremdung‘ u.ä.) erweckt den Eindruck, dass eine ernsthafte Bedrohung existiere, gegen die legitimer Widerstand zu leisten wäre. So spricht die ‚Deutsche Stimme‘ von einem härter werdenden „Kampf an der Überfremdungsfront“ (DS 11/2013, 1). Ähnliches findet sich in der ‚Jungen Freiheit‘ wieder, wenn dort behauptet wird, Frankreich habe „den Widerstand gegen die Zigeuner-Invasion längst aufgegeben“ (JF 23/2013, 3). Eine weitere zentrale metaphorische Figur bilden deutsche Großstädte als „El Dorado für Sozialschnorrer und Wohlstandsjäger aus Südosteuropa“ (DS 06/2013, 11). Dies soll suggerieren, dass die Migrant_innen aus Südosteuropa einzig mit dem Ziel nach Deutschland kämen, das deutsche Sozialsystem auszubeuten und vom ‚Goldrausch‘ zu profitieren. Über etwaige Verfolgungs- und Diskriminierungsstrukturen im Herkunftsland wird nicht reflektiert. Das „[V]erkommen“ (DS 06/2013, 11) deutscher Städte wird unmittelbar an die Migration gekoppelt. Die schlechten Lebensbedingungen vieler deutscher Bürger_innen seien verursacht durch die angeblich hohen Kosten, die Migrant_innen verursachen.

Mit südosteuropäischer Migration verbundene Bedrohungsszenarien von der Ausplünderung des Sozialsystems finden sich immer wieder in den Medien der extremen Rechten: „Massenhaft werden aus diesen beiden Staaten [Bulgarien und Rumänien, Anm. d. Verf.] eher die typischen Armutsflüchtlinge kommen, vor allem Zigeuner-Großfamilien, die ihr Glück im deutschen Sozialsystem suchen.“ (JF 15/2013, 2) „Spätestens nächstes Jahr geht es erst richtig rund: Dann nämlich werden Zuwanderer aus den Schengen-Ländern Rumänien und Bulgarien, bei denen es sich zum allergrößten Teil um Zigeuner handelt, per Gesetz den vollen Zugriff auf bundesdeutsche Sozialleistungen haben.“ (DS 04/2013, 1) Dies sind typische Äußerungen der extremen Rechten, die dazu dienen, Angst vor und Handlungsdruck gegen Migrant_innen zu erzeugen. Teilweise werden solche Äußerungen auch mit verschwörungstheoretischen Behauptungen unterstrichen. So wird in der Deutschen Stimme (vgl. 12/2012, 4) behauptet, die Anerkennung der deutschen Sinti_ze und Rom_nija als geschützte Minderheit in der Schleswig-Holsteinischen Verfassung im Jahr 2012 (die dänische und die friesische Minderheit werden ebenfalls geschützt), führe langfristig zu einer Übernahme des gesamten Landes durch Ausnutzung der Vorteile des Minderheitenwahlrechts und durch die Einwanderung weiterer Rom_nija aus dem offenen Schengen-Raum. Dieses realitätsfremde und verschwörungstheoretische Szenario beinhaltet zudem die Behauptung, die Gewährung von Minderheitenrechten sei eine Bedrohung für den Staat.

Die Behauptung einer vermeintlichen Bedrohung enthält eine in vielen Artikeln zu findende dichotome Täter-Opfer-Zuweisung, bei der der Staat und seine Mehrheitsbevölkerung als Opfer dargestellt werden, die unter ‚den Zigeunern‘ litten, die als ‚Parasiten‘ das deutsche Sozialsystem aussaugen würden.8 Während die südosteuropäischen Migrant_innen durch zahlreiche negative Zuschreibungen für die vermeintliche Verwahrlosung von Stadtteilen verantwortlich gemacht werden, gilt die angestammte Bevölkerung als Opfer dieser Umstände. Manchmal rückt der Stadtteil oder gar die ganze Stadt selbst in die Opferrolle. „Der Stadtteil Hochfeld leidet unter dem Zuzug von Zigeunern, die in verwahrlosten Schrott-Immobilien hausen“ (JF 45/2011, 7), heißt es z.B. in der ‚Jungen Freiheit‘. Diese metaphorisch menschliche Emotion auf einen Stadtteil zu projizieren, markiert, wie der Zuzug der Rom_nija nach Hochfeld auf die hiesigen Stadtteilbewohner_innen wirkt: der Bezirk sei durch ihre Anwesenheit weniger liebens- und bewohnenswert. Dieses Bedrohungsmuster entsteht vor dem Hintergrund der Annahme, dass ‚sie’ anders seien als ‚wir‘ und aufgrund ihrer biologischen und/oder kulturellen Eigenschaften auf Kosten der Anderen leben würden. Damit einhergehend erfolgt auch die Darstellung einer vermeintlich vormodernen primitiven ‚Zigeuner‘-Kultur als Gegensatz zu einer vermeintlich ‚aufgeklärten westlichen‘ bzw. ‚deutschen‘ Kultur. Dabei werden alle unterstellten negativen Verhaltensweisen von ‚ihnen‘ auf ‚ihre Kultur‘ und nicht als Gegebenheit äußerer Einflüsse, wie Armut, Diskriminierung bei der Arbeitssuche oder unzureichende Infrastruktur zurückgeführt. Diese Kulturalisierung und Ethnisierung des Sozialen spiegelt sich auch in den doppelten Standards bei der Benennung dieser Minderheit: Ihre Familien bezeichnet man zum Beispiel als ‚Sippen‘ oder ‚Clans‘ und straffällig gewordene Minderjährige als ‚Klau-Kids‘, während es keine vergleichbaren Bezeichnungen für Angehörige der Mehrheitsgesellschaft gibt. Des Weiteren dominiert eine stereotype Charakterisierung, bei der mit einer ethnisierenden Bezeichnung (sei es ‚Zigeuner‘, ‚Roma‘, ‚mobile ethnische Minderheit‘ usw.) vermeintlich alles gesagt sei, wodurch die Minderheit als eine homogene Masse dargestellt wird (vgl. End 2014, 32).

Zudem wird ökonomische Ausbeutung der als ‚Zigeuner‘ und ‚Armutsflüchtlinge‘ stigmatisierten Menschen, wenn überhaupt, äußerst verzerrt und als deren eigenes kulturelles Problem dargestellt. So schreibt PI-News in Bezugnahme auf den gleichnamigen Artikel des Fotografen Rolf Bauerdick in der WELT unter dem Titel „Wer ist schuld am Elend der Zigeuner?“, dass Rom_nija „hauptsächlich von den Angehörigen der eigenen Ethnie ausgebeutet“ (PI 26.03.2013) werden. Die Betonung der Ausbeutung durch die ,eigenen Leute‘ als etwas vermeintlich spezifisches für diese Minderheit bewirkt, dass die Mehrheitsgesellschaft Verantwortung für die Überausbeutung dieser Menschen durch deutsche Unternehmen als billige Arbeitskräfte von sich weisen kann, da hier anstelle der Analyse kapitalistischer Verhältnisse (vgl. Friedrich/Zimmermann 2015) erneut kulturalistische Erklärungen und Stereotype zu Tage treten.

Die Ethnisierung und Stereotypisierung der Menschen wird auf graphischer Ebene fortgeführt. Auffällig ist, dass zahlreiche Artikel mit klischeehafter Bebilderung versehen sind. Man findet wiederholt Abbildungen musizierender Männer, Frauen in langen Röcken, Wohnwagen und andere dem ‚Zigeunerbild‘ entsprechende Illustrationen. Gemäß dem Sprichwort „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte“ erfüllen solche Abbildungen die Funktion das stereotype ‚Zigeunerbild‘ in den Köpfen der Leser_innen abzurufen und zu bestätigen. Des Weiteren gibt es Abbildungen, die bewusst so platziert werden, dass sie bei den Betrachter_innen Ängste hervorrufen. Zum Beispiel zeigt die Deutsche Stimme auf der Titelseite (DS 03/2013) eine Schlange von Menschen, die fast alle den Betrachter_innen fordernd in die Augen starren. In dem zugehörigen Artikel geht es um die Migration aus Bulgarien und Rumänien, die als „neue Massenzuwanderung“ betitelt wird. Im Artikel werden die Menschen als „Wohlstandsflüchtlinge“ bezeichnet. Direkt unter der Abbildung fordert die NPD: „Was jetzt passieren muß: Asylbetrüger und Kriminelle rigoros abschieben, Sozialleistungen kürzen, Grenzkontrollen wieder einführen!“ und suggeriert damit, ohne die Umsetzung drastischer Maßnahmen kämen Massen von fordernden Menschen nach Deutschland.

Ähnliche Handlungsanweisungen findet man auch in anderen Publikationen der extremen Rechten, wobei es da strömungsabhängige Unterschiede gibt. PI-News und ‚Freie Kameradschaften‘ begrüßen Bürgerwehren und Selbstjustiz, während die NPD immer wieder appelliert sie zu wählen, damit Abschiebungen usw. durchgesetzt werden können. Dieser Unterschied ist allerdings kein ideologischer, sondern kann mit dem Versuch der NPD sich verfassungskonform zu geben erklärt werden. Geht es nämlich um die Verwendung des ‚Zigeuner‘-Begriffs, sowie dessen inhaltliche Ausfüllung, so ist diese bis auf gewisse unterschiedliche Akzentuierungen fast einheitlich. Die ‚Deutsche Stimme‘ und PI-News hetzen meist offener gegen als ‚Zigeuner‘ stigmatisierte Menschen, während sich die ‚Junge Freiheit‘ in erster Linie mit der Konstruktion von Bedrohungsszenarien und für die deutsche Bevölkerung vermeintlich relevanten Problemdiagnosen beschäftigt. Die ‚Junge Freiheit‘, die ‚Deutsche Stimme‘ sowie die Neonazis der ‚Freien Kameradschaften‘ und deren parteipolitische Manifestation ‚Die Rechte‘ verwenden den Begriff ‚Zigeuner‘ erstaunlicherweise relativ inkonsistent. Wenn sie von ‚Sinti und Roma‘ sprechen, tun sie dies aber auf dieselbe rassistische und abwertende Weise. PI-News verwendet hingegen fast ausschließlich den ‚Zigeuner‘-Begriff und nutzt die Selbstbezeichnungen der Minderheit ‚Sinti‘ oder ‚Roma‘ meist nur in einer spöttischen Art und Weise im Kontext der Debatte um ‚Political Correctness‘. Besonders interessant ist, dass sich die Vertreter_innen unterschiedlicher extrem rechter Strömungen trotz zahlreicher inhaltlicher und taktischer Unterschiede, die z.B. bei der Bewertung des Staates Israel zu Tage kommen, in Bezug auf die Diskriminierung von als ‚Zigeuner‘ Stigmatisierten einig sind.

Extreme Rechte und Migration – Das Beispiel Duisburg

Die Duisburger extreme Rechte greift das Thema Migration aus Südosteuropa etwa seit dem Jahr 2013 auf und beruft sich dabei gerne auf die Berichterstattung der etablierten Medien. So schreibt die NPD: „Mit großer Sorge beobachten die System- und Gutmenschenschreiberlinge das Geschehen insbesondere in den beiden westdeutschen Städten Duisburg und Dortmund.“ (NPD 31.10.2013) Durch die etablierten Medien geschaffene Begriffe wie „Problemhaus“ bzw. „Romahaus“ (WAZ) oder „Haus des Schreckens“ (Spiegel-Online 06.12.2012) werden bei der NPD zum „Zigeuner-Horrorhaus“ (NPD 15.11.2013) verschärft, während ‚Pro NRW‘ sich bei einem Rundgang durch Duisburg-Hochfeld „die Problemhäuser von Morgen“ (‚Pro NRW‘ Februar 2014) einbildet. Für ‚Pro NRW‘ stellt die Migration aus Südosteuropa ab 2013 in Duisburg das zentrale Betätigungsthema dar. In dem im Januar 2014 vom Duisburger Kreisverband veröffentlichten Jahresrückblick 2013 (vgl. ‚Pro NRW‘ Januar 2014a+b) steht die Hälfte aller Ereignisse im Zusammenhang mit diesem Thema. Generell zeigt auch die Anzahl ihrer Kundgebungen in Duisburg im Jahr 2013, als auch in der Anzahl der Artikel auf der Webseite des Duisburger Kreisverbandes, dass ‚Pro NRW‘ versuchte, Profit aus diesem Thema zu schlagen.

Die Grundbehauptungen von ‚Pro NRW‘ unterscheiden sich nicht von denen der NPD. Die Statements beider Parteien sind von einer Problematisierung, Ethnisierung und Kriminalisierung der Migrant_innen aus Südosteuropa durchzogen. „Tag für Tag steigt die Sinti- und Roma Problematik“, schreibt die NPD und fordert im selben Artikel: „Zigeuner- und Asylflut stoppen!“ (NPD 04.02.2014) Auf der Webseite des Duisburger NPD-Kreisverbandes werden in einem vom Landespressesprecher verfassten Artikel Duisburg, Dortmund und Essen als „Hochburgen von Straftaten“ und gleichzeitig auch als „Ausländer- und Zigeunerhochburgen in NRW“ bezeichnet. (NPD 12.11.2013) Auch ‚Pro NRW‘ beruft sich auf den Kriminalitätsbericht der Polizei und behauptet, durch die EU-Mitgliedschaft von Bulgarien und Rumänien kämen „Gauner, Bettler und Banditen“ (‚Pro NRW‘ März 2014) nach Duisburg. Mit solchen Aussagen knüpft die extreme Rechte sowohl an den Kriminalitäts-, als auch an den Nützlichkeitsdiskurs an. Ein Beispiel dafür wäre auch die ironische Umdeutung des Diskurses um Fachkräftemangel durch die NPD: „Sehr gut von ihren älteren Geschwistern, Eltern und anderen familiären Fachkräften ausgebildet, handeln unzählige Zigeunerkinder aus dem Zigeuner-Horrorhaus ‚In den Peschen in Rheinhausen bereits in jungen Jahren äußerst kriminell.“ (NPD 15.11.2013)

In anderen Artikeln beklagt sich die NPD, dass bereits gebeutelte und überschuldete Städte wie Duisburg und Dortmund nun einer zusätzlichen Belastung durch „unkontrollierbare […] Asylanten- und Sinti- und Roma-Zuströme“ (NPD 31.10.2013) ausgesetzt seien. Neben der sachlich falschen Vermischung und Gleichsetzung von zwei rechtlich unterschiedlichen Migrationsbewegungen, werden diese von der NPD auch in die Täterrolle gedrückt, während die Städte bzw. ihre angestammte Bevölkerung als Opfer der Migration gelten. So berichtet die NPD, über „geplagte Anwohner“ bzw. „Rheinhausener rund um das bekannte Problemhaus im Stadtteil“, die auf einer Bürgerversammlung „über die durch Zigeuner herrschenden misslichen Lebensumstände beratschlagten“. (NPD 29.08.13) Auch ‚Pro NRW‘ argumentiert mit einer Belastung der Städte und stellt diese dabei als Opfer der Zuwanderung von Asylsuchenden dar. Der Kreisverband stellt die Aufnahme von Asylsuchenden auf eine Stufe mit einer Katastrophe, wenn er von einer „schier unglaublichen Dimensionen des Asylantenansturms“ (‚Pro NRW‘ Februar 2014) spricht, im selben Artikel von explodierenden Kosten schreibt und einen anderen Artikel mit den Worten „Asylantenzahlen explodieren“ (‚Pro NRW‘ 11.07.2014) betitelt. Als Konsequenz fordert ‚Pro NRW‘ „Die Aufnahme Quote [sic!] für Asylanten für Duisburg, als von der Armutszuwanderung schwer gebeutelte Kommune“ (‚Pro NRW‘ Juli 2014) deutlich zu senken.

Insgesamt finden sich in der Argumentationsweise rechtspopulistische und verschwörungstheoretische Elemente, wenn ‚Pro NRW‘ etwa einen Artikel u.a. mit den Worten „Unsere ‚Eliten’ locken Bettler und Banditen!“ betiteln und beenden. Die Opposition Volk vs. Elite gilt als Kennzeichen des Populismus und wird an dieser Stelle von ‚Pro NRW‘ dazu genutzt die etablierten Parteien für vermeintliche Missstände verantwortlich zu machen und gleichzeitig sich selbst als die Lösung anzubieten in dem direkt nach der ersten Aussage zur Wahl von ‚Pro NRW‘ aufgefordert wird.

Seit dem Frühjahr 2013, also kurz nach der ersten Kundgebung von ‚Pro NRW‘ in Rheinhausen-Bergheim, hat der ‚Nationale Widerstand Duisburg‘
(NWDU) begonnen, Artikel zum Thema Migration aus Südosteuropa zu veröffentlichen.

In der Artikelserie ‚Duisburger Zustände‘ greift die Gruppe Themen aus der Lokalpresse auf, um die Leser_innen ähnlich wie ‚Pro NRW‘ und NPD durch Problematisierung, Ethnisierung und Kriminalisierung der Migrant_innen gegen diese aufzuhetzen. Die dabei (re)produzierten Ressentiments unterscheiden sich inhaltlich nicht von denen der Parteien, werden an einigen Stellen aber drastischer formuliert. Wie NPD und ‚Pro NRW‘ sieht auch der NWDU die aus Bulgarien und Rumänien nach Duisburg migrierten Menschen als Problem und Belastung für die Stadt, bezeichnet ihre Anwesenheit gar als „kriminellen Terror des Wandervolkes aus Rumänien und Bulgarien“ (NWDU 20.08.2013). Dabei erfolgt neben der Bedienung des Stereotyps des Nomadentums auch eine extreme Verschärfung des Kriminalität-Stereotyps durch das Kollektivsymbol des ‚Terrors. Im selben Artikel heißt es, da die Stadt selbst nichts dagegen tue und auch Polizei und Staatsanwaltschaft nichts unternähmen, sei es nur berechtigt, wenn Bürger_innen sich des Problems selbst annehmen (vgl. NWDU 20.08.2013). Besonders deutlich wird diese Argumentationslinie im folgenden Zitat:

Polizeieinsätze am von Zigeunern bewohnten Problemhaus, sowie kriminelle Handlungen durch Zigeuner, die etwa alten Frauen beim Bankautomaten auflauern oder Kindern ihr Fahrrad stehlen, reißen nicht ab. Da diesen Zuständen weder durch Stadt noch Polizei Einhalt geboten wird, sind die zwingenden Konsequenzen Bürger, die ihren Zorn über besagte Zustände Luft machen.“ (NWDU 14.08.2013)

Hier erfolgt zunächst eine Dramatisierung der Umstände mit der Behauptung die Kriminalität reiße nicht ab, verbunden mit einer klaren rassistischen Täterzuweisung. Gleichzeitig werden die Opfer als schwache und schutzbedürftige Subjekte (alte Frauen, Kinder) beschrieben. Die Wut der Bürger_innen wird als zwingende Konsequenz der dargestellten ‚Zustände‘ und der unterstellten Untätigkeit von Polizei und Stadtverwaltung als Autoritäten ausgemacht.

Jeglicher Protest aus der Bevölkerung wird befürwortet, glorifiziert und legitimiert, seien es xenophobe Schmierereien an Wänden, Demonstrationen oder gar Morddrohungen. So schreibt der NWDU in Bezug auf im August 2013 auf Facebook veröffentlichte Kommentare das Haus In den Peschen 3-5 anzuzünden:

Die angeheizte Stimmung ist Resultat verachtenswerter und untragbarer Zustände. Eine Abneigung gegen diese ist verständlich und natürlich.“ (NWDU 14.08.2013)

Ohne, dass die Neonazis konkrete Aufforderungen zu veröffentlichen brauchen, werden die Leser_innen durch sich immer wiederholende Darstellungen ‚der Deutschen‘ als Leidtragende der Einwanderung und durch die Legitimierung und Bestärkung bisheriger rassistischer Taten zu Neuen angestachelt. In einem Artikel über die Pläne der Stadt, neue Unterkünfte für Asylsuchende zu errichten, veröffentlicht der NWDU die Adressen dieser Unterkünfte. Zuvor heißt es im Text „obwohl die Stadt nicht einmal mit den zugewanderten Zigeunern in Duisburg klarkommt! Nach wie vor ist die Sicherheit der eigenen Bürger in Gefahr […] Und wir haben das Recht unsere Interessen durchzusetzen“ (NWDU 19.10.2013). Auch in weiteren Artikeln suggeriert die Gruppe, dass jegliche Maßnahmen für Asylsuchende sich gleichzeitig negativ auf deutsche Bürger_innen auswirken würden (vgl. NWDU 25.10.2013).

Auffällig ist, dass die Neonazi-Gruppe nicht ihre eigenen Taten glorifiziert, wie sie es in der Vergangenheit oft getan hat, sondern sich voll und ganz auf die Rolle der Beobachter_innen und Unterstützer_innen der Bürger_innen konzentriert, frei nach dem Motto: ‚Wir haben es schon immer gewusst, jetzt hat der Rest es auch verstanden und tut endlich etwas für unser Wohlergehen.‘

Während sich die Artikel im Sommer und Herbst 2013 im Kontext der rassistischen Proteste in Duisburg-Rheinhausen und Neumühl bewegten, griff der NWDU zum Jahreswechsel das in den etablierten Medien groß diskutierte Thema der Freizügigkeit auf:

Als wären die Fremden aus arabisch-muslimischen Kreisen nicht genug an Ausländer [sic!], dürfen wir Duisburger für das Jahr 2014 über 4000 neue Einwanderer aus Rümanien [sic!] und Bulgarien erwarten. Nach Schwafeleien hochrangiger Politik- und Gesellschaftsvertreter handelt es sich bei diesen selbstverständlich fast ausnahmelos [sic!] um ausgezeichnet ausgeblildete [sic!] Fachleute, nur wir Duisburg [sic!] hätten das Glück, den unqualifierten [sic!], ungelernten Teil (mit ziemlicher Sicherheit also Zigeuner) in Empfang zu neh-
men.“ (NWDU 20.01.2014)

In dem kurzen Zitat verschränken sich Rassismus, Antiziganismus und der vom NWDU sarkastisch unterfütterte Nützlichkeitsdiskurs. Außerdem berufen sich die Autor_innen auf in der WAZ publizierte Prognosen („4000 neue Einwanderer“) und schreiben im weiteren Verlauf des Artikels, dass „selbst Duisburgs Oberbürgermeister Sören Link […] bereits zu dem Eingeständis [sic!] gekommen“ sei, dass „diese Art massiver Einwanderung erhebliche Probleme“ mit sich bringe.

Als Lösung zieht der NWDU entsprechend seinem rassistischen Weltbild, nach dem es kein friedliches Zusammenleben mit ‚Zigeunern‘ geben könne, nur eine Abschiebung der eingewanderten Menschen in Betracht, die mit dem im neonazistischen Sprachgebrauch üblichen Begriff „Rückführung“ bezeichnet wird:

Eine Aufteilung der Zigeuner aufs Stadtgebiet würde die Probleme zwar abschwächen, nicht aber auflösen, sondern nur verteilen. […] Was bundesdeutsche Politiker nicht in Erwägung ziehen ist die Rückführung der Zigeuner in ihre Heimat bzw. in Zusammenarbeit mit der EU die Schaffung besserer Verhältnisse vor Ort. Die miserablen Verhätnisse [sic!] in ihren Heimatländern bewegen die Zigeuner erst massenweise nach Deutschland zu kommen.“ (NWDU 27.08.2013)

Gleichzeitig übernimmt der NWDU erstaunlicherweise den vorherrschenden Diskurs um Fluchtgründe und ihre Beseitigung durch die Verbesserung der Lebensbedingungen in den Herkunftsländern und spricht ‚den Zigeunern‘ sogar eine „Heimat“ zu, die sie im neonazistischen und ethnopluralistischen Weltbild sonst nicht besitzen (vgl. Kapitel: Stellenwert von Antiziganismus im extrem rechten Ideologiegebäude). Der NWDU fährt in seinem Artikel mit dem Satz „Doch sind wir Deutschen nicht in der Pflicht das Armenhaus der Welt zu spielen.“ fort und steht damit inhaltlich in einer Reihe mit NPD, ‚Pro NRW‘ und AfD, die im Wahlkampf 2014 einen ähnlichen Slogan auf ihren Wahlplakaten präsentierten.

Zwischenfazit

Zusammenfassend kann man feststellen, dass die extrem rechten Akteur_innen in ihren Publikationen an den vorherrschenden medialen und politischen Diskurs anknüpfen und diesen dramatisieren, wobei sie strategisch ausgrenzende Aussagen etablierter Politiker_innen und Medien nutzen, um ihre eigene Position zu legitimieren. Zeitgleich geben sie den etablierten Parteien die Schuld für die Einwanderung und die laut ihrem extrem rechten Weltbild damit verbundenen Nachteile für die deutsche Mehrheitsgesellschaft. Manchmal wird ‚den Herrschenden‘ gar ein geheimer Plan zur Zerstörung Deutschlands durch Einwanderung unterstellt. Mit dieser Verschwörungstheorie legitimieren sie jeglichen Widerstand gegen die Migration, sei es von südosteuropäischen EU-Bürger_innen oder von Asylsuchenden generell. Neben Abschiebungen, Abschaffung des Rechts auf Asyl und der Schließung von Grenzen werden auch Selbstjustiz und Bürgerwehren als Lösungsoption angeboten. Die extreme Rechte erzeugt einen gefährlichen Handlungsdruck, da aufgrund der propagierten Vorstellung, man befinde sich im Krieg gegen die ‚Zigeuner-Invasion‘, jegliche Mittel legitim erscheinen. Das Ganze läuft vor dem Hintergrund eines rassistischen Weltbildes ab, in dem es kein Zusammenleben mit Menschen, denen eine abweichende, fremde Kultur zugeschrieben wird, geben könne, da diese aufgrund ihrer Kultur unfähig und unwillig seien, sich in die Gesellschaft einzufügen und deshalb aus der Gesellschaft herausgehalten werden müssten – und zwar mit allen Mitteln.

Benzin ins Feuer giessen.
Das Agieren der extremen Rechten
in Duisburg

Von Martin Dietzsch

In diesem Kapitel wird es darum gehen, wie die organisierte extreme Rechte die in der Duisburger Bevölkerung weit verbreitete negative Stimmung gegen
Migrant_innen aus Südosteuropa aufnahm, für sich zu nutzen versuchte und wie sie gleichzeitig den Konflikt aktiv weiter zugespitzt hat.

Bürgerkrieg auf kleiner Flamme“

In der Publizistik und Propaganda der deutschen extremen Rechten gilt Duisburg schon seit vielen Jahren als ein Ort des Schreckens. Der hohe Bevölkerungsanteil von Migrant_innen und ihrer Nachkommen in den Duisburger Stadtteilen Marxloh und Hochfeld wird als gewaltsame ausländische Invasion geschildert, als „Bürgerkrieg auf kleiner Flamme“. Die wenigen verbliebenen ‚Deutschen‘ befänden sich in einer „Ghettosituation“. Die extrem rechte Zeitschrift Nation & Europa titelte beispielsweise im September 2008: „Szenen aus Duisburg-Marxloh: So leben die letzten Deutschen“. Der Tenor vieler Artikel ging in die Richtung, der Kampf sei in Duisburg bereits so gut wie verloren, ebenso in Berlin Kreuzberg und Neukölln. Da die Politik nicht handle, müssten die Deutschen nun in Notwehr zur Selbsthilfe greifen.

In dieser rechten Propaganda wurde das auch in vielen überregionalen etablierten Medien verbreitete Negativimage Duisburgs übersteigert rezipiert. Das Ganze wurde aber gleichzeitig zu einem Bürgerkriegs-Szenario zugespitzt. Als Feind_innen wurden die Migrant_innen und ihrer Nachkommen insbesondere aus der Türkei und aus arabischen Staaten ausgemacht, gleichgültig, ob sie die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen oder nicht. Feind_innen sind in dieser Weltsicht aber vor allem auch alle Konservativen, Liberalen, Demokraten und Linke, die die Einwanderung in irgendeiner Form befürworten oder fördern. Gefordert werden eine drastische Reduktion oder ein Stopp jeder Einwanderung und eine teilweise oder vollständige Ausweisung von Menschen ohne deutsche Abstammung. Die Menschen mit deutschen Vorfahren sollen gleichzeitig dazu gebracht werden, das vermeintlich ‚fremde‘ aus ihrem Inneren auszustoßen: ‚fremde‘ Kultur und ‚fremde‘ Weltanschauung. Da die Politiker_innen nicht willens oder fähig seien, ethnische Homogenität und ‚Volksgemeinschaft‘ zu erzwingen, bedürfe es einer grundlegenden Änderung oder gar eines völligen Sturzes des ‚Systems‘ und die Errichtung einer mehr oder weniger offen diktatorischen Staatsform.

Buntes Duisburg versus graue deutsche Volksgemeinschaft

Die Akzeptanz solcher radikaler rechter Positionen in der breiten Bevölkerung in Duisburg war und ist allerdings begrenzt. Durch Erfahrungen im Alltag und am Arbeitsplatz und durch zahlreiche multinationale Ehen und Partnerschaften sind viele Duisburger_innen gegen eine solche plumpe und radikale Ablehnung alles vermeintlich Fremden gefeit. In Bezug auf Rom_nija gilt dies allerdings nicht. Offen rassistische Positionen gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe sind in Duisburg mehrheitsfähig – dies gilt übrigens auch für die Duisburger_innen mit Migrationshintergrund. Außerdem muss davon ausgegangen werden, dass mildere Formen des Alltagsrassismus nach wie vor sehr weit verbreitet sind und dass es auch in Duisburg eine starke Minderheit gibt, die über ein geschlossenes extrem rechtes Weltbild verfügt.

Bei Wahlen erzielten extrem rechte Parteien in Duisburg ohne besondere Wahlkampfanstrengungen immer wieder Ergebnisse, die über dem Durchschnitt ähnlicher Städte im Westen der Bundesrepublik lagen, gleichgültig, welche der konkurrierenden rechten Parteien zur jeweiligen Wahl gerade antrat. Bis 2012 war es der extremen Rechten in Duisburg aber nicht gelungen, ihr vorhandenes Sympathisant_innenpotenzial zur Rekrutierung neuer Mitglieder und Aktivist_innen zu nutzen und funktionierende, aktive Organisationsstrukturen vor Ort aufzubauen. Die Kreisverbände der rechten Parteien existierten bis zu diesem Zeitpunkt nur auf dem Papier. Auch die militanten Neonazis und rechten Hooligans waren in Duisburg erheblich schwächer aufgestellt als ihre Kamerad_innen in Dortmund, Aachen oder Wuppertal und waren oft nicht in Duisburg, sondern auf ‚Auswärtsspielen‘ in den Nachbarstädten aktiv.

Zwar fanden ab 2010 eine Reihe von Kundgebungen vor allem von ‚Pro NRW‘ in Duisburg statt, die sich überwiegend gegen die DITIB-Moschee in Marxloh richteten, es gelang ihnen aber nicht, in Duisburg einen Moscheebau-Konflikt ähnlich wie in Köln anzuzetteln. Die von den Landesverbänden von ‚Pro NRW‘ und NPD organisierten Aktionen hatten nur eine geringe Teilnehmer_innenzahl und fanden kein nennenswertes Echo in der Duisburger Bevölkerung. Diese Kampagne erwies sich eindeutig als Misserfolg.

Erst seit Ende 2012 und im Laufe des Jahres 2013 erkannten beide extrem rechten Parteien, dass aufgrund der Debatte um ‚Armutszuwanderung‘ die Rahmenbedingungen in Duisburg sich für sie erheblich verbessert hatten und dass es für sie erfolgversprechend war, diese Thematik in den Mittelpunkt zu rücken. Im Folgenden wollen wir die Entwicklung in groben Zügen nachvollziehen.

Neue Menschen in der Ankunftsstadt

Seit dem EU-Beitritt von Rumänien und Bulgarien 2007 machen einige Bürger_innen dieser Länder von ihrem Recht Gebrauch, sich in Duisburg niederzulassen. Per Saldo handelte es sich in den ersten zwei Jahren um knapp 500 Migrant_innen, seit 2009 kommen jährlich etwa 1000 hinzu. In Duisburg lebten Ende 2014 488.000 Menschen, trotz der Migration aus Südosteuropa verringerte sich die Einwohner_innenzahl Duisburgs seit 2007 um mehr als 10.000 Personen.

Duisburg ist eine Ankunftsstadt, so wie sie der Journalist Doug Saunders in seinem Buch ‚Arrival City‘ (Saunders 2013) beschrieben hat. Die Stadt stellt sich zwar in Bezug auf die Vergangenheit gern als Integrationsweltmeisterin dar, Neuankömmlingen zeigt sie aber oft die kalte Schulter, sofern sie nicht hochqualifiziert oder wohlhabend sind. Die neuen Duisburger_innen aus Rumänien und Bulgarien wurden in den ersten Jahren weitgehend ignoriert und sich selbst überlassen. Die allermeisten kamen, um zu bleiben. Sie wurden aber behandelt als ungebetene Gäste, die möglichst schnell verschwinden sollen. Ihre Probleme, sich in der neuen Heimat zurechtzufinden, Probleme mit ausbeuterischen Vermieter_innen und Arbeitgeber_innen, Probleme mit Behörden, Gesundheits- und Schulsystem und mangelnde Deutschkenntnisse waren Privatsache. Viele waren gezwungen, unter äußerst prekären Bedingungen auf engstem Raum zu überteuerten Mieten in Wohnungen zu leben, die seit vielen Jahren als unvermietbar galten. Überbelegung, mangelnde sanitäre Anlagen und mangelnde Müllentsorgung führten in vielen Fällen zu Konflikten mit der Nachbarschaft.

Ähnliches hat Duisburg mit früheren Einwander_innen auch schon in der Vergangenheit erlebt. Doch etwas ist dieses Mal anders. Viele der Migrant_innen aus Südosteuropa verstehen sich als Rom_nija. Andere sehen sich als türkischsprachige Bulgar_innen oder einfach als Rumän_innen oder Bulgar_innen. Solche Differenzierungen spielen in der öffentlichen Wahrnehmung aber keine Rolle. Bei der massiven Ablehnung der Migrant_innen aus Südosteuropa haben wir es nicht mit ‚gewöhnlicher‘ Fremdenfeindlichkeit zu tun, sondern mit der oben bereits beschriebenen aggressiven und im kollektiven Bewusstsein besonders tiefsitzenden Form des Rassismus, dem Antiziganismus (siehe Kapitel 2). Gegenüber wirklichen oder vermeintlichen Rom_nija gelten normale Spielregeln nicht. Sie werden automatisch wahrgenommen als ‚unzivilisierte Nomaden‘, deren Armut und Diskriminierung selbst verschuldet sei und die unvereinbar seien mit der hiesigen Normalität.

Ein Wohnblock in Rheinhausen-Bergheim

Die Migration aus Südosteuropa nach Duisburg wurde zum ersten Mal ab 2011 von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen, als eine Vereinigung Hochfelder Immobilienbesitzer den vermeintlichen Niedergang des Stadtteils anprangerte und als Ursache Rumän_innen und Bulgar_innen ausmachte.

Ende 2011 legte die Stadt ein „Handlungskonzept zum Umgang mit der Zuwanderung von Menschen aus Südost-Europa“ (Stadt Duisburg 2011) vor, dessen Realisierung dann aber bedingt durch die Finanzlage der Stadt stark eingeschränkt wurde.

In den Blickpunkt – auch der überregionalen – Öffentlichkeit rückten dann aber nicht die Stadtteile Hochfeld, Bruckhausen und Marxloh, in denen sich die meisten Migrant_innen aus Südosteuropa angesiedelt hatten, sondern Rheinhausen-Bergheim. Dort gehört einem Duisburger mit Verbindungen zum Rotlichtmilieu ein heruntergekommener sechsstöckiger Wohnblock. Ab Februar 2012 wurden dort immer mehr Wohnungen an Migrant_innen aus Rumänien vermietet. Der Mietpreis war überhöht und wurde in bar kassiert, es gab erhebliche Mängel bei der Müllentsorgung und bei Reparaturen der Infrastruktur des Hauses.

Drohung mit einem „zweiten Rostock-Lichtenhagen“

In der Nachbarschaft des Wohnblocks befinden sich kleinbürgerliche Einfamilienhäuser. Die meisten Anwohner_innen nahmen Anstoß an ihren neuen Nachbar_innen. Ende August 2012 verfassten vier Wortführer_innen einen Offenen Brief an den Duisburger Oberbürgermeister, in dem sie forderten, „den Zuzug der süd-ost-europäischen Zuwanderer zu stoppen“ und die im Wohnblock in ihrer Nachbarschaft „untergekommenen süd-ost-europäischen Zuwanderer umzusiedeln“. Den Verfasser_innen ging es nicht um die Lösung ihrer Alltagsprobleme, sie fordern kategorisch die ‚Umsiedelung‘9.

Begründet wurde diese radikale Forderung kulturrassistisch mit vermeintlich unveränderlichen Eigenschaften bedingt durch ethnische Herkunft:

Die Zuwanderer aus dem süd-ost-europäischen Raum können aufgrund ihrer Mentalität und Lebensart nicht bei uns integriert werden, da sie konträr zu den Gepflogenheiten der Bürger unseres Landes stehen.“

Bis zu diesem Zeitpunkt gab es keine nennenswerte Instrumentalisierung des Themas durch die extreme Rechte in Duisburg. Durch Abgrenzung von den Personen der ‚Rechten Szene‘, wohlgemerkt nicht von deren Inhalten, positionieren sich die Autor_innen vorbeugend in der Mitte. Gleichzeitig dient aber die Drohung mit der ‚Rechte Szene‘ als Druckmittel für die schnelle Erfüllung der Forderungen.

Wobei wir meinen, dass die Lösung unserer Probleme schnellstmöglich umgesetzt werden sollte, da wir die Befürchtung haben, dass die Rechte Szene populistischen Nutzen aus dieser Situation zu ziehen versucht und wir als Bürger zwischen die Fronten geraten. […] Ferner möchten wir kein zweites Rostock-Lichtenhagen in unserem Stadtbezirk.”

In Rostock-Lichtenhagen klatschten die anständigen Bürger_innen aus der Mitte begeistert Beifall, als ein Mob aus Jugendlichen und Neonazis im August 1992 ein bewohntes Haus anzündete.

Den Offenen Brief unterschrieben etwa 300 Anwohner_innen.

Anfang Oktober 2012 verteilten die Wortführer_innen Flugblätter vor dem Rathaus mit der Überschrift „Raus mit den Zigeunern“ (Der Westen 03.10.2012).

Die Aktionen der Anwohner_innen stießen auf keine öffentliche Kritik, wie es mit Sicherheit der Fall gewesen wäre, wenn sie sich gegen eine beliebige andere Minderheit gerichtet hätten. Ab diesem Zeitpunkt gab es ein immer stärker werdendes Medienecho, und die Wortführer_innen wurden schließlich sogar gefragte Interviewpartner und Gäste in Talkshows. Der Wohnblock in Rheinhausen-Bergheim hieß von nun an in allen Medien nur noch ‚Das Problemhaus‘. Eine Vielzahl von Artikeln thematisierte Schmutz, Müll, Kriminalität, Ruhestörung und Belästigung und solidarisierte sich mit den Anwohner_innen.

Pro NRW‘ entdeckt die „Roma-Problematik“

Für die extreme Rechte waren vermutlich erst dieses Medienecho, das rabiate Auftreten der bis dahin politisch unverdächtigen Anwohner_innen und deren hohe Akzeptanz in der Stadtgesellschaft der Auslöser, sich des Themas anzunehmen und durch überregionale Hilfe funktionierende Organisationsstrukturen in Duisburg aufzubauen.

Die Partei ‚Pro NRW‘ stellte im Oktober 2012 ihre Propaganda um. Neben ‚Asylmissbrauch‘ und ‚Islamisierung‘ wurde von nun an auch die ‚Roma-Problematik‘ regelmäßig thematisiert. So z.B. in einer Presseerklärung am 22.10.2012:

2008 waren Roma in Duisburg – Bruckhausen noch mit einer Politik der kleinen Nadelstiche vertrieben worden. Die WAZ berichtete im August 2008: ‚ERFOLGREICHE KONTROLLEN RUND UM DIE UHR Aufatmen in Bruckhausen: Die Sinti und Roma, die seit Wochen in Scharen heruntergekommene Wohnungen bevölkert oder in Autos übernachtet hatten (die WAZ berichtete), sind weg.‘ Warum geht dass, was damals ging, heute anscheinend nicht mehr? Fehlt bei Politik und Verwaltung etwa der Wille zum Durchgreifen? Die Bürgerbewegung PRO NRW ist die einzige Partei in Nordrhein-Westfalen, die die verlogene politische Korrektheit bekämpft und auch unangenehme Dinge wie die Roma-Prpblematik [sic!] beim Namen nennt!“ (‚Pro NRW‘ 22.10.2012)

Auch die NPD legte von nun an einen Focus auf Duisburg. Sie führte dort Ende September 2012 ihren Landesparteitag durch, und Anfang Februar 2013 wurde der seit mehreren Jahren nicht mehr existierende Kreisverband Duisburg der NPD neu gegründet.

Der Kreisverband ist mit der heutigen Jahreshauptversammlung und anschließenden Wahlkreisversammlung wider [sic!] als voll handlungsfähig anzusehen. Möglich wurde die organisatorische Weiterentwicklung auch durch den großen Zuspruch unserer Partei seit Monaten, angesichts des Zuzuges aus Rumänien und Bulgarien in unsere Stadt.“ (NPD 07.02.2013)

Rechte Kundgebungsserie

Neben Presseerklärungen, Internet-Propaganda in sozialen Netzwerken, Aufklebern und Flugblättern nutzten ‚Pro NRW‘ und NPD in Duisburg von nun an vor allem auch das Mittel der Kundgebungen und Demonstrationen.

Im März 2013 führte ‚Pro NRW‘ eine landesweite Kundgebungsserie durch, bei der ein Kleinbus mit einer Handvoll Aktivist_innen durch NRW reiste und jeweils zwei Kundgebungen am Tag durchführte. Obwohl das Thema dieser Tournee vermeintlicher „Asylmissbrauch“ war, wurde Rheinhausen-Bergheim am 12.03.2013 mit einbezogen.

Hier werden wir zwar vor keinem Asylantenheim protestieren, sondern vor einem Gebäude, dass [sic!] hauptsächlich von Sinti [!] und Roma bewohnt wird. Dieser Wohnblock im Stadtteil Rheinhausen-Bergheim zeigt deutlich, wie das Leben für die einheimische Bevölkerung verändern kann [sic!]. Gewalt, Vandalismus, Vermüllung, Ruhestörung. So sieht hier der Alltag rund um das von manchen Anwohnern als „Zigeunerhochhaus“ benannten Gebäudes [sic!] aus.“ (‚Pro NRW‘ 18.02.2013)

Auf dieser Tournee prägte der damalige ‚Pro NRW‘-Vize Jörg Uckermann die Parole „Geld für die Oma, statt für Sinti und Roma!“. Die konkurrierende NPD kaperte später diese Parole und verwendet sie als Flugblatt-, Aufkleber- und Plakatmotiv.

Die ‚Pro NRW‘ Kundgebungen vor dem Wohnblock in Rheinhausen-Bergheim (insgesamt gab es fünf: 12.03.2013, 29.08.2013 [Pro Deutschland], 05.10.2013, 09.11.2013, 07.12.2013) liefen meist nach demselben Schema ab. Der Termin wurde langfristig angekündigt. Die wenigen ‚Pro NRW‘ Aktivist_innen blieben fast vollkommen unter sich. In einem von der Polizei mit Gittern abgesperrten Bereich versammelten sich ca. 30 bis 50 Personen. Dort wurden über Lautsprecher Reden verlesen, und nach ca. einer Stunde war der Spuk vorbei. Dagegen formierten sich in der Regel zwei Gegendemonstrationen mit zusammen mehreren hundert Teilnehmer_innen, eine von linken Gruppierungen und der Partei ‚Die Linke‘ in der Nähe der Polizeiabsperrung, eine zweite etwas weiter entfernt von einem Bündnis von Gewerkschaften und Kirchenvertreter_innen mit Beteiligung von Politiker_innen, wie z.B. Oberbürgermeister Sören Link. Die Gegendemonstrationen bewirkten, dass ‚Pro NRW‘ zunächst weitgehend isoliert blieb und potentielle Sympathisant_innen durch die Polizeipräsenz abgeschreckt wurden. Die Partei wurde als das kenntlich, was sie wirklich war und ist: es sind keine Biedermänner, sondern extreme Rechte. Andererseits verschafften Gegendemonstrationen dem Geschehen unfreiwillig erhöhte mediale Aufmerksamkeit. Dieser Nebeneffekt ist wohl unvermeidlich.

Problematisch war aber etwas anderes. Die Gegendemonstrant_innen waren sich zwar einig in der Abwehr der ‚Rechtsextremisten‘ von ‚Pro NRW‘, die als Ortsfremde den guten Ruf der Stadt Duisburg beschädigten. Es gab aber zumindest auf der ‚bürgerlichen‘ Gegendemonstration keine Solidarisierung oder auch nur Empathie mit den Bewohner_innen des Wohnblocks. Stattdessen wurde vor ‚drohenden rechtsfreien Räumen‘, ‚Sozialmissbrauch‘ und ‚Armutswanderung‘ gewarnt. Die EU-Aufnahme Rumäniens und Bulgariens sei ein Fehler gewesen, den nun Duisburg und die notleidenden Anwohner_innen als Opfer ausbaden müssten. Symptomatisch ist, dass vor der ersten Demonstration am 12.03.2013 niemand – auch nicht von Seiten der linken Gruppierungen – im Vorfeld den Versuch unternahm, Kontakt zu den Bewohner_innen aufzunehmen, um ihnen zu erklären, was der Großeinsatz der Polizei und die zahlreichen Demonstranten vor ihrem Haus zu bedeuten hatten. Sie wurden mit ihrer Panik und Angst allein gelassen und mussten auch die Gegendemonstrant_innen als feindlich wahrnehmen.

Die mit ‚Pro NRW‘ konkurrierende NPD benutzte das Mittel der Kundgebung erstmals am 18.05.2013 in Rheinhausen. Das Motto war „Zigeunerflut stoppen – Asylmissbrauch verhindern – Einmal Deutschland und zurück“. Anders als ‚Pro NRW‘ versucht die NPD, solche Kundgebungen im Vorfeld geheim zu halten und mobilisiert nur intern oder ohne Nennung des genauen Ortes. Die NPD-Veranstaltung fand nicht vor dem Wohnblock in Bergheim, sondern in der Rheinhausener Fußgängerzone statt. Durch die konspirative Vorbereitung gab es zwar nur sehr wenige spontane Gegendemonstrant_innen. Außer den knapp 20 NPDlern gab es aber auch nur wenig Publikum – ein paar zufällig vorbeieilende Passant_innen. Das Medienecho unterblieb vollständig, denn die NPD hatte auch die Presse nicht eingeladen. Spätere ähnliche NPD-Aktionen fanden nicht mehr in Rheinhausen statt, sondern in der Fußgängerzone in der Stadtmitte (17.08.2013, 15.02.2014, 29.03.2014, 25.10.2014).

Runder Tisch Bergheim

In Rheinhausen-Bergheim gab es auf Initiative des örtlichen evangelischen Pfarrers, der über rassistische Äußerungen von Mitgliedern seiner Gemeinde entsetzt war, den Versuch, die Wogen zu glätten und den Gutwilligen unter den Anwohner_innen entgegenzukommen. Im Rahmen eines Runden Tisches wurden ab Oktober 2012 konkrete Probleme, wie z.B. die unzureichende Müllentsorgung diskutiert. Die Absicht, auch Bewohner_innen des Wohnblocks in den Dialog einzubeziehen, scheiterte aber am Widerstand der Scharfmacher_innen unter den Anwohner_innen. Im Sommer 2013 schien sich die Lage halbwegs beruhigt zu haben. Doch dies war ein Trugschluss.

Morddrohungen

Am 08.08.2013 berichtet die ‚Rheinische Post‘ und einen Tag später auch ‚Der Westen‘ über eine Polizeistatistik, wonach allein im ersten Halbjahr und allein in den Stadtteilen Hochfeld und Rheinhausen-Bergheim „gegen 2974 Tatverdächtige aus dem Umfeld der rumänischen oder bulgarischen Einwanderer“ von der Duisburger Polizei ermittelt worden sei.

Polizeisprecher Ramon van der Maat bestätigt die Zahlen auf Nachfrage. […] ‚Das Problem sind diejenigen, die herkommen, um sich die Taschen voll zu machen. Darüber dürfen wir nicht die Integrationswilligen vergessen.‘“ (RP 08.08.2013)

Die offizielle Kriminalstatistik wies dagegen später für das gesamte Jahr 2013 und für das gesamte Stadtgebiet knapp 2000 Tatverdächtige aus, hauptsächlich mit Delikten wie Schwarzfahren und Ladendiebstahl (Polizeipräsidium Duisburg 2014).

Die Zeitungsmeldung von den angeblichen 3000 Tatverdächtigen suggerierte, nahezu alle Migrant_innen aus Südosteuropa seien kriminell. Das Bedrohungsgefühl wurde verstärkt durch weitere Artikel, wie z.B. „Klaukinder überfallen 49-Jährige an Geldautomat in Rheinhausen“ (Der Westen 11.08.2013) oder „Dezernent fordert harte Hand gegen kriminelle Zuwanderer“ (Der Westen 09.08.2013b).

Diese Zeitungsberichte trugen dazu bei, die Stimmung im Stadtteil Rheinhausen eskalieren zu lassen. Auf Facebook existierte eine stark frequentierte öffentliche Facebook-Gruppe, in der sich Anwohner_innen und Rheinhausener_innen austauschten und sich gegenseitig in ihrer Abneigung gegenüber den Bewohner_innen des sogenannten „Problemhauses“ bestärkten. Mitte August 2013 posteten in diesem Forum gleich mehrere Teilnehmer_innen Mord- und Anschlagsdrohungen, von denen wir hier nur einige zitieren:

Man munkelt, das die Tage was passieren soll?!? Lach!“

Abbrennen soll man die bude“

Eine Bombe auf das haus und dann is endlich Ruhe da“

NIEDERBRENNEN DAS DRECKSPACK“

Wir müssen die Ratten loswerden!!!“

Alles schreit abbrennen aber warum macht es denn keiner?“

Diese Drohungen wurden von den Administratorinnen der Facebookgruppe erst entfernt, als polizeiliche Ermittlungen eingeleitet wurden. Eine der Administratorinnen kandidierte später für die Duisburger ‚Alternative für Deutschland‘ (AfD). Vom WDR-Lokalfernsehen zu den Drohungen befragt äußerte sie: „Wir sind nicht rechts, wir sind nicht links, wir sind die Mitte.“ (WDR Lokalzeit aus Duisburg 17.08.2013)

Es blieb nicht bei Drohungen im virtuellen Raum. In der Umgebung des Wohnblocks wurden rassistische Parolen gesprüht. Der evangelische Pfarrer und eine Duisburgerin, die in Eigeninitiative Kultur- und Sozialarbeit mit Bewohner_innen initiiert hatte, berichteten im Lokalfernsehen, dass Nachts mehrfach Personen im PKW vor dem Haus vorfuhren, die bewaffnet gewesen seien und mit einem Anschlag drohten. Die Duisburger Polizei berichtete auf ihrem Presseportal, der Beifahrer eines PKW habe beim Passieren des Wohnblocks den ‚Hitlergruß‘ gezeigt, „dabei rief der junge Mann auch lauthals fremdenfeindliche Parolen aus dem Auto heraus“ (Polizeipresse 20.08.2013).

In der Rheinischen Post meldete sich der Kreisparteivorsitzende der Duisburger CDU zu Wort:

Die Zeit drängt, denn die Stimmung im Viertel ist explosiv. Gestern meldete sich der CDU-Bundestagskandidat Thomas Mahlberg zu Wort und warnte eindringlich vor einem rechtsfreien Raum in Rheinhausen. Es sei Aufgabe des NRW-Innenministers, die Duisburger Polizei so auszustatten, ‚dass sie in die Lage versetzt wird, der fast 3000 mutmaßlichen Straftäter aus Südosteuropa Herr zu werden.‘“ (RP 17.08.2013)

In einem Interview in der ‚tageszeitung‘ wurde der Stadtdirektor und Stellvertreter des Duisburger Oberbürgermeisters Reinhold Spaniel gefragt: „„seit über einem Jahr protestieren Duisburger Bürger gegen den Zuzug von Roma. Wird die Einwandererstadt Duisburg rassistisch?“ Seine Antwort: „Nein! Die Bürger haben viel erduldet – und reagieren trotzdem besonnen. Da gibt es kein rechtsextremes Gedankengut.“ (taz 29.08.2013)

Nachtwachen aus Furcht vor einem Pogrom

Das Klima in Rheinhausen-Bergheim erinnerte nun in der Tat erschreckend an die Pogromstimmung in Rostock-Lichtenhagen 1992.

Da die Duisburger Polizei trotz aufgeheizter Stimmung nachts nicht vor dem Wohnblock Präsenz zeigte, organisierten einige junge Menschen aus dem linken Spektrum und aus der alternativen Kulturszene zusammen mit einigen Bewohner_innen spontan eine Nachtwache vor dem Haus, die die Aufgabe hatte, im Falle einer Konfrontation Hilfe herbeizuholen. Diese Aktion hatte ein durchaus positives Echo. So setzte ‚Der Westen‘ in seiner Berichterstattung den Begriff „Problemhaus“ erstmals in distanzierende Anführungsstriche (Der Westen 20.08.2013) und thematisierte erstmals die Perspektive der Bewohner_innen: „Roma in Duisburg – ‚Wir haben Angst um unsere Kinder‘“ (Der Westen 22.08.2013).

Die extreme Rechte sah das selbstverständlich ganz anders. Die NPD führte am 17.08.2013 eine nach eigenen Angaben erfolgreiche (12 Teilnehmer_innen) Kundgebung in der Duisburger Innenstadt mit ihrem von ‚Pro NRW‘ abgeguckten Plakatmotiv „Geld für die Oma – statt für Sinti und Roma“ durch.

Die ‚Pro NRW‘ Abspaltung ‚Pro Deutschland‘ kündigte für den 29.08.2013 eine Kundgebung direkt vor dem Wohnblock in Rheinhausen-Bergheim an.

Die Neonazis der Kameradschaft ‚Nationaler Widerstand Duisburg‘ (NWDU) stimmte die Aussicht auf ein neues Rostock-Lichtenhagen geradezu euphorisch:

Die Deutschen, die von dem Zustrom der Zigeuner und ihrer unhygienischen und kriminellen Lebensweise betroffen sind, finden weiterhin kein Gehör. […] Die Anwohner greifen zu radikaleren Methoden, um sich Gehör zu verschaffen und sich zu helfen. Parolen werden virtuell und an den Häusern angebracht, die von Wut und der Verzweiflung der im Stich gelassenen Anwohner zeugen. Staatsanwaltschaft und Polizei, die anscheinend weder willig noch fähig sind gegen den kriminellen Terror des Wandervolkes aus Rumänien und Bulgarien vorzugehen, sehen hier wiederum handlungsbedarf [sic!] und leiten Ermittlungen ein, während die Meinungsfreiheit auf der Strecke bleibt.

Ähnlich einer Bürgerwehr kommt es zu spontanen Versammlungen von Anwohnern am Problemhaus. Einige sollen bewaffnet gewesen sein und ihre Wut lautstark kundgegeben haben. Die Zigeuner, die nun ihre eigene Medizin zu schmecken bekommen, können angeblich nachts nicht mehr schlafen und fühlen sich unsicher. Es wird mit barer Münze zurückgezahlt, was man als Duisburger selbst Tag und Nacht am eigenem [sic!] Leibe erfahren muss. Die deutsche Bevölkerung wehrt sich das erste Mal seit langer Zeit.

[…] Störenfriede und Problemverursacher sind ganz klar die Zigeuner, nicht wir Deutschen. […] Nach Zigeuner [sic!] und Türken, nach Einwanderung und EU-Beitritt wurden wir nie gefragt. Wir hätten auch niemals zugestimmt!

Unser aller Solidarität gilt den betroffenen Duisburgern, den Wehrhaften und jenen, die ihre Stimme erheben und um Heim und Heimat kämpfen!“ (NWDU 20.08.2013)

Am 23.08.2013 ereignete sich dann ein Zwischenfall. Nach einer hitzigen Diskussionsveranstaltung mit aufgebrachten Anwohner_innen kam es zu einer gewaltsamen Konfrontation, bei der es drei Verletzte gab. Obwohl der Vorfall unserer Kenntnis nach trotz intensiver Ermittlungen der Polizei nie aufgeklärt wurde, galten ‚die Linken‘ von nun an pauschal als brutale Gewalttäter_innen. Dies betraf auch die Nachtwachen, obwohl viel dafür spricht, dass sie in den Vorfall gar nicht verwickelt waren. Die Aktion wurde deshalb abgebrochen. Damit endete ein zunächst vielversprechender Interventionsversuch aus der Zivilgesellschaft. Von nun an war häufig die Rede von den ‚Krawalltouristen von links und rechts‘, die auf einer Stufe stünden. Immerhin änderte nun die Duisburger Polizei endlich ihre Gefahreneinschätzung und war eine Zeit lang auch nachts mit einer Streifenwagenbesatzung vor dem Wohnblock präsent.

Panikmache in Neumühl

Das Thema Migration aus Südosteuropa blieb auch in den kommenden Wochen virulent. Zur gleichen Zeit rückte ein weiteres migrationspolitisches Thema in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Da es absehbar war, dass in Duisburg in den nächsten Monaten mehr Asylsuchende eintreffen würden, machte sich die Stadtverwaltung auf die Suche nach neuen Unterkünften. Im Stadtteil Neumühl sollte eine behördeninterne Begehung stattfinden, um die Eignung eines Objektes zu prüfen. Der Begehungstermin wurde von ‚Der Westen‘ im Vorfeld veröffentlicht, verbunden mit der Falschinformation, es sollten nicht nur Asylsuchende, sondern auch Migrant_innen aus Südosteuropa in dem Haus untergebracht werden. Zwei Kommunalpolitiker aus dem Stadtteil gossen zusätzlich Öl ins Feuer, indem sie behaupteten, es bestünde Grund zur Panik:

Der Stadt gehen allmählich die Möglichkeiten aus, die vielen Zuwanderer und Asylbewerber unterzubringen. Um denjenigen, die bereits da sind ein Dach über dem Kopf zu geben, überprüft die Stadt zur Zeit 26 Immobilien. Darunter das St.-Barbara-Hospital. […] „In Ortsteil kursieren die Gerüchte, Panik macht sich breit“, sagte Neumühls SPD-Ratsherr Heiko Blumenthal am Dienstag im Gespräch mit der WAZ. Gleiches bestätigt sein CDU-Kollege Frank Heidenreich. Beide Politiker sind sich einig: Neumühl eigne sich nicht. Im Übrigen müsse das Land tätig werden und dafür sorgen, dass nicht noch mehr Ausländer (Asylbewerber wie Zuwanderer) nach Duisburg kämen. Die Stadt stoße an ihre Grenzen.“ (Der Westen 10.09.2013)

Dieses Statement wirkte wie eine Steilvorlage für die extreme Rechte.

Das Gebäude des ehemaligen Hospitals wurde mit Parolen besprüht:

Wird das ein Asylantenheim, dann soll es Schutt und Asche sein“

Der Begehungstermin am 12.09.2013 wurde von einer aufgebrachten Menschenmenge verhindert. Unter den 210 Anwohner_innen sollen sich laut ‚Der Westen‘ mit Berufung auf die Polizei „auch rechtspopulistische Unterstützer“ befunden haben.

Die Proteste wecken nicht nur bei der Flüchtlingsbeauftragten Erinnerungen ans aufgeheizte Klima der 90-er Jahre.“ (Der Westen 13.09.2013a)

Stadtsprecherin Anja Kopka erklärte, „die Stadt würde das Gebäude derzeit gar nicht für die Versorgung von Asylbewerbern für geeignet halten“ (Der Westen 13.09.2013b), ‚Pro NRW‘ ermunterte dieser Erfolg zu einer Ausweitung ihrer geplanten Kundgebungsserie. Man werde jeden Monat nicht nur in Rheinhausen-Bergheim, sondern auch am gleichen Tag in Neumühl demonstrieren. Der erste Termin wurde für den 05.10.2013 angesetzt.

Kundgebung in Rheinhausen läuft aus dem Ruder

Am 5. Oktober 2013 fand neben den beiden Kundgebungen von ‚Pro NRW‘ eine dritte Kundgebung statt, die von Anwohner_innen und Rheinhausener Bürger_innen ohne parteipolitischem Hintergrund organisiert wurde, die sich vor allem auf Facebook zusammengefunden haben sollen. Die Veranstalter_innen präsentierten sich als gemäßigte, bürgerliche Alternative zu ‚Pro NRW‘. Auf dem Rheinhausener Markt, also ca. 2 Kilometer von Rheinhausen-Bergheim entfernt, versammelten sich ca. 150 Menschen, darunter auch ein Trupp Neonazis vom ‚Nationalen Widerstand Duisburg‘. Schon bald lief die Versammlung aus dem Ruder:

Wut der Bürger brach sich schnell Bahn. Statt gegen die vermeintliche Untätigkeit der Behörden zu wettern, richtet sich die Aggressivität gegen Roma […] Auf der Demo reden sich viele in Rage. Sie wollen nicht hören, dass sie verbal entgleisen, dass sie Rechte in ihrer Mitte dulden. Auch nicht, dass ihre Probleme sich schon gebessert haben, weil die Stadtverwaltung mitnichten untätig ist. Das bekommt vor allem Rolf Karling vom Verein ‚Bürger für Bürger‘ zu spüren. Als er für die Stadt und die Bergheimer Roma eine Lanze brechen will, wird er aggressiv niedergebrüllt.“ (Der Westen 06.10.2013)

Ein Teil der Kundgebungsteilnehmer_innen begab sich anschließend nach Rheinhausen-Bergheim und wartete vor dem Wohnblock auf die Kundgebung von ‚Pro NRW‘ am frühen Abend.

Triumph für ‚Pro NRW‘ in Neumühl

Am späten Abend zog ‚Pro NRW‘ dann weiter nach Neumühl. Dort erlebte die Partei zum ersten Mal in ihrer Geschichte einen begeisterten Empfang durch ca. 200 Anwohner_innen. Die Parteipropaganda konnte den Erfolg selbst kaum fassen:

in Duisburg brachen am Abend alle Dämme: Beim sogenannten ‚Zigeunerhochhaus‘ in den Peschen applaudierten Dutzende Anwohner außerhalb der Absperrungen offensiv den Forderungen der PRO-NRW-Redner, obwohl sie zuvor noch von linksextremen Gegendemonstranten bedroht und bedrängt worden waren. Und bei der letzten Kundgebung vor einem geplanten Asylbewerberheim in einem leer stehenden Krankenhaus in Duisburg-Neumühl drängten Hunderte (!) von sympathisierenden Anwohnern zur PRO-NRW-Veranstaltung. Immer wieder hallten Sprechchöre wie ‚Kein Asyl in Neumühl‘ durch den abendlichen Stadtteil. PRO NRW startete nach dem offiziellen Programm ein ‚offenes Mikro‘ für alle interessierten Anwohner“ (‚Pro NRW‘ 06.10.2013)

‚Pro NRW‘ leitete mit diesen Kundgebungen zugleich den Kommunalwahlkampf (Mai 2014) ein und gab bekannt, dass nun der Berliner Mario Malonn („der erfahrene Wahlkämpfer und eloquente Redner“) den Kreisverband Duisburg reaktivieren solle. Es gelang der Partei, mehrere Mitglieder und Aktivist_innen aus dem Kreis der Neumühler Anwohner_innen zu rekrutieren. Die beiden weiteren Doppelkundgebungen fanden am 09.11. und 07.12.2013 unter dem Motto „Gegen Asylmissbrauch und Armutseinwanderung“ statt. Sie waren mit 50 bis 60 Teilnehmer_innen zwar stärker besucht als gewohnt, der Triumph von Neumühl wiederholte sich allerdings nicht.

Brandstiftung in Walsum

Im Stadtteil Walsum war eine Unterkunft für Asylsuchende wegen Baufälligkeit kurzfristig geschlossen worden. Noch bevor über Reparatur oder Neubau endgültig entschieden war, wurde am 13.11.2013 am helllichten Tage an zwei Stellen gleichzeitig Feuer gelegt. Das Gebäude wurde vollkommen zerstört (Der Westen 14.11.2013). Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei dieser Brandstiftung um einen Anschlag gehandelt haben könnte, der auch ohne Bekennerschreiben für sich selbst sprechen sollte. Doch trotz der bitteren Erfahrungen mit den NSU-Morden hat es in dieser Beziehung kein Umdenken gegeben. Es gab über diesen potentiellen Anschlag keine öffentliche Debatte in Duisburg. In einer Antwort auf die Kleine Anfrage der Landtagsabgeordneten Birgit Rydlewski (Piraten) teilte die Landesregierung später mit:

Die Ermittlungen haben nicht zur Feststellung der Brandlegerin oder des Brandlegers geführt und sind daher nach § 170 Absatz 2 Satz 1 StPO eingestellt worden. Hinweise auf eine politisch motivierte Tat haben sich nicht ergeben.“ (Landtag NRW 14.01.2014)

Auch in einer ganzen Reihe von anderen Fällen von Brandstiftung, z.B. in einem überwiegend von Rumän_innen bewohnten Haus in Homberg (Der Westen 09.10.2013), wurden die Täter_innen nicht ermittelt und mögliche politische Hintergründe verneint.

Apokalypse Freizügigkeit

Im letzten Drittel des Jahres 2013 häuften sich die Zeitungsartikel, die angesichts des Wegfalls der Freizügigkeitsbeschränkungen für Rumän_innen und Bulgar_innen in Deutschland ab 01.01.2014 eine geradezu apokalyptische neue Zuwanderungswelle von sogenannten ‚Armutsflüchtlingen‘ vorhersagten. Zu erwarten sei auch eine Zunahme der Kriminalität.

Obwohl die Fallzahlen momentan zurück gehen, rechnen Experten mit einer erneuten Zunahme zum Jahreswechsel. Denn dann genießen Rumänen freien Zugang zum EU-weiten Arbeitsmarkt.“ (Der Westen 16.10.2013)

Die mögliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen und Hartz IV wurde als ‚Sozialtourismus‘ und ‚Betrug‘ diffamiert. Die bayerische CSU prägte die Parole „Wer betrügt, der fliegt“. ‚Pro NRW‘ übernahm die Parole für ihre Wahlplakate.

EU & ASYL: WER BETRÜGT, DER FLIEGT! ‚Unter diesem Motto wird PRO NRW den massenhaften Asylmissbrauch, die wachsende EU-Armutseinwanderung in unsere sozialen Sicherungssysteme und auch die betrügerischen Machenschaften der Euro-Pleiteländer skandalisieren‘, erklärte PRO-NRW-Generalsekretär Markus Wiener am Donnerstag bei der Vorstellung des neuen Plakat- und Flugblattentwurfes.“ (‚Pro NRW‘ 02.01.2014)

Auch die NPD betrachtete die CSU-Kampagne als Wahlkampfhilfe für die extreme Rechte:

Kampf gegen ‚Armutsmigration‘: CSU macht NPD-Kernthema im Superwahljahr 2014 hoffähig“ (DS 29.12.2013)

Das Duisburger Jobcenter verlautete, man rechne infolge der Freizügigkeit „mit einem Ansturm auf Hartz IV“

Gut möglich, dass am 2. Januar, dem ersten Öffnungstag im neuen Jahr, Hunderte Antragsteller vor der Tür stehen. Die Arbeitsagentur hat Hinweise, dass viele Zuwanderer geradezu auf diesen Tag hinfiebern und sogar bei Verwandten und Bekannten in Rumänien und Bulgarien mit den Sozialleistungen werben. Die EU bezeichnet das als Sozialleistungstourismus.“ (Der Westen 13.12.2013)

Das Jobcenter verkürzte seine ohnehin schon zu knappen Öffnungszeiten mit der Begründung, man benötige zusätzliches Personal, um den zu erwartenden Ansturm von Rumän_innen und Bulgar_innen zu bewältigen. Mit derselben Begründung wurden zwei Drittel der sogenannten Ein-Euro-Jobs in sozialen Einrichtungen gestrichen. (Der Westen 19.11.2013)

Das an den Jobbern gesparte Geld, so hat es Agentur für Arbeit-Geschäftsführer Ulrich Käser Ende vergangenen Jahres in einem Interview mit dieser Zeitung gesagt, würde benötigt, um zusätzliches Personal einzustellen, das Anträge von Armutsflüchtlingen aus Rumänen und Bulgarien bearbeitet.“ (Der Westen 08.02.2013)

So wurden Arme unterschiedlicher Herkunft gegeneinander ausgespielt. Nach Ablauf des Jahres 2014 hieß es dann

Als weniger problematisch als befürchtet habe sich der Zuzug von Menschen aus südosteuropäischen Ländern wie Rumänien und Bulgarien entwickelt: Zwar habe sich die Zahl der Arbeitslosen aus den beiden EU-Staaten im Vorjahr auf rund 900 verdoppelt, aber darauf sei man personell vorbereitet gewesen […]“ (Der Westen 07.01.2015)

Die RP bilanzierte Anfang 2015:

Zuwanderung: falsche Zahlen, verfehlte Prognosen […] Die Zahl der in Duisburg gemeldeten Bulgaren und Rumänen ist fast genau so hoch wie vor einem Jahr.“ (RP 08.01.2015)

Die gezielte Panikmache vor den angeblichen negativen Auswirkungen des Wegfalls der Einschränkungen der Freizügigkeit bewirkte eine Stärkung rassistischer Stimmungen und Rückenwind für die extreme Rechte für ihren Wahlkampf zur Kommunalwahl im Mai 2014.

Der Wohnblock in Rheinhausen-Bergheim, der bundesweit als das sogenannte ‚Problemhaus‘ in die Schlagzeilen geriet – z.B. im Magazin Focus: „Ein Haus verbreitet Angst“ (Focus 37/2013) – sollte nach dem Willen des fragwürdigen Besitzers und der Duisburger Stadtverwaltung geräumt werden. Dabei ging es nicht um Herstellung menschenwürdiger Wohnbedingungen, sondern um die Vertreibung der Bewohner_innen. ‚Pro NRW‘ zitiert begeistert aus einem Artikel auf „Der Westen“, in dem die drohende Obdachlosigkeit der Bewohner_innen zu deren Privatsache erklärt wurde. Die Hartherzigkeit des zitierten Kommunalpolitikers und dessen skandalöse Anspielung auf das vermeintliche Nomadentum der Rom_nija deutet ‚Pro NRW‘ als Reaktion auf die eigenen Erfolge.

PRO-NRW Effekt erreicht Duisburg. Wie die WAZ berichtet, hofft die Stadt Duisburg die Roma in den Problemstadtteilen schnell loszuwerden. In dem Artikel heißt es: ‚Für Hunderte Roma, die durch Zwangsräumung ihr illegales Quartier in Bergheim verloren haben oder deren reguläre Mietverträge zur Jahreswende nicht verlängert werden, soll es keine kommunalen Ersatzunterkünfte geben. Dies bestätigte Sozialdezernent Reinhold Spaniel gestern auf WAZ-Nachfrage. ‚Wir gehen davon aus, dass die Bewohner auf Grund ihrer hohen Mobilität weiterziehen und die Stadt verlassen (…). Hier gilt: Eine neue Wohnung muss sich jeder selbst besorgen‘, so Spaniel, ‚das ist nicht unsere Aufgabe.‘ Einen Notfallplan für die freigesetzten Bewohner will die Stadt nicht aufstellen – auch nicht vor dem Hintergrund, dass ab Januar 2014 möglicherweise weitere Armutsmigranten nach Duisburg strömen.‘ Nachdem Pro-NRW Anfang Dezember in einer furiosen Nominierungsveranstaltung alle Wahlkreiskandidaten, alle Kandidaten für die Bezirksvertretungen sowie eine zehnköpfige Ratsreserveliste für die Kommunalwahl in Duisburg aufgestellt hat, kann es der Stadt nicht schnell genug gehen, die Einwanderer aus Bulgarien und Rumänien loszuwerden. Jahrelang haben die geplagten Anwohner hunderte Beschwerden an die Politik formuliert, haben demonstriert und ihren Unmut in Bürgerversammlungen Luft gemacht und jetzt genügt ein entschiedener Schritt der Bürgerbewegung Pro-NRW, um Politik und Verwaltung Beine zu machen! Herzlich Willkommen Pro-NRW-Effekt in Duisburg!“ (‚Pro NRW‘ Dezember 2013)

Wie immer übertreibt die Kleinstpartei hier wieder einmal kräftig ihre eigene Bedeutung. Was aber leider stimmt, ist, dass das zitierte Statement des Vertreters der Stadt Duisburg ganz im Sinne der ‚Pro NRW‘-Propaganda war. Die Vertreibung der Bewohner_innen des Wohnblocks wurde Ende Juli 2014 abgeschlossen.

Trittbrettfahrer CDU?

Den Wahlkampf bestritt ‚Pro NRW‘ mit Parolen wie

Unsere ‚Eliten‘ locken Bettler und Banditen! Schluss damit! Deshalb am 25. Mai PRO NRW wählen!“ (‚Pro NRW‘ März 2014)

Wut im Bauch? – Lass es raus! – Pro NRW“ (‚Pro NRW‘-Wahlplakat)

Von Seiten der konkurrierenden NPD waren ähnliche Töne zu hören:

Für ein deutsches Duisburg. Asylflut stoppen! […] Tausende Zigeuner werden als Folge der EU-Osterweiterung erwartet. Jeden Monat strömen 600 neue Ausländer in die Stadt und fordern Sozialleistungen ein. […] Die Kriminalität explodiert. Raub- und Trickdiebstähle gehören zum traurigen Alltag der Stadt. […] Auf all diese Probleme haben die etablierten Parteien keine andere Antwort, als ständig mehr Geld in ihre völlig verfehlte und längst gescheiterte Integrationspolitik zu stecken. (NPD April 2014)

Die neu entstandene Rechtspartei ‚Alternative für Deutschland‘ (AfD) schlug im Wahlkampf zwar weniger schrille Töne an als ihre rechte Konkurrenz. Sie versuchte aber auch, die fremdenfeindliche und rassistische Stimmung für sich zu nutzen. Ihre Parolen waren vorsichtiger und mit einem größeren Interpretationsspielraum formuliert, z.B. „Einwanderung braucht klare Regeln“. Eine der Moderatorinnen der hetzerischen Facebookgruppe in Rheinhausen, von der weiter oben schon die Rede war, kandidierte auf der Liste der AfD. In der öffentlich sichtbaren Propaganda der AfD spielte das Thema Rheinhausen-Bergheim aber keine Rolle.

Die Duisburger CDU warb im Kommunalwahlkampf mit einem Plakat, das den Wohnblock in Rheinhausen-Bergheim zeigte, vor dem ein großer Müllberg zu sehen war. Es handelte sich offenbar nicht um ein aktuelles Foto, sondern um eine ältere Archivaufnahme. Die Aufschrift lautete:

Missstände beenden! – Duisburg kann besser – CDU Duisburg“.

Prompt bezeichnete ‚Pro NRW‘ die Duisburger CDU als „Trittbrettfahrer“.

Die CDU Duisburg fühlt sich von PRO-NRW scheinbar derart herausgefordert, dass sie den tollpatschigen Versuch gestartet hat, PRO NRW zu kopieren. Die verbrauchte Altpartei will mit einem Plakat punkten, auf dem das Problemhaus in Rheinhausen mitsamt Müllberg abgebildet ist. Sie möchte dabei an unsere schon jetzt erfolgreiche Plakatierung anknüpfen. Dies kann nur in die Hose gehen, nicht weil sich die Grünen darüber empören, sondern weil die CDU ja kräftig daran mitgewirkt hat, dass in Deutschland und gerade auch in unserer Stadt solche Zustände herrschen! Die ‚Rheinische Post‘ berichtet indess [sic!], dass das Thema Sicherheit den Duisburgern am Wichtigsten ist. Auch bestätigt sie die von PRO-NRW immer wieder behauptete Tatsache eines Zusammenhangs von Armutszuwanderung und Kriminalität: ‚Denn dass es zwischen bestimmten Straftaten und osteuropäischen Tätern einen Zusammenhang gibt, lässt sich nicht bestreiten.‘“ (‚Pro NRW‘ April 2014)

Rechtsruck in Duisburg

Das Ergebnis der Kommunalwahl am 25.05.2014 kommentierte ‚Der Westen‘:

Den Rechtsruck gab es bei der Kommunalwahl nur in Duisburg“ (Der Westen 26.05.2014a)

Knapp 10 Prozent der Duisburger_innen stimmten für Rechtsparteien. ‚Pro NRW‘ erzielte 4,2 Prozent (6.179 Stimmen) und 4 Mandate, die AfD 3,5 Prozent (5.162 Stimmen) und 3 Mandate und die NPD 1,7 Prozent (2.520 Stimmen) und 1 Mandat.

Für die CDU endete der Wahlkampf mit einem Debakel. Sie erzielte „mit knapp 25 Prozent das schlechteste Wahlergebnis nach dem Krieg“ (Der Westen 26.05.2014b).

Der Einzug von gleich zwei Ratsfraktionen und einer Einzelabgeordneten in den Stadtrat bescherte den Duisburger Rechtsparteien beträchtliche finanzielle Mittel. Allein für ‚Pro NRW‘ wurde der Betrag von 125.000 Euro pro Jahr genannt. Ihre propagandistischen Möglichkeiten über Anfragen und Anträge im Rat sind nicht zu unterschätzen und werden bereits ausgetestet.

Die übrigen Parteien (mit Ausnahme zweier Ratsherren der Piraten) verabschiedeten am 16.06.2014 die Erklärung „Duisburger Konsens gegen Rechts“ (Stadt Duisburg 2014), in der sie jegliche Zusammenarbeit mit „rechtsextremen und rechtspopulistischen Gruppierungen und Parteien“ ablehnen. „Mit Vertreterinnen und Vertretern von diskriminierenden Positionen darf es keine Diskussion auf Augenhöhe geben.“ Ob diese Erklärung nur Lippenbekenntnis bleibt oder ob es eine aktive Auseinandersetzung mit den Gefahren durch Rassismus und extreme Rechte geben wird, muss sich noch zeigen.

Zeltstadt im Matsch

Mitte August rückte das Thema Asyl in Duisburg wieder in das Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit. Der geplante Ausbau der Plätze war durch behördeninterne Verzögerungen ins Stocken geraten. Als vermeintliche Lösung wurde auf einem Sportplatz in Walsum eine ‚Zeltstadt‘ errichtet. Dort sollten auf engstem Raum und ohne jegliche Privatsphäre Asylsuchende zusammengepfercht werden. Bei Regenwetter verwandelt sich dieser Sportplatz in eine Schlammwüste. ‚Der Westen‘ schrieb: „Duisburg empfängt Flüchtlinge in Zeltstadt im Matsch“ (‚Der Westen‘ 21.08.2014).

Die ‚Zeltstadt‘ wurde nie bezogen, verursachte aber bundesweite Schlagzeilen und Kosten in Höhe von über 300.000 Euro. Vermutlich sollte mit der ‚Zeltstadt‘-Aktion ein Signal an Land und Bund ausgesendet werden, angesichts der Duisburger Finanznot sei es humanitär unverantwortlich, weitere Menschen in diese Stadt zu schicken. Dabei entstand aber zum wiederholten Male der fatale Eindruck, in Duisburg herrsche aufgrund der aktuellen Migration eine Notstandssituation, die von den hilflosen Politiker_innen nicht mehr beherrscht werden könne. Ein solcher Eindruck bestärkt die Anhänger_innen autoritärstaatlicher Gewaltmaßnahmen.

Die ‚Zeltstadt‘-Aktion hatte aber auch den positiven Nebeneffekt, dass zahlreiche Duisburger Bürger_innen und zivilgesellschaftliche Organisationen aufgerüttelt wurden und seitdem in vielen Stadtteilen ein Netz von ehrenamtlichen Helfer_innen entstand, die in bewundernswerter Weise Hilfe für Asylsuchende organisieren. Dies bedeutet aber leider nicht, dass die massiven Ressentiments in einem anderen Teil der Bevölkerung nachgelassen hätten – ganz im Gegenteil.

Asyl in Neumühl?

Die Stadt Duisburg ist verpflichtet, nach einem festgelegten Schlüssel Asylsuchende aufzunehmen. Das Land und der Bund ließen sich nicht darauf ein, Duisburg angesichts der ‚Zeltstadt‘ von dieser Pflicht zu entbinden.

Eine andere Möglichkeit, Kosten zu senken, ist die Errichtung einer Erstaufnahmestelle für Asylsuchende, die vom Land NRW getragen und bezahlt würde, deren Kapazitäten aber Duisburg bei der Zuweisung weiterer Asylsuchender angerechnet würden.

Als Gebäude für eine solche Einrichtung wurde ausgerechnet das ehemalige St. Barbara-Hospital in Neumühl ausgewählt, vor dem es im Oktober 2013 die massiven Proteste von Anwohner_innen gegeben hatte. Die Pläne der Stadt sollten auf einer Bürgerversammlung am 19.09.2014 erläutert werden. Schon im Vorfeld waren viele Neumühler Anwohner_innen in heller Aufregung. Das Vorhaben der Stadt wurde als Wortbruch empfunden. Die geplante Unterbringung von Asylsuchenden im Stadtteil wurde von vielen Anwohner_innen heftig abgelehnt. Neumühl muss spätestens seit der Kommunalwahl als rechte Hochburg gelten. ‚Pro NRW‘ erzielte dort 9,4 Prozent, zusätzlich kam die NPD auf 2,3 Prozent.

Eine Jahrhunderte alte Schauergeschichte

Einen Tag vor der Bürgerversammlung ging im Stadtteil ein Gerücht mit antiziganistischem Hintergrund um, das die rassistische Stimmung vollkommen eskalieren ließ.

In einigen Duisburger Facebook-Gruppen machte seit Donnerstagmittag eine Schauergeschichte die Runde. Zwei Frauen sollen in Neumühl versucht haben, Eltern ihr Kind aus dem Wagen zu rauben. […] Auch der Duisburger Polizei ist dieser Vorfall bekannt, dort wird der Fall aber als weitaus undramatischer bewertet als er im Netz kursiert. Zwei Frauen hätten sich dem Wagen eines Paares genähert. Während der Vater gerade das einjährige Kind im Kindersitz anschnallte, fragte eine der beiden ihn nach der Uhrzeit, was wohl ein Ablenkungsmanöver war. So schildert ein Polizeisprecher das Geschehen an jenem Donnerstagmittag. Daraufhin hätte die andere Frau versucht, in den Wagen zu greifen, dorthin, wo auch die Einkäufe des Paares lagen. […] ‚Sie hatten niemals die Absicht, ein Kind zu entführen‘, verdeutlicht der Polizist.“ (Der Westen 19.09.2014)

Das schnelle Dementi der Polizei nutzte nichts. Es wurde nicht geglaubt, denn die tiefsitzende Legende, dass ‚Zigeuner‘ angeblich Kinder stehlen, erwies sich als stärker als die Vernunft. Auf Facebook postete der Nutzer Christian F. ein steckbriefartiges Handy-Foto der beiden beschuldigten Frauen. Angeblich handle es sich um zwei Bulgarinnen.

Einige der ersten Kommentare:

Christian F.: Direkt draufschlagen, kele auf schneiden oder im kopf schissen

Thorsten K.: Ab nach Auschwitz mit dem Dreckspack !!!!!

Dennis S.: Vergewaltigen , anzünden und sterben lassen ! ! ! Und ganz schnell das Barbara – Krankenhaus anzünden !!!!! Dieses Pack kommt und es wird mit Sicherheit nicht besser werden !

Angelika F.: Dennis S. wie vergewaltigen? Willst du an so was dran????? ,aber mit allem anderen hast du recht!

David F.: Dat kann doch alles nicht mehr wahr sein watt ihr mit den ratten ist ….am besten verbrennen dann hauen se vielleicht von alleine ab

Marcus P.: Ab inne gaskammer

Angelika F.: Alle Morgen zum agnesheim,und als erstes den Politikern mal schön zwischen nehmen,auf neumühler art…..hehe,den die sind die falschen Hunde!!!!!!!!! [Gemeint ist die Bürgerversammlung zum Thema St. Barbara-Hospital – d.Verf.]

Dominik L.: christian das problem ist die sehen alle gleich aus mann müsste alle organisiert vernichten

Christian F.: Auf geht‘s

Jenny L.: Das hab ich mich auch gefragt aber so ist das Gesetz solange nix passiert ist werden die Bullen nix machen traurig aber wahr .. Das heißt wir müssen selbst handeln und die dreckigen Ratten kaputt schlagen !

Das Foto wurde in den folgenden zwei Tagen über 6.000-mal von anderen Facebook-Nutzern geteilt. Die Aktivistin und spätere Duisburger Kreisvorsitzende von ‚Pro NRW‘ Agnes Globisch übernahm das Foto als eigenes Posting, und dies wurde weitere 1.000-mal geteilt.

Achtung in Neumühl…diese Frauen haben gestern versucht einen Vater der am Steuer seines Autos saß abzulenken und sein Kind aus dem Auto zu ziehen. Das ist wirklich passiert, also keine Geschichte oder sonstwas. Die halten sich immer an Markttagen in Neumühl auf. Stehen oft an der Norbertuskirche in Marxloh mit Sprintern. Passt auf eure Kinder auf.“ („Agnieszka Gsch“, Facebook 19.9.2014)

Die Kommentare enthielten weit über 100 Morddrohungen, Gewalt- und Folterfantasien. Der Einwand von einigen besonneneren Mitdiskutant_innen, es könne sich um eine gefälschte Meldung handeln, wurde fast immer ignoriert oder barsch zurückgewiesen.

Der Initiator dieser Welle des Hasses war selbst vermutlich kein organisierter Rechtsextremer. Auf seinem Facebookprofil präsentierte Christian F. sich als kindervernarrter Familienvater. Allerdings warb er dort bereits am 16.09.2014, also zwei Tage vor dem vermeintlichen Vorfall in Neumühl, für die ‚Hooligans gegen Salafisten‘ (HoGeSa), einen Zusammenschluss extrem rechter gewaltsuchender Fußballfans, der zu diesem Zeitpunkt noch fast unbekannt war, und der erst durch die Randale-Demonstration in Köln am 26.10.2014 zu trauriger Berühmtheit gelangte. Am 19.09.2014 teilte F. den Aufruf von Agnes Globisch, zur Bürgerversammlung zu kommen.

Chaotische Bürgerinformation

Die Informationsveranstaltung der Stadt am 19.09.2014 wurde zu einem Desaster und musste schließlich abgebrochen werden. Rechte Aktivist_innen aller Strömungen reisten an und heizten die ohnehin schon aufgepeitschte Stimmung weiter an. Gesichtet wurden u.a. ‚Pro NRW‘, NPD, ‚Identitäre Bewegung‘, Neonazis vom ‚Nationalen Widerstand Duisburg‘ und die Aktivistin, spätere ‚Pro NRW‘-Funktionärin und Organisatorin von Pegida-Demonstrationen Melanie Dittmer.

Im journalistischen Blog ‚Ruhrbarone‘ berichtete ein Augenzeuge:

Mit 180 Personen ist der Gemeindesaal im Herzen Neumühls bis auf den letzten Platz besetzt. Vor der Tür stehen mindestens 100 weitere, einige von ihnen – darunter die NPD-Raatsfrau Melanie Händelkes – halten Plakate hoch. Als Oberbürgermeister Link erscheint wird er ausgepfiffen, Sprechchöre wie ‚Volksverräter‘ und ‚Kein Asyl in Neumühl‘ werden laut. Auch während der Versammlung werden die Vertreter der Stadt immer wieder niedergebrüllt. Am offenen Mikro ist von ‚Zigeunern‘ die Rede, und von ‚guten und schlechten Asylanten‘, und immer wieder von den Kindern. Zum Beispiel: Wer schützt die deutschen Schulkinder vor den Geflüchteten, wenn sie in den Unterrichtspausen zur Toilette müssen? Vor dem Saal kocht die Stimmung hoch als Mario Malonn, Ratsherr für PRO NRW, vor die Leute tritt und ausländerfeindliche Reden schwingt.“ (Ruhrbarone 20.09.2014)

Antiziganistische Mythen als Brandbeschleuniger

Die Bürgerversammlung in Neumühl ist ein treffendes Beispiel dafür, wie eine massive antiziganistische Stimmung auf ‚benachbarte‘ Themenfelder wie Asylfeindlichkeit oder auch antimuslimischen Rassismus übertragen werden kann und zu einer Radikalisierung und Enthemmung führt. Bürger_innen, die sich selbst als nicht ‚rassistisch‘ oder ‚rechtsextrem‘, sondern eher in der ‚Mitte‘ einordnen würden, lassen jeglichen Anstand und die vielgeschmähte ‚Political Correctness‘ fallen und sind schließlich sogar bereit, mit bekennenden Neonazis gemeinsame Sache zu machen.

Uralte Vorurteile und Stereotype determinieren und verzerren die Wahrnehmung beim Blick auf Sinti_ze und Rom_nija. Davor sind selbst Wohlmeinende nicht gefeit.

Es ist frappierend, dass in Duisburg in den letzten zwei Jahren auch längst überwunden oder vergessen geglaubte Mythen wieder auftauchten und virulent wurden. Das Gerücht über angebliche Kindesentführungen grassierte in Duisburg im oben geschilderten Fall in Neumühl nicht das erste Mal. Seit 2013 wurde es in mehreren Stadtteilen und auch in anderen Städten im gesamten Bundesgebiet immer wieder gestreut und immer wieder abgewandelt: Kleine Kinder würden von Rom_nija in einen Lieferwagen gezerrt, entführt, getötet und die Organe verkauft. Das Verbrechen würde von der Polizei und den Behörden vertuscht.

Schon im April 2014 sah sich die Polizei in mehreren Städten genötigt, diesen Gerüchten entgegenzutreten, freilich ohne Erfolg. Die Rheinische Post schrieb damals, ohne den antiziganistischen Hintergrund zu thematisieren:

Ganz offensichtlich möchte hier jemand Angst unter den Bürgern schüren. Mit Texten wie ‚Achtung! Bulgarische und Rumänische Organmafia jetzt auch in Deutschland auf der Jagd nach Kindern und Jugendlichen. Entführungen bereits in Duisburg und Essen‘ verunsicherten der oder die Verfasser viele Menschen. Vor allem die Facebook-Meldungen zu dem Thema wurden häufig geteilt und verbreiteten sich schnell. Meldungen immer wieder leicht verändert. In den vergangenen Tagen tauchten immer neue, leicht veränderte Texte auf. So wurden zum Beispiel die angeblichen Orte der Entführung jeweils abgeändert: Mal schlug die Organmafia laut Meldung in Friedrichshafen, mal in Bremen, mal in Duisburg und Essen zu. Auch in Remscheid machten Meldungen zur Organmafia die Runde. Dort wurde gemeinsam mit dem Text ein Bild verbreitet, auf dem ein weißer Lieferwagen zu sehen war. Angeblich nutze die Organmafia diesen, um die Kinder zu entführen, so die Meldung. Viele besorgte Remscheider Bürger meldeten sich daraufhin bei der Polizei. Diese forschte nach und teilte schließlich mit, dass auch ihr keine Fälle zur Organmafia bekannt seien. Laut Polizei ist davon auszugehen, dass es sich bei den Meldungen um eine frei erfundene Schockgeschichte handelt. Die übergreifende, offizielle Botschaft der Polizei in der Region lautet daher auch: Alle Meldungen zur Organmafia sind falsch, ein Fake.“ (RP 17.04.2014)

Die Website ‚Zuerst Denken – dann Klicken!‘ (www.mimikama.at), die sich auf seriöser Grundlage mit Gerüchten auf Facebook beschäftigt, griff den Fall auf und recherchierte, wie diese Lügengeschichte sich im Netz immer weiter entwickelt und dabei mutiert.

Ein Phänomen bei solchen Schreckensmeldungen ist, das ausgerechnet in der Gegend, die in einer solchen Meldung beschrieben wird, die Menschen beginnen, die Meldung zu teilen. Scheinbar als Schutzmechanismus. Wir haben gestern (1.4.2014) in diesem Zusammenhang schon berichtet, dass es keinerlei Anzeichen für den Wahrheitsgehalt dieser Meldung gibt. […] Es handelt sich also auch hier um eine Falschmeldung, die Angst und Schrecken erzeugt.“ (mimikama 02.04.2014)

Ein anderer, längst vergessen geglaubter Aberglaube besagt, Hexen und ‚Zigeuner‘ stünden mit dem Teufel im Bunde und flögen auf Besen zum Blockberg, um sich mit ihm zu treffen. Man könne Hexen und ‚Zigeuner‘ bannen und am Betreten des eigenen Hauses hindern, wenn man einen Besen mit dem Stiel nach unten in den Hauseingang stellt. Im Februar 2013 wurden in Hochfeld in mindestens zwei Einzelhandelsgeschäften im Eingang solche ‚Zigeunerbesen‘ von der Geschäftsleitung aufgestellt. Ein Besen war kurioserweise zusätzlich mit Knoblauchknollen (gegen Vampire aus Rumänien?) drapiert.

Der extremen Rechten kommt der antiaufklärerische Geist solcher kollektiver Wahngebilde entgegen. Der Antiziganismus dient ihr zunächst quasi als ein Türöffner bei einem bisher unpolitischen Publikum für die Ideologie der Ungleichheit, für Rassismus und für die Forderung nach autoritären Lösungen.

In letzter Konsequenz benötigt die Propaganda der extremen Rechten eine Bevölkerungsgruppe, die sie als ‚Untermenschen‘ brandmarkt, einen Antipoden der ‚Volksgemeinschaft‘, von dem man sich abgrenzt und den man hasst und ausstößt, bis hin zur Vernichtung. Das NS-Regime hat aus dieser Propaganda die schreckliche Realität des Genozids an Jüdinnen und Juden und an Roma und Romnija werden lassen.

Wie die oben zitierten Beispiele zeigen, fällt die Hemmschwelle, Mord und Folter, ja sogar einen systematischen Völkermord zu fordern, wenn es sich um Rom_nija handelt.

Der Hass, geht bei vielen so weit, dass Rom_nija das Menschsein abgesprochen wird. Ein Leserkommentar unter dem Foto der beiden vermeintlichen ‚Kindesräuberinnen‘ in Neumühl brachte diese Haltung auf den Punkt:

Zigeuner halt, das sind keine Menschen, weil die selbst wie Tiere leben10.

Diese hochbrisante Einstellung ist in Duisburg kein Randphänomen einer Handvoll von ‚Extremisten‘ das man ignorieren könnte, sondern wird von einer beträchtlichen Anzahl Duisburger Bürger_innen geteilt, die sich selbst als Bestandteil der ‚Mitte der Gesellschaft‘ sehen würden.

Wenn man verhindern will, dass aus Denken und Worten auch mörderische Taten werden, wird es nicht ausreichen, die Brandstifter_innen der extremen Rechten in ihrem Handlungsspielraum einzuschränken (so nötig das auch ist). Dem sogenannten ‚Extremismus der Mitte‘ ist entschlossen entgegenzuwirken. Dazu müssten Konzepte entwickelt und umgesetzt werden. Man wird das Ziel allerdings nicht erreichen, indem man das Problem ignoriert, oder sogar den Brandstifter_innen auf halbem Wege entgegen kommt.

Antirassismus in der Zwickmühle zwischen Verdrängung und Expertentum

Von Ismail Küpeli

In Zeiten von HoGeSa und Pegida scheint es so, als sei die antirassistische Theoriebildung und Praxis der letzten Jahrzehnte ein vergeblicher Kampf gegen Windmühlen gewesen. Manche erinnert die jetzige Situation an den Anfang der 1990er Jahre, als in Deutschland rassistische Brandanschläge an der Tagesordnung waren und Politiker_innen und Medienmachende ungezügelt menschenfeindliche Äußerungen tätigen konnten. Gerade der Verweis auf die 1990er Jahre zeigt allerdings auf, dass die Schwierigkeiten von antirassistischer Theorie und Praxis keine neuen Erscheinungen sind, sondern vielmehr auf länger existierende Probleme zurückgehen.

Kein Rassismus, nirgends:
Marginalisieren, relativieren, kleinreden

Die derzeitige Resignation von Antirassist_innen hat durchaus einen wahren Kern. Für die deutsche Mehrheitsgesellschaft war es und ist es sehr einfach möglich, den Rassismus hierzulande weg- oder zumindest kleinzureden. Weder die von Rassismus Betroffenen noch diejenigen, die sich mit ihnen solidarisieren, verfügen über so viel politische oder mediale Macht, um eine intensive gesellschaftliche Auseinandersetzung um Rassismus in Deutschland zu erzwingen.

Rassismus wird gesamtgesellschaftlich erst dann zu einem Problem, wenn die Interessen der Mehrheitsgesellschaft berührt werden (so etwa, wenn das Image Deutschlands in der Welt durch Brandanschläge und Morde beschädigt wird) oder im Kontext der Machtkämpfe zwischen verschieden politischen Lagern (so etwa, wenn rechte Parteien über rassistische Mobilisierungen Wähler_innen gewinnen und dies von linken Parteien kritisiert wird).

Aber selbst dann, wenn es zu einer öffentlichen Debatte über Rassismus kommt, wird nicht der Rassismus selbst thematisiert – sondern die Rede dreht sich um die Motive und Argumente der Täter_innen, Erklärungsversuche verschiedener Art (sei es, was bei den Täter_innen „schiefgelaufen ist“ oder ob die Nicht-Deutschen nicht mitschuldig am Rassismus seien) und Selbstzusicherungen, dass man selbst und die Mehrheit der Deutschen nicht rassistisch sei. Die Perspektive der von Rassismus Betroffenen bleibt zumeist ausgeblendet. Die Erfahrungen von Nicht-Deutschen werden als „subjektiv“ und „emotional“ deklassiert und einer vermeintlich „objektiven“ und „neutralen“ Analyse von Expert_innen aus der Mehrheitsgesellschaft entgegengestellt.

Antirassismus als Nischenthema

Der Ausschluss aus dem hegemonialen Diskurs löste im antirassistischen Spektrum in der Regel zwei gegensätzliche Reaktionen aus. Die eine Reaktion bestand darin, den Kampf um Deutungshoheit als verloren zu deklarieren und sich in einer vollständig rassistisch dominierten Gesellschaft einzuigeln. Der erzwungene Ausschluss wurde so mit einem stärkeren Selbstbezug und Eigendefinitionen gekontert und das unfreiwillige Exil aus der gesellschaftlichen Wahrnehmung wurde so zur selbstgewählten radikalen Enklave verklärt. Dies ging einher mit der Entwicklung von eigenen Begrifflichkeiten und Theorien, in denen aber die Frage nach der gesellschaftlichen Vermittelbarkeit keine große Rolle mehr spielte.

Eine solche radikale Positionierung bedeutet allerdings auch den weitgehenden Verzicht auf jeglichen Zugang zu finanziellen Ressourcen. Insofern ist eine solche Position etwa für all diejenigen unmöglich anzunehmen, die ihren Lebensunterhalt auch durch Expertise über Rassismus in Deutschland verdienen: Sei es durch Jobs im „Integrationssektor“, sei es durch Honorare für Vorträge über „multikulturelle“ Themen, sei es durch Lehraufträge an den Hochschulen. Daraus ergibt sich die zweite Reaktion: Das Einnehmen einer „moderaten“ Position, die dazu führte, die Skandalisierung des Rassismus in Deutschland im Allgemeinen und die radikale Kritik an die Mehrheitsgesellschaft im Besonderen, zu entschärfen. Stattdessen wurden ausschließlich die „Auswüchse“ thematisiert, etwa der Rassismus in der extremen Rechten oder der militante Neonazismus.

Beide Reaktionen haben etwas gemeinsam: Sie verfestigen den marginalen und nischenhaften Wesenszug des gegenwärtigen Antirassismus und bieten keinen Weg, das gesellschaftliche Schweigen über Rassismus zu durchbrechen. Dies ist aber kein Anlass für „victim blaming“: Schlussendlich sind nicht die antirassistischen Aktivist_innen „selbst schuld“ an der eigenen Marginalisierung, sondern es sind die Entscheidungen von Akteur_innen der Mehrheitsgesellschaft, die eine solche Marginalisierung herbeiführen. Die hier geforderte Selbstkritik der Antirassist_innen zielt darauf, diese Marginalisierung durchbrechen zu können.

Rassismus ohne Rassen

Ob eine breite Öffentlichkeit Rassismus wahrnimmt und kritisiert, hängt auch davon ab, wie sich der Rassismus konkret ausformuliert und gegen welche Gruppen er sich richtet. So ist etwa inzwischen ein offen biologistischer Rassismus eher verpönt und durch einen stärker kulturalistischen Rassismus abgelöst worden. Andere Rassismen sind dagegen gesellschaftlich weitgehend akzeptiert – so etwa der Antiziganismus. Insbesondere durch die kulturalistischen und vermeintlich soziologischen Erklärungsmuster und Argumente wird der rassistische Charakter des Antiziganismus verdeckt. Die Rede über „nomadenhafte“, „umherziehende“, „keiner festen Arbeit nachgehende“ Rom_nija klingt zuerst als soziologische Beschreibung einer konkreten Bevölkerungsgruppe, die sich aber im nächsten Augenblick als rassistisch entlarvt – spätestens wenn deutlich wird, dass die Beschreibung von vornherein feststand. Weil aber in der breiten Öffentlichkeit eine überholte Vorstellung von Rassismus existiert, in der Rassismus mit der Rede über „Menschenrassen“ und Schädelmessungen gleichgesetzt wird, werden Rassismen, die auf offen biologistische Redeweisen verzichten, nicht als Rassismus erkannt.

Anders als etwa bei offen antisemitischen Äußerungen lassen sich antiziganistische Äußerungen wesentlich schwerer skandalisieren. Offener Antisemitismus ist in Deutschland geächtet und wird sanktioniert. In Bezug auf Antiziganismus gibt es noch keine entsprechende Sensibilität. Allenfalls werden einzelne rassistische Vokabeln wie „Zigeuner“ durch weniger vorbelastete Bezeichnungen wie etwa „Rumänen“ ersetzt, wobei die Frage, ob die Menschen wirklich aus Rumänien kommen, gar keine Rolle spielt.

Linke aus der Mehrheitsgesellschaft sind, möglicherweise stärker als bei anderen Rassismen, nicht weniger anfällig für Antiziganismus. Weil ethnische und/oder religiöse Unterschiede, auf die andere Rassismen oft zurückgreifen, beim Antiziganismus fehlen, wird der Rassismus in diesem Fall bagatellisiert. Geschichten mit „Ich bin kein Rassist, aber die Roma bei uns im Viertel sind wirklich…“ werden herumgereicht und die rassistischen Mobilisierungen werden zu Nachbarschaftsstreitigkeiten kleingeredet. Insbesondere dort, wo Antiziganismus sich als Unmut über vermeintlich konkrete Probleme, wie etwa Müll auf der Straße und Kleinkriminalität, um zwei antiziganistische „Klassiker“ zu nennen, artikuliert, versuchen viele Linke diese Mobilisierungen als fehlgeleiteten sozialen Protest umzudeuten. Dies verstärkt sich im kommunalen Bereich, der in vielen Fällen der Hauptaustragungsort für antiziganistische Mobilisierungen ist. Hier wollen linke Politiker_innen ihre potentiellen Wähler_innen nicht verschrecken, indem sie sich gegen den vermeintlichen „Unmut der Bürger_innen“ stellen und versuchen, die rassistischen Mobilisierungen einzuhegen ohne sie direkt anzugehen.

Es scheint so, dass viele Linke ebenfalls einen überholten Rassismusbegriff haben und die Debatten der letzten 20 bis 30 Jahre um „Rassismus ohne Rassen“ weitgehend verschlafen haben. Dies wirkt sich verheerend aus, weil gleichzeitig geglaubt wird, dass eine linke Haltung wie ein Schutzschild gegen Rassismus schützen würde – anders gesagt, als könnten Linke keine Rassisten sein. Eine selbstkritische Reflexion der eigenen rassistischen Handlungen bleibt so aus. Weil sie nicht tagtäglich von Rassismus negativ betroffen sind, können deutsche Linke der Auseinandersetzung um den eigenen Rassismus aus dem Weg gehen.

Falsche Antworten und begrenzte Möglichkeiten

Was tun gegen Rassismus im Allgemeinen und gegen Antiziganismus im Speziellen? Zuallererst müssen einige Vorgehensweisen, die bisher oft anzutreffen sind, vermieden werden. So etwa, wenn man Antiziganismus in einzelnen Stadtteilen verortet und dann über „Antifa-Straßexpeditionen“ gegen den „rassistischen Pöbel“ zu lösen versucht. Dies ist bestenfalls unwirksam und kann im worst case dazu führen, dass die Bevölkerung vor Ort sich stärker gegen „außen“ solidarisiert und die Nicht-Deutschen vor Ort als Teil dieser „feindlichen Außenwelt“ ansieht. Ebenso falsch ist allerdings auch die umgekehrte Strategie, die darauf setzt, Rassismus als eine Art fehlgeleiteten sozialen Protest zu deuten und so zu legitimieren. Wenn Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft sich bewusst dafür entscheiden, die Schuldigen für komplexe soziale Probleme gerade bei den Marginalisierten auszumachen, dann sollte diese Entscheidung ernst genommen und nicht entschuldigt oder schöngeredet werden. Auch reine Faktenvermittlung als Mittel gegen Rassismus stößt an seine Grenzen, wie man etwa an Interviews mit Pegida-Demonstrant_innen erkennt: Der gefühlte Anteil der Muslim_innen in Dresden ist „zu hoch“ – die realen Zahlen interessieren die wenigsten bei solchen Protesten.

Zusammenfassend lassen sich drei Hürden ausmachen, die eine adäquate antirassistische Antwort auf Antiziganismus erschweren: Erstens das gesamtgesellschaftliche Schweigen über Rassismus in Deutschland, zweitens und damit verbunden eine Isolierung der Antirassist_innen und drittens der spezifische Charakter des Antiziganismus, wodurch verleugnet werden kann, dass es sich hierbei überhaupt um Rassismus handelt. Antirassist_innen, die in einem solchen Kontext agieren, müssen diese Hürden bei ihrem Vorgehen berücksichtigen. Daraus ergibt sich eine Strategie, die sehr viel Geduld und „langen Atem“ von den Aktivist_innen und gleichzeitig eine größere Solidarität seitens der Linken aus der Mehrheitsgesellschaft einfordert.

Um gegen Antiziganismus vorzugehen, wird zuerst eine grundlegende Aufklärung über Rassismus nötig sein. Eine ausdifferenzierte Analyse über die spezifische Feindschaft gegen Roma bleibt ohne einen Resonanzraum wirkungslos, solange die Zielgruppe immer noch überholten Begrifflichkeiten und Vorstellungen über Rassismus nachhängt. Gerade in den kommunalen Räumen mit starken antiziganistischen Mobilisierungen wird eine solche Bildungsarbeit gebraucht, die den antirassistisch Orientierten vor Ort die Werkzeuge und Argumentationshilfen liefert. Die Bildungsarbeit sollte verstärkt von denjenigen organisiert sein, die von Rassismus betroffen sind und die Linken sollte diese Arbeit unterstützen. Je nach lokaler und regionaler Situation müssten auch überregionale und bundesweite Strukturen solidarisch eingreifen.

Mit einem antirassistischen Werkzeugkasten ausgestattet wird es möglich, sinnvoll in die kommunalen Konflikte zu intervenieren, um berechtigten Protest von rassistischer Hetze zu unterscheiden. Dort, wo tatsächlich reale soziale Probleme existieren, müssen Linke darauf antworten können. Wenn etwa die Infrastruktur in einem Stadtteil unter Überbelegung von Wohnraum und mangelnder städtischer Versorgung leidet, kann es eine sinnvolle Forderung sein, dass die Kommune mehr im Stadtteil investiert und gegen Vermieter_innen die menschenunwürdigen Wohnraum an Migrant_innen teuer vermieten, vorgeht und städtischen Wohnraum zur Verfügung stellt. Gleichzeitig muss einer Hetze, die nach Sündenböcken bei den Marginalisierten sucht, entgegengetreten werden. Dies muss von Akteur_innen aus der Mehrheitsgesellschaft geleistet werden, die für gesellschaftliche Probleme primär verantwortlich ist. Es sollte den von Rassismus Betroffenen nicht zugemutet werden, sich gegen Rassismus zu wehren und gleichzeitig Lösungen für soziale Probleme zu liefern.

Jenseits einer antirassistischen Strategie für den kommunalen Bereich bedarf es ebenfalls weiterer Korrekturen. So sollte es zu einer Überwindung der Isolierung von Antirassist_innen kommen, die von zwei Seiten erfolgen muss. Linke aus der Mehrheitsgesellschaft müssen bereit sein, ihre privilegierte Stellung in Frage zu stellen und ihre Ressourcen mit den Marginalisierten zu teilen. Antirassist_innen müssen stärker differenzieren zwischen intendierten rassistischen Sprechakten und Äußerungen, die rassistisch wirken, aber aufgrund von fehlendem Wissen und Erfahrungen entstehen. Bei solchen Äußerungen wirkt eine schnelle Skandalisierung kontraproduktiv, weil die Sprechenden sich auf den „ich bin doch kein Rassist“-Standpunkt zurückziehen können und aufgrund ihrer privilegierten Stellung der weiteren Auseinandersetzung aus dem Weg gehen können. Hier müssten stattdessen Lernprozesse von Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft stärker unterstützt werden, um ihnen einen Ausweg aus rassistischen Denkweisen zu ermöglichen. Diese antirassistische „Entwicklungshilfe“ mag anstrengend sein – es führt kein Weg daran vorbei.

Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen“11

Die Lehre aus den Irrungen und Wirrungen der antirassistischen Praxis der letzten Jahrzehnte ist, dass es in einer rassistisch geprägten Gesellschaft keine geschützten Räume und auch keine festen Errungenschaften gibt, sondern Antirassismus eher einer Sisyphusarbeit gleicht. Dies kann man als Anlass zur Resignation sehen – oder als eine Aufforderung, mit langem Atem und Gelassenheit zu agieren. Der Kampf gegen Rassismus im Generellen und gegen Antiziganismus im Speziellen ist sicherlich von vielen Rückschlägen gekennzeichnet. Aber es ist vielleicht doch ein kleines Hoffnungszeichen, dass inzwischen mehr und mehr der menschenfeindliche Charakter solcher Ideologien erkannt wird und auch innerhalb der Mehrheitsgesellschaft Stimmen auftauchen, die sich dagegen erheben. Wenn inzwischen Rassist_innen Abwehrkämpfe führen müssen, um früher unhinterfragte rassistische Bezeichnungen (wie etwa „Zigeuner“) zu retten, dann zeigt sich, dass der Kampf um Emanzipation nicht ganz verloren ist.

Handlungstipps

Von AK Antiziganismus im DISS

Als Anregung zur Weiterarbeit präsentieren wir in diesem abschließenden Kapitel eine Sammlung von Tipps und Empfehlungen, die bei unserer Beschäftigung mit dem Thema Antiziganismus auf kommunaler Ebene entstanden sind. Dabei handelt es sich nicht um ein umfassend ausgearbeitetes Konzept. Wir hoffen, dass unsere Leser_innen die eine oder die andere Idee aufnehmen und für sich weiterentwickeln.

Eine Erfahrung, die wir auch an uns selbst gemacht haben, war die Erkenntnis, dass die Selbstdefinition ‚links’ und die Zugehörigkeit zur ‚linken Szene’ nicht automatisch bedeuten, dass das eigene Denken und Handeln frei von historisch gewachsenen rassistischen oder antiziganistischen Stereotypen ist. Auch wer sich als links und antirassistisch definiert, kann unbewusst dazu beitragen, die rassistischen und antiziganistischen Strukturen in der Gesellschaft zu reproduzieren. Deshalb ist (Selbst-)Reflexion der bestehenden Verhältnisse sowie des individuellen Denkens und Handelns der erste (kleine) Schritt zur Veränderung. Darüber hinaus sollte aber ein weiterer Schritt vollzogen werden hin zu praktischer Arbeit in Verbänden, Initiativen und Institutionen sowie in der Wissenschaft.

Der politischen Bildung kommt dabei ein enormer Stellenwert zu, für Rassismus und Antiziganismus zu sensibilisieren. Dabei sollte sie allerdings nicht der Versuchung erliegen, selbst zu ‚ethnisieren‘, wie es auch in der wohlmeinenden populärwissenschaftlichen Literatur immer wieder vorkommt, und erklären zu wollen, wie die vermeintliche ‚Natur’ oder das ‚Wesen’ von Rom_nija ‚wirklich’ beschaffen sei.

Grundsätzliches

  • Nicht nur über die Betroffenen, sondern mit ihnen reden und vor allem sie selbst reden lassen. Betroffene sind die südosteuropäischen Migrant_
    innen und nicht die Anwohner_innen.
  • Nicht in die wohlstandschauvinistische Falle tappen und zwischen ‚nützlichen‘ und ‚unnützen‘ Migrant_innen bzw. ‚echten Verfolgten‘ und vermeintlichen ‚Wirtschaftsflüchtlingen‘ unterscheiden. Es ist beispielsweise fatal, Anwohner_innen einer geplanten Unterkunft für Asylsuchende mit der Information, es seien ja syrische Kriegsflüchtlinge und keine Rom_nija, die dort wohnen werden, beschwichtigen zu wollen.
  • Rassismus direkter, struktureller oder institutioneller Art immer als solchen benennen und nicht als ‚berechtigtes Anliegen betroffener Bürger_
    innen‘ bagatellisieren. Man kann Rassismus nicht bekämpfen, indem man den Rassist_innen auf halbem Wege entgegenkommt.

Kommunalpolitik und Bildungsarbeit

Die Themen Migration und Rassismus sollten zu einem zentralen Thema in der kommunalpolitischen Arbeit gemacht werden. In erster Linie ist die Schaffung von Problembewusstsein zentral; gerne wird suggeriert, dass die Pegida-Bewegung eine rassistische Splittergruppe sei, die im Querschnitt der Bevölkerung auf umfassende Ablehnung stößt. Dass aber Rassismus – und Antiziganismus im Besonderen – nicht ausschließlich ein Phänomen rechter Ideolog_innen ist, sondern tief in der Mehrheitsgesellschaft wurzelt, zeigt die hier vorliegende Analyse. Wenn in einer Stadtgesellschaft die Ablehnung von Rom_njia manifest wird und die Migrationsgegnerschaft von Teilen der Bevölkerung in Form von Demonstrationen oder ähnlichem auf die Straße getragen wird, gilt es, vor allem auch die in der jeweiligen Stadt vorhandenen Gegenkräfte zu stärken, die sich gegen Rassismus, Ausgrenzung und für emanzipatorisches Zusammenleben engagieren. Diese Unterstützung sollte dabei die Grenzen des jeweiligen eigenen politischen Spektrums überschreiten und sowohl parteipolitische als auch zivilgesellschaftliche Akteur_innen einbeziehen.

  • Kritische Begleitung der Medienberichterstattung und der Polizeimeldungen: Meldungen, wie bspw. die zu „3000 Tatverdächtigen“ (Der Westen 09.08.2013a) gilt es zu hinterfragen. Berichterstattung, die rassistische Stereotype reproduziert, kann durch Beschwerden beim Presserat oder durch direkten Kontakt mit der Redaktion teilweise eingedämmt werden.

Außerdem ist es wichtig, mittels eigener Öffentlichkeitsarbeit gegen unrechtmäßige Razzien in Wohnungen von südosteuropäischen Migrant_innen, gegen Racial Profiling und Polizeiwillkür klar Stellung zu beziehen. Bei Verdacht auf rassistisch motivierte Straftaten (z.B. Übergriffe, Bedrohungen, Sachbeschädigungen oder Brandstiftungen in Unterkünften von Asylsuchenden) gilt es, diesem nachzugehen.

  • Wenn der Eindruck erweckt wird, wir lebten aufgrund von Migration in einer Notstandsituation, sollte energisch widersprochen werden. Wenn sich die Situation durch Untätigkeit, Unfähigkeit oder gar aus politischem Kalkül zuspitzt, sollte dies skandalisiert werden. Es reicht z.B. im Falle der ‚Zeltstadt‘ in Walsum nicht aus, die Suche nach alternativem Wohnraum zu unterstützen. Man sollte sich nicht scheuen, die Unfähigkeit und den Unwillen von verantwortlichen Politiker_innen zu benennen und zu kritisieren.
  • Das Thema Kriminalität ist von besonderer Relevanz. Der Vorstellung, dass eine spezifische „osteuropäische Kriminalität“ eine besondere Qualität annähme, und deren Bekämpfung der Rechtsstaat nicht bewältigen könne, birgt die Gefahr, dass der Rechtsstaat an sich infrage gestellt wird, indem er nicht mehr für alle Menschen gleichermaßen gelten soll. Dem gilt es entgegenzutreten.
  • Bei Beschwerden von Anwohner_innen sollte man genau hinsehen: Gibt es einen realen Kern und lassen sich die Umstände verändern, z.B. durch die Gewährleistung einer funktionierenden Müllentsorgung? Oder hat man es mit übertriebener Aufregung der Bürger_innen und rassistischer Unterfütterung der Beschwerden zu tun? Auch wenn der Versuch, einen Konsens herzustellen Priorität hat, sollte man weder den rassistischen Ressentiments auf den Leim gehen, noch pauschal alle, die die Zustände kritisieren, als Neonazis bezeichnen. Außerdem müssen Übertreibungen und Facebooklegenden wie etwa die ‚Organmafia‘ schnell als solche entlarvt werden.
  • Konsensuale Lösungen wie Runde Tische sind eine Möglichkeit, um Konflikte im Stadtteil zu entschärfen. Diese sollten aber unter Einbeziehung der betroffenen Mitgrant_innen aus Südosteuropa stattfinden und nicht nur aus Sozialarbeiter_innen, Vertreter_innen der Polizei sowie Anwohner_innen bestehen. Dabei ist es wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, bei der sich die Migrant_innen nicht an den Pranger gestellt fühlen.
  • Förderung von Projekten, die auf die Bedürfnisse der südosteuropäischen Migrant_innen ausgerichtet sind und auf Bevormundung und Stigmatisierung verzichten. Als positives Beispiel wäre eine Broschüre der ‚Internationalen Initiative Hochfeld‘ „Willkommen in Duisburg – Wegweiser für Neu-EUBürger/innen aus Bulgarien und Rumänien in Duisburg“ (Internationale Initiative Hochfeld (2013) vgl. auch Der Westen 17.04.2013) zu nennen. Die mehrsprachige Broschüre ist ein Ratgeber, wie man sich in Duisburg zurechtfindet und welche Rechte man als EU-Bürger_in hier hat.
  • Gewährleistung der zustehenden Rechte und Eintreten für menschenwürdige Lebensbedingungen: Arbeitsrechtliche Fragen müssen thematisiert und die vor allem in der Fleischbranche, im Bau- und Hotelgewerbe verbreitete Ausbeutung bei den Arbeitsverhältnissen der Migrant_innen aus Südosteuropa muss bekämpft werden. Zustehende Rechte wie bspw. der gesetzliche bzw. tarifliche Mindestlohn, aber auch der Anspruch auf Arbeitslosengeld I oder II müssen durchgesetzt werden. Um dies zu gewährleisten, muss auch konsequent Diskriminierung beim Jobcenter und anderen Behörden thematisiert und bekämpft werden. Außerdem ist kompetente und unentgeltliche Beratung notwendig. In Dortmund und anderen Städten wurde z.B. vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) die Beratungsstelle ‚Faire Mobilität‘ initiiert, die für Arbeitnehmer_innen, die von ihrem Recht auf Freizügigkeit Gebrauch machen, eine erste arbeits- und sozialrechtliche Beratung leistet (vgl. Faire Mobilität 2014).
  • Ebenso gilt es, sich für menschenwürdige Lebensbedingungen von Asylsuchenden einzusetzen. Dazu gehört v.a. eine dezentrale Unterbringung anstelle von Massenunterkünften, wie etwa in Turnhallen, Containern oder in ‚Zeltstädten’ wie in Duisburg-Walsum und die Festsetzung von verbindlichen Mindeststandards.
  • Der Abbau von antiziganistischen und rassistischen Denk- und Verhaltensweisen in den Institutionen ist ein wichtiges Arbeitsfeld. Erforderlich wären Schulungen von Mitarbeiter_innen von Behörden, wie dem Jobcenter, dem Einwohnermeldeamt, der Polizei und dem Ordnungsamt. Es sollte zu einer Auseinandersetzung mit der vorurteilsbehafteten Behandlung der Betroffenen kommen und durch Vorträge, Workshops und interventionistische Erwachsenenbildung ein antirassistisches, aufklärendes Klima geschaffen werden.

 

1 Wobei kritisch anzumerken ist, dass auch der Begriff „Migration“ von einem Problem- und Defizitdiskurs getragen wird. Geht es um hochqualifizierte Migration, um Intellektuelle, Künstler_innen oder Wissenschaftler_innen, ist dagegen meist von „Internationalität“ die Rede.

2 Allein im Jahre 2013 wanderten 3608 Rumänen und Bulgaren aus Duisburg ab (Quelle: Stadt Duisburg, Stabstelle für Wahlen, Europaangelegenheiten und Informationslogistik).

3 Die Richtigkeit, der im Artikel dargelegten Zahl tatverdächtiger Rumänen und Bulgaren (2974 im ersten Halbjahr und in nur zwei Stadtteilen) ist durchaus anzuzweifeln. Laut dem Kriminalitätsbericht der Duisburger Polizei über das Jahr 2013 beläuft sich die Zahl rumänischer und bulgarischer Tatverdächtiger im gesamten Jahr und in der gesamten Stadt auf insgesamt 1943.

4 Stellenweise wird diese populistische Diskursstrategie um die Dimension einer Betroffenheit erweitert, so sei „EU-Sozialkommissar Andor […], anders als die einheimische Bevölkerung […] von den…Folgen dieser erneuten Zuwanderungswelle nicht betroffen“ (WAZ 11.02.2014b).

5 Unter Sagbarkeitsfeld verstehen wir einen Rahmen für alle möglichen Aussagen in einer Gesellschaft in einer bestimmten Epoche. Dieser Rahmen bestimmt, was sagbar ist und was nicht geäußert werden kann und darf (vgl. Jäger 2010, 106).

6 So stimmen einer repräsentativen Studie zufolge im Jahr 2014 größtenteils über 50% der Bevölkerung folgenden Aussagen zu: „Sinti und Roma sollten aus den Innenstädten verbannt werden“ (47,1%); „Ich hätte Probleme damit, wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten“ (55,4%); „Sinti und Roma neigen zur Kriminalität“ (55,9%) (vgl. Decker et al 2014, 50).

7 Einerseits leben Sinti_ze, Rom_nija, Jenische und weitere Minderheitengruppen teilweise bereits seit Jahrhunderten bzw. Jahrzehnten in dem Gebiet des heutigen Deutschlands, andererseits handelt es sich nicht bei allen Migrant_innen aus Südosteuropa um Roma.

8Diese Behauptung erweist sich als Mythos (vgl. ZEIT 29.08.2014).

9 Was ihnen bei ihrer Wortwahl vermutlich nicht bewusst war: Die Duisburger Sinti_ze wurden ab 1943 nach Auschwitz deportiert und ermordet, und die dabei federführende Duisburger Polizei benutzte damals dafür den Begriff ‚Umsiedelung‘ (vgl. Dietzsch u.a. 2014).

10 Im Original: „Zigeuener halt das sind keine menschen weil die selbst wie tiere leben“

11 Camus, Albert (2004): Der Mythos des Sisyphos, Reinbek: Rowohlt, 6. Aufl., S. 159f.