Ukraine: Keine einfachen Antworten

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Ein Kommentar von Rolf van Raden ((Rolf van Raden war im Rahmen einer Studien- und Recherchereise des Deutsch-Französischen Jugendwerks im Mai 2014 in der Ukraine und hat sich in Lviv und Kiew mit politischen Akteur*innen sowie Vertreter*innen von Nichtregierungsorganisationen und sozialen Projekten getroffen.)). Erschienen in DISS-Journal 27 (2014)

Allen einfachen Erklärungsansätzen zum Trotz: In der Ukraine hat es keinen faschistischen Putsch gegeben. Die Einbindung ultranationalistischer Organisationen in zentrale politische Prozesse ist trotzdem besorgniserregend.

Frankreich, Dänemark, Österreich nach den Europawahlen: Rechte Parteien haben Ergebnisse von zum Teil über 20 Prozent erziehlt. In Griechenland wird die offen neonazistische Goldene Morgenröte drittstärkste Kraft. Welch vordergründig andere Meldungen hören wir da aus der Ukraine: Bei den Präsidentschaftswahlen hatten die Kandidaten der rechtsradikalen Parteien nicht den Hauch einer Chance. Ist die Angst vor der Swoboda-Partei und vor dem militanten Rechten Sektor also nur eine Mischung aus westlicher Hysterie und russischer Propaganda?

Leider nicht. Das besondersVerstörende an der Situation in der Ukraine ist nämlich nicht, dass es dort ultranationalistische Organisationen gibt. Die gibt es anderswo in Europa auch, und auch dort versuchen sie, mit sichtbaren Symbolen eine Hegemonie im öffentlichen Raum zu erlangen. Bei einer Reise etwa durch den Westen der Ukraine fällt ein Unterschied allerdings sofort auf: Widerstand gegen die rechten Hegemonieansprüche sieht man hier kaum. Ultranationalistische Plakate werden nicht abgerissen, übermalt oder kommentiert. Mit einer Strategie der Besetzung öffentlicher Räume sind die nationalistischen Organisationen erfolgreich.

Damit ist allerdings längst noch nicht alles gesagt. Ein genauer Blick ist nötig, um zu verstehen, was die rechten Symboliken genau bedeuten und welche Inhalte zum Beispiel mit dem Kult um den faschistischen Partisanenführer Stepan Bandera verbunden sind. Sind nun alle, die Bandera als Nationalheld verehren, selbst Faschist*innen? Nein, sind sie nicht. Viele beziehen sich dabei nämlich keineswegs positiv auf Banderas zeitweilige Kollaboration mit den Nazis während des Zweiten Weltkriegs, sondern streiten diese historischen Fakten sogar ab. Insgesamt ist rund um Bandera eine revisionistische Geschichtsschreibung verbreitet, in der auch seine Rolle als faschistischer Politiker geleugnet wird. Auch die Mitverantwortung der Partisanen der OUN-B für Pogrome, Vertreibungen und Massenmorde wird abgestritten. So können sich Nationalist*innen unterschiedlicher Couleur heute positiv auf die nationalistischen Partisanen beziehen.

Dieser Geschichtsrevisionsmus ist aber kein beruhigendes Phänomen, etwa nach dem Motto: Die ultrarechten Symbole bedeuten dann ja was anderes, sind also harmloser. Vielmehr ermöglicht die selektive Rezeption der Geschichte aktuell eine Entwicklung in den rechten Organisationen, die zumindest in gewissen Zügen der Bewegungsphase der Faschist*innen im Italien der Jahre 1919 bis 1921 gleicht: Besetzung öffentlicher Räume, Inszenierung als oppositionelle Anti-Partei gegen korrupte Machthaber*innen, Institutionalisierung der Macht im Duktus der Opposition.

Weil die Stärke der rechten Organisationen in der Ukraine sich aktuell aus einem Oppositions-Duktus heraus speist (obwohl Swoboda inzwischen in der Westukraine institutionell stark verankert ist), ist es falsch, davon zu sprechen, Faschist*innen hätten die Macht übernommen. An den Schalthebeln der Macht sitzen nach wie vor vor allem Oligarch*innen und Mitglieder eines seit jeher staatsnahen Establishments. Aber es gibt eine Bewegungsphase ultrarechter Organisationen. Der militant-paramilitärische Rechte Sektor konnte innerhalb von nur sechs Monaten zu einer großen Organisation mit wohl etwa zehntausend Mitgliedern werden. Das Establishment reagiert darauf mit einer Strategie der Einbindung der rechten Kräfte, um sie zu zähmen, und um die Frustration über die Verhältnisse nationalistisch nach außen zu kanalisieren, insbesondere in Richtung Russland.

Tatsächlich scheint die rechtsradikale Swoboda-Partei durch ihre Regierungsbeteiligung an Zustimmung zu verlieren. Gleichzeitig entsteht durch die strukturelle Einbindung aber eine neue institutionelle Basis, auf welche die Rechten aufbauen können. Insbesondere scheint die Strategie für den Rechten Sektor aufzugehen: Mitglieder der paramilitärischen Gruppe regieren offiziell nicht mit, lassen sich aber in staatliche Sicherheitsorgane integrieren. Gleichzeitig weigert sich die Organisation, ihre Waffen abzugeben und das staatliche Gewaltmonopol anzuerkennen, wodurch sie weiterhin als widerständige ‚Hüterin der Revolution‘ wahrgenommen wird, die es ‚denen da oben‘ zeigt.

Dass die rechtsradikalen Kandidaten bei den Präsidentschaftswahlen unbedeutend geblieben sind, widerlegt diese Beobachtungen keineswegs. Schließlich fand keine Parlamentswahl statt, sondern nur eine Präsidentschaftswahl. Hier gewinnt, wer am Ende mehr als 50 Prozent der Stimmen holt. Weil angesichts der ukrainischen Verhältnisse sowieso ausgemachte Sache war, dass der Posten an einen Oligarchen geht, spiegelt sich im Ergebnis nicht die tatsächliche prozentuale Zustimmung zu Swoboda und Rechtem Sektor wider. Trotzdem wären beide Gruppen auch bei Parlamentswahlen aktuell weitab einer Mehrheit. Das beruhigt angesichts der Bereitschaft der konservativen und liberalen Kräfte, Bündnisse mit ihnen zu bilden, allerdings nur bedingt.