Erfolgreiche Kommunikation?!

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20 thesen zur kommunikativen unangemessenheit von textproduktion und textbeurteilung in der heutigen schule. Von Siegfried Jäger.

 Erschienen in Linguistische Berichte 45 (1976), S. 77-82.

1.

Unter ‚text‘ verstehe ich jede geschriebene oder gesprochene äußerung. Eine äußerung hat dann eine bedeutung, wenn sie phonologisch/graphematisch, morphologisch/syntaktisch und semantisch so gestaltet ist, daß ein hörer/leser die äußerung als bedeutungsvolle einheit ansehen kann und in der lage ist, diese äußerung potentiell als Widerspiegelung von realität, vermittelt über bewußtseins-tätigkeit, zu interpretieren, ohne daß er dazu einen bestimmten weiteren, äußeren kontext sprachlicher oder nichtsprachlicher art als verständnishilfe benötigte. Äußerungen, die für Sprecher der deutschen sprache eine bedeutung haben können, sind z.b.:

a)  Das haus steht auf dem see.
b) Der zwerg ruderte über den berg.
c)  Ford bleibt Ford.
d)  Hol mir das auto vom mond.
e)  Morgen ich gehen kaputt nach Sizilia.
f)  Der fleischer verkaufte sein fleisch, der arbeiter seine knochen.
g) Dat hat dä jets grade unheimlich extrem dagestellt.
h) „Da er Raat hieß (…) und ins dunkel.“ (Statt der pünktchen ist der rest von H. Manns roman „Professor  Unrat“ einzusetzen.) u.a.

2.

Alle diese äußerungen haben für einen Sprecher der deutschen sprache zwar bedeutung, aber sie haben, so wie sie hier stehen, keinen sinn. Sinn erhielten oder haben diese sätze nur, wenn sie von jemandem für jemanden mit einer be­stimmten erkennbaren intention geäußert worden sind oder werden. (So sind alle beispiele in den üblichen grammatiken und sprachlehrbüchern sinnlos, was nicht heißt: zwecklos. Hier äußert sich zwar jemand für jemanden und verfolgt damit einen bestimmten zweck. Er ist dem geäußerten satz aber nicht zu entnehmen: sein inhalt ist gleichgültig.)

3.

Eine sinnhafte äußerung ist noch nicht unbedingt für jeden adressaten kommunikativ angemessen. Erforderlich dazu ist, daß sie von dem jeweiligen adressaten auch als sinnhafte äußerung erkannt wird. Sinnhaftigkeit konstituiert sich erst in der jeweiligen kommunikationssituation. Für den einzelnen adressaten fallen sinnhaftigkeit und kommunikative angemessenheit zusammen; vom sprecher her betrachtet können sie auseinanderfallen: der eine adressat versteht ihn, während der andere ihn nicht versteht.

4.

Die Voraussetzung von bedeutung, sinnhaftigkeit und kommunikativer adäquanz, wie die beispiele unter 1. zeigen, ist nicht, daß die äußerungen der hochsprachlichen norm entsprechen. Die hochsprachliche norm ist also keine not­wendige bedingung für kommunikative angemessenheit.

5.

Texte können bedeutungsvoll sein, aber sinnlos. Texte können einen zweck verfolgen, aber inhaltlos sein. Ein text kann in der einen kommunikationssituation sinnvoll sein, in einer anderen sinnlos; er kann für den einen rezipienten sinnlos sein, während er für den anderen sinnvoll ist. Ein sinnvoller text kann sich erst in einer konkreten Situation als kommunikativ angemessen erweisen, für die unverzichtbare Voraussetzung ist, daß ein hörer/leser anwesend ist und die äußerung versteht. Be­dingung dafür ist die rezeptive bereitschaft, die aktive verstehensarbeit, ernsthaftigkeit usw. auf seiten des hörer/lesers, ebenso wie die antizipation des angesproche­nen durch den sprecher (Da produktion und rezeption von texten in hohem maße schichtspezifisch sind, also bedingt sind durch sozioökonomische faktoren, ist das produzieren und das verstehen von sinnvollen äußerungen nicht allein eine frage individueller dispositionen.). Eine trennung dieser beiden seiten des kommunikationsprozesses (also von produktions- und rezeptionsseite) ist nur analytisch denk­bar. (Solche analytische trennung hat keinen platz im sprachförderunterricht, son­dern ist, als reflexion über sprache, gegenstand von linguistikunterricht) Ein beispiel für das auseinanderfalten von sinnhaftigkeit und kommunikativer angemessen­heit:

Sag ich einem dreijährigen kind: „Hol mir die Kritik der praktischen vernunft aus dem schrank“, dann ist diese äußerung zwar sinnvoll, aber kommunikativ nicht an­gemessen; sagt der philosophieprofessor denselben satz seinem assistenten, dann ist der satz auch kommunikativ angemessen: Der hörer kann ihn verstehen. (Ob er den Kant holt oder nicht, spielt dabei keine rolle — könnte höchstens, wenn die bitte unbegründet ist, das Verhältnis der beiden kommunikationspartner trüben.)

6.

Ist das lernziel für den Sprachunterricht nur der erwerb der hochsprach­lichen norm, kann er auf sinnvolle texte verzichten. Er kann texte verwenden, die eine bedeutung haben und auch solche texte, die keine bedeutung haben. Auf kommunikative angemessenheit kann ebenso verzichtet werden.

Ist das lernziel des Sprachunterrichts die möglichst situationsangemessene kommunikationsfähigkeit als produktions- und rezeptionsfähigkeit, dann müssen in ihm sinnvolle texte produziert werden. Die beschäftigung mit sinnvollen texten (sinnvoll für wen?) allein ist noch nicht ausreichend: Sie müssen den verstehensmöglichkeiten und -dispositionen der schüler entsprechen, d.h. kommunikativ ange­messen sein, was auch immer bedeutet: Sprachunterricht hat die sozioökonomischen bedingungsfaktoren konkreter kommunikation in betracht zu ziehen.

8.

Wenn die beurteilung von texten sich nur nach der norm der hochsprache richtet, ist es nicht erforderlich, daß der beurteilung sinnvolle texte zu gründe lie­gen. Die texte können dann sowohl sinnlos als auch bedeutungslos als auch kommunikativ völlig inadäquat sein. Auch die sozioökonomischen bedingungen von kommunikation können außer betracht bleiben. Selbst wenn die beurteilung die sinnhaftigkeit von texten anzielte, (wobei zu fragen wäre, nach welchen kriterien,) griffe sie zu kurz; sie betrachtete den text abgelöst von seinem situativen kontext, durch den texte erst: konstituiert werden. Dies geschieht im allgemeinen beim derzeitigen aufsatzunterricht und bei der aufsatzbeurteilung (aber nicht nur dort!), bei denen die sinnkonstituierende kommunikationssituation (!) und die sie determi­nierenden soziokulturellen bedingungen außer acht bleiben.

9.

Will die schule / der lehrer die produktion und die rezeption sinnvoller texte fördern und die sprachliche handlungsfähigkeit der kinder verbessern, muß sie / er auf die beurteilung der leistungen (vgl. dazu auch these 14) der kinder, ins­besondere durch noten, sterne, punkte usw. verzichten, da die leistung der kinder am erfolg oder nichterfolg ihres (sprachlichen) handelns sichtbar wird. Erfolg ha­ben kann hier zunächst nur bedeuten: sich so auszudrücken, daß der andere einen versteht. (Der erfolg meiner textproduktion wird erst sichtbar im erfolg deiner textrezeption, der für mich erst sichtbar wird an der art deines (sprachlichen) handelns.)

Der erwachsene (lehrer) kann dabei behilflich sein: hinweisen, verdeutlichen oder auch ablehnen, aber nur als (sprachlich) mithandelnder in der Situation. Wird auf fremdbeurteilung von außerhalb der Situation nicht verzichtet, wird damit die ab­sicht der förderung der kinder faktisch negiert, da die beurteilung nicht bestand teil einer sinnvollen kommunikationssituation ist. Der von außen angelegte maß stab destruiert die intendierte kommunikative handlungssituation, da er nicht deren integrales moment ist. In der beurteilung soll der lehrer zum einen in der situation sein (kommunikationspartner) und gleichzeitig außerhalb derselben (beurteiler): rollendiffusion. –

Selbst wenn der maßstab angemessen wäre, könnte er nur messen, was die Situation den handelnden ohnedies zeigt. Das schließt nicht aus, daß dafür bestimmte be­sondere überprüfungsmöglichkeiten bewußt bereitgestellt werden. Sie dürfen aber nicht, wie allgemein noch üblich, „dem wesen nach (als) … angriffe auf die schüler“ (P. Mauger) aufgefaßt werden.

Der lehrer ist heute noch mit seinem amt zur benotung von texten (zum angriff auf den schüler) verpflichtet, aber auch zur förderung kommunikativer kompetenz: institutionalisierte rollendiffusion.

10.

Ob die inhalte von texten richtig oder falsch sind, ist für erfolgreiche kommunikation, so wie sie in these 9. dargestellt wurde, gleichgültig. Ob der inhalt eines textes richtig oder falsch ist, das entscheidet sich daran, ob der im text dargestellte gegenstand faktisch richtig, d.h. dem unmittelbaren augenschein nach richtig bzw. richtig auf den begriff gebracht ist oder nicht. Letzteres ist eine wissenschaftliche frage. Daher ist eine kommunikation im strengen sinne erst dann als erfolgreich zu bezeichnen, wenn richtige Inhalte so ausgedrückt werden, daß sie verstanden werden können und auch verstanden werden.

11.

Alle wissenschaft ist darum bemüht, gegenstände zu erkennen, was immer heißt, noch unentfaltete gedankenobjekte voll zu entfalten, bzw. auf den begriff zu bringen, derart, daß der materielle gegenstand, den das noch unentfaltete ge-dankenobjekt wiederspiegelt, im begriff aufgehoben ist. Unterricht, der richtiges wissen vermitteln will, hat das zur Voraussetzung. Das ist auch der grund, weshalb lehrer wissenschaftlich ausgebildet werden (sollten). (Ob die gängige wissenschaft es leistet, unentfaltete gedankenobjekte zu entfalten, das ist eine andere frage. Ich nehme sie hier nur bei ihrem anspruch.)

12.

Der erwerb der hochsprachlichen norm ist — wie gezeigt — zwar kommu­nikativ kaum funktional, aber von wert: die beherrschung der sprachnorm erhöht unter den derzeit gegebenen gesellschaftlichen Verhältnissen z.b. der BRD den wert der arbeitskraft. Obwohl es sich um eine nur scheinbare erhöhung des werts der arbeit handelt, zahlt sie sich aus. Es handelt sich nicht um eine gebrauchswerterhöhung, wohl aber um eine tauschwerterhöhung der ware arbeitskraft. Daher ist zur zeit ein unterricht zu befürworten, der auch den erwerb der hochsprachlichen norm fördert (trotz aller hirnrissigkeiten, die diese norm als präskriptive norm be­inhaltet). Das problem, daß damit kommunikativ irrelevantes oder gar dysfunktionales, mit großem Zeitaufwand verbunden, vermittelt wird, bleibt bestehen.

13.

Funktionale einbettung von übungen, die die beherrschung der sprach­norm fördern, in sinnhafte kommunikationssituationen, bietet sich als lösung an, wenn dabei gleichzeitig das nebeneinander kommunikativ nützlicher und unnützer normen problematisiert wird. Das ist notwendig, weil die erkenntnis von Wider­sprüchen abwehrmöglichkeiten gegen eine bewußtseinsspaltung erzeugt, während die verinnerlichung unerkannter Widersprüche zu psychischen Störungen führt, bzw. bereits eine bewußtseinsspaltung bedeutet.

14.

Auf leistung kann nicht, aber auf fremdbeurteilung und angriffe auf die schüler mittels noten etc. könnte verzichtet werden. Das vorurteil der untrennbar­keit von leistung und beurteilung und bewertung von außen muß öffentlich destru-iert werden. An die stelle der zudem zeitraubenden tätigkeit der beurteilung von texten hat eine intensive beschäftigung mit den gegenständen zu treten, mit dem ziel, sie richtig auf den begriff zu bringen und lernmöglichkeiten zu schaffen, die für die vermittlung von richtigen inhalten bzw., für das lernen von richtigen inhal ten bzw., für das lernen richtigen wissens optimal geeignet sind.

15.

Führt der verzicht auf notengebung etc. in der heutigen schule zu chaos und disziplinlosigkeit, so verweist dies auf die folgen, die bisherigem unterricht an­zulasten sind, und auf schule, in der erfolgreiche kommunikation weder im sinne der these 9. und schon gar nicht im sinne der these 10. möglich war. Wie sollte auch unter repressionsverhältnissen gelernt werden können, in selbstverantwortung leistung erbringen zu können? Das verweist gleichzeitig auf die diesen Sachverhalt konstituierenden gesellschaftlichen Ursachen.

16.

Der lehrer hat an seinem arbeitsplatz die möglichkeit und die pflicht, die vorhandenen spielräume so geschickt wie möglich auszunutzen, d.h. jede kleinste stelle zu erkunden, wo er ansetzen kann, um erfolgreiche kommunikation, und das heißt immer auch: die aneignung richtigen wissens, zu fördern. Das ist oft nicht viel und läßt manchen vorschnell resignieren.

17.

Aber: Ein zukünftiger arbeiter, der einen text zusammenfassen und beur­teilen kann, ist erfolgreicher, als ein arbeiter, der das nicht kann; ein zukünftiger arbeiter, der frei reden kann, ist erfolgreicher als einer, der das nicht kann; und: ein zukünftiger arbeiter, der gelernt hat, daß noten nichts naturwüchsiges sind, daß es objektive leistungsbeurteilung nicht gibt, wird erfolgreicher sein, auch die tatsache zu durchschauer, daß seine ausbeutung nicht naturnotwendig ist, nicht objektiver naturnotwendigkeit entspringt, als ein arbeiter, der im glauben daran verharrt, sein Schicksal sei gottgewollt und unaufhebbar. Auch wird er eher in der lage sein, sein wissen an andere zu vermitteln. Er wird also eher dazu beitragen, das vor­handene, aber eher diffuse und ambivalente klassenbewußtsein durch wissen über seine gesellschaftliche lage und die bedingungen ihrer Veränderungen zu ersetzen, als jemand, der das ‚ihr da oben – wir hier unten‘ als unumstößliche naturtat-sache akzeptieren gelernt hat.

18.

Was ist daran neu? Neu ist: Nicht mehr als die ermutigung zum bewußten kompromiss! Aber auch nicht weniger!

19.

Der richtige kompromiss setzt voraus: wissen über die gesellschaftlichen und politischen bedingungen seines faches seitens des  lehrers und damit kritische aufarbeitung seines faches; er setzt ferner voraus: genaue kenntnis der sozialen situation seiner schüler und ihrer eltern, des politischen standorts seiner kollegen, der unmittelbaren vorgesetzten in der administration; ferner: organisierten kontakt mit anderen lehrern usw. usw. Kurz: Der richtige kompromiss setzt voraus, daß der lehrer seine und seiner schüler situation in der gesellschaft erkannt (auf den begriff gebracht) hat und daß er versucht, dieses wissen gemäß seiner situation durchzusetzen. Die durchsetzung ist der richtige kompromiss. Und dieser kann morgen anders aussehen als heute.

20.

Für die spezielle tätigkeit der textbeurteilung heißt das heute: z.b. alle ansätze zu erfolgreicher kommunikation an die erste stelle der werteskala setzen. – Für den lehrer als politisches individuum heißt das: daran mitzuarbeiten, daß die Voraussetzungen, die ihn zu diesem kompromiss zwingen, wegfallen. –