Eine Allianz zwischen arabischem Kulturkonservatismus und den Konzernen könnte die Occupy-Bewegung in Bedrängnis bringen. Ein Kommentar von Jobst Paul, erschienen in DISS-Journal 22 (2011).
In den vorangehenden Beiträgen haben die Verfasser ihre vorläufige Sicht der Dinge mitgeteilt, auch auf die Gefahr hin, von den Entwicklungen überholt zu werden. Ihre Einschätzungen geben – über die mediale Berichterstattung hinaus und ohne repräsentativen Anspruch – weitere Hinweise und Orientierungen, nennen aber auch bereits Kategorien für eine nicht weniger vorläufige, zusammenfassende Analyse.
So scheint sich die Frage des Zusammenhangs zwischen occupy-Bewegung ((Der Begriff steht derzeit für in verschiedenen Ländern jeweils unterschiedlich strukturierte, nicht homogene Bündnisse, die jedoch zumindest auf der Ebene ihrer kritischen Aussagen übereinkommen (dorthin weist auch der Bericht Tsomou/Tsianos/Papadopoulos aus Athen). Nachfolgend verwenden wir den Begriff in diesem Sinn (vgl. auch die nachfolgende Anmerkung) )) und ‚arabischem Frühling‘ schnell zu erledigen: Weder in Madrid, Athen oder Berlin zielten die Protestbewegungen mit ihren bisherigen Aktionen auf den faktischen Umsturz von politischen Führungen. Wenn für occupy die politischen Klassen auch insgesamt am Pranger stehen mögen, so doch wegen ihrer politischen Schwäche gegenüber der Macht ökonomischer Monopole und der Banken. Dies scheint umgekehrt den Wunsch nach starken, nicht-korrupten politisch-demokratischen Institutionen herkömmlicher Art zu implizieren, die soziale Gerechtigkeit durchsetzen. Dementsprechend hat die occupy-Bewegung – als ein aktuelles Ziel – bisher offenbar nirgends die eigene Übernahme von politischer Führungsverantwortung ausgerufen.
Nimmt man den Bericht von Tsomou/Tsianos/Papadopoulos aus Athen zum Maßstab, versucht sie ganz im Gegensatz zur herkömmlichen politischen Theorie, eine alternative Methodik des Demokratischen an sich, vielleicht sogar unter Verzicht auf Regierungen und Parlamente überhaupt anzudenken. Ein programmatischer Verzicht auf Gewalt, dies zeigen zumindest alle gegenwärtigen arabischen Revolutionen, erscheint mit dem revolutionären Sturz herrschender Gewaltregime offenbar unvereinbar.
Ganz in diesem Sinn muss selbstverständlich auffallen, dass die occupy-Bewegung für die arabischen Revolutionäre bisher offenbar kein nachhaltiger Bezugspunkt geworden ist. Umgekehrt hat sie (soweit bisher bekannt) für die Aufständischen in Ägypten, in Lybien, im Jemen oder in Syrien keine Unterstützung organisiert, hat mit ihnen auch nicht in einem nennenswerten Austausch über Ziele und Mittel der Umwälzungen gestanden. Eher scheint eine skeptische Herablassung angesichts des offenen Ausgangs der Machtspiele in Tripolis, Kairo und anderswo vorzuherrschen. Mit dem Motto Zuerst die Menschen, nicht die Finanzen nahmen Globalisierungskritiker bei einer Großdemonstration im Vorfeld des G-20-Gipfels in Nizza am 1. November 2011 (unter Beteiligung der occupy-Bewegung) ((Vertreter der occupy-Bewegung vor allem aus Spanien, aber auch aus den USA und Italien, schlossen sich den insgesamt 40 Initiativen an, darunter attac und Oxfam, die zwischen dem 1. bis 3. November 2011 in Nizza einen Gegengipfel zum G-20-Gipfel in Cannes (4. November 2011) organisierten. Das Bündnis, das seine Proteste monatelang geplant hat, will nicht die Slogans der internationalen occupy-Bewegung benutzen, aber ebenfalls die Strategie der strikten Gewaltlosigkeit verfolgen (vgl. net-tribune.de). Polizeiliche Spezialeinheiten stehen gleichwohl in Warteposition (vgl. zeit.de). )) zwar einen Grundsatz auch der arabischen Linken auf (vgl. Wael Gamal), angesichts der europäischen Finanzturbulenzen spielten aber in den vergangenen Wochen bei occupy-Kundgebungen die arabischen Entwicklungen z.B. hinsichtlich der dortigen Rolle der (westlichen) Banken und Konzerne offenbar keine Rolle.
Bleibt also als einzige emotionale und politische Klammer nur die Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo als der inspirierende Impuls, der die occupy-Bewegung in Gang setzte? Gewiss nicht. In der Vergangenheit haben alle arabischen Gewalt-Regime und die sie umgebenden korrupten Eliten dem von den Vorzeige-Demokratien des Westens nach innen und außen forcierten Neoliberalismus angeschlossen und dafür den Ausverkauf ihrer Rohstoffe, der Umwelt und von menschlicher Arbeitskraft in Kauf genommen. Die mit der Finanzkrise einhergehende Verarmung ihrer Bevölkerungen provozierte den revolutionären Ausbruch.
Doch unversehens kommen so der – der neoliberalen Doktrin verschriebene – Typus der „oligarchischen Demokratie“ des Westens (Tsomou/Tsianos/Papadopoulos) und die Gewaltregime in Nordafrika nebeneinander ins selbe Boot zu sitzen. Die arabischen Revolten haben dieses Resümee mit plötzlicher Evidenz aufblitzen lassen, das die occupy-Bewegung nun demonstrativ in die Hauptstädte des Westens, d.h. zu den Heimstätten des „1%“, von greed und Blindheit, zurückträgt. Und durchaus konsequent geht damit die polemische Zuschreibung an die politischen Führungen des Westens einher, moralisch nicht besser als die nun weggefegten Gewaltregime in Nordafrika zu sein.
Das Bekenntnis der occupy-Bewegung zu demonstrativer Gewaltlosigkeit ((Am 15. Oktober 2011 kam es in Rom dennoch zu Gewaltaktionen, für die jedoch nicht die occupy-Bewegung verantwortlich gemacht wurde (vgl. tagesschau.de) )) ließe eine solche Aussage allerdings als zahnlos erscheinen – wenn sie sich in dieser Funktion erschöpfte. Naomi Kleins Hinweis, die occupy-Bewegung habe einen auf lange Sicht angelegten „Kampf mit den stärksten wirtschaftlichen und politischen Mächten auf dem Planeten“ aufgenommen, lässt das Postulat der Gewaltlosigkeit als Ausfluss taktischer Klugheit erscheinen und unterstreicht, dass die jeweiligen politischen Führungen im occupy-Kalkül nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Mit der unmittelbaren Konfrontation und Adressierung der westlichen Finanzzentren, deren claims im arabischen Frühling durchaus zur Disposition stehen, ist die occupy-Bewegung faktisch den arabischen Revolten mit einer Entlastungsaktion zu Hilfe gekommen. Sie hat zugleich den Moment der bisher größten Evidenz des weltweiten Scherbenhaufens genutzt, um auch sich selbst als künftigen global player, vor allem aber die neue Form ihres Widerstands zu etablieren: die Rückeroberung der Zeit gegenüber der Strategie der Krise und Überstürzung durch die korporative Macht, aber auch gegenüber dem medialen Stakkato der Stereotypen.
Insofern besteht – wie Slavoj Zizek in der SZ vom 27. Oktober 2011 meint – über den Weg einer neuen Protestkultur des Schweigens und der „Verweigerung des Dialogs“ durchaus die Chance für „ein Vakuum im Feld der vorherrschenden Ideologie“, mithin für einen noch unbekannten Sog, den man „vom pragmatischen Feld der Verhandlungen und der ‚realistischen‘ Vorschläge“ allerdings ebenso freihalten sollte, wie von Stirnbändern: Niemand kann derzeit wissen, ob die occupy-Bewegung mit der „Linke(n) der westlichen Welt“ identisch ist und sich uniform der ‚Abschaffung des Kapitalismus‘ verschrieben hat. ((Der Wettlauf, auf den fahrenden Zug aufzuspringen, hat bereits begonnen. So inszenieren sich die Volksbanken und Raiffeisenbanken in ganzseitigen Zeitungsannoncen selbst als Demo-Teilnehmer und suchen so occupy ihrerseits zu okkupieren (siehe Abbildung S. 34), während der Vatikan in der Person Kardinal Peter Turkson‘s, des Leiters des Päpstlichen Rats für Gerechtigkeit und Frieden, eilig eine Schrift vorlegte mit dem Titel: Für eine Reform des internationalen Finanz- und Währungssystems im Hinblick auf eine öffentliche Autorität mit universalen Kompetenzen (Gott gegen das System, in: SZ, 24. Oktober 2011). Nach Aussage Turksons entspreche die Schrift weitgehend den Forderungen der occupy-Bewegung. Tatsächlich aber wiederholt sie lediglich Grundpositionen der Enzyklika Caritas in Veritate (2009), die an Systemkonformität schwerlich überboten werden kann (vgl. Jobst Paul, Der alte Himmel und die alte Erde. Die Enzyklika Caritas in Veritate empfiehlt die Marktwirtschaft und das gemütliche Jenseits. In: DISS-Journal 18/2009).))
Dazu reflektiert occupy zu sehr die Befindlichkeiten des durch materielle Enteignung tief getroffenen Mittelstands in den USA, in Israel und in Europa, der somit als hauptsächlicher Resonanzboden der Bewegung gelten kann. Doch occupy ist auch ein Protest gegen das über viele Jahre verlautbarte neoliberale Diktat an die Jugend, das in Deutschland einst Roman Herzog in eine Ruck-Rede packte: sich eiligst auszubilden, sich extremst zu qualifizieren, ubiquitär verfügbar zu sein und sich selbst möglichst ganz zu vergessen: Es ist kaum etwas geworden aus den versprochenen Spitzenjobs für alle, und was man der Jugend einst als millionenfache Erweckung von Innovationsgeist und intellektueller Frische anpries, hat sich für junge Intellektuelle in Europa in den geradezu obrigkeitsstaatlichen Muff von Bologna und für die jungen Bildungsschichten in den arabischen Staaten in ausgeplünderte Volkswirtschaften verwandelt. Vielleicht deutet sich hier eine Interessen-Allianz der gut ausgebildeten jungen Generationen in Europa ((Christiane Schlötzer (SZ, 25. Oktober 2011) berichtet allerdings aus Griechenland, dass sich am basisdemokratischen Aufbruch – über die Köpfe der bisherigen Parteien hinweg – nicht nur linke, sondern auch bürgerliche, der Mitte angehörige Schichten mit parteiähnlichen Gründungen beteiligen, zum Beispiel Unternehmer, Rechtsanwälte und Professoren.)) und im Mittelmeerraum an, über die auch kleinschrittige und naive Anfänge ((Nach Moritz Koch (SZ, 28. Oktober 2011) sind unvermutete Eskalationen möglich. So geht z.B. die Protestbewegung in Oakland – nach der schweren Verletzung eines Demonstranten – bereits in eine kritische Phase über. Nachdem Polizeikräfte immer mehr zu Räumungen übergehen und auch Anwohner zu Feinden werden, drohen Straßenschlachten. Eine Schlagzeile vom 20. Oktober 2011 zur Lage in Athen – In Athen liegen die Steine bereits auf der Strasse – deutet in dieselbe Richtung (tagesschau.sf.tv). Der dann wieder verworfene Beschluss des griechischen Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou vom 1. November 2011, das neueste Finanzrettungspaket der EU der griechischen Bevölkerung in einem Referendum vorzulegen (welt.de), kann als Versuch gewertet werden, im letzten Moment die Legitimation der gesamten politischen Klasse Griechenlands doch noch zu retten. Am Vortag, den 31. Oktober 2011, hatte es in Athen gewaltsame Demonstrationen gegen das EU-Paket gegeben (occupiedlondon.org) )) oder gar ostentative Harmlosigkeit ((„Erneut wollen heute um 12.30 Uhr Kapitalismus-Kritiker in Berlin auf die Straße gehen und gegen die Macht der Banken demonstrieren. Die Aktion beginnt um 12.30 Uhr am Neptunbrunnen vor dem Berliner Rathaus. Die Demonstranten wollen dann über die Karl-Liebknecht-Straße, die Torstraße und die Friedrichstraße bis in die Nähe des Reichstages ziehen. Es könne zu Verkehrsbehinderungen kommen, sagte ein Polizeisprecher. Die Veranstalter rechnen mit 700 Teilnehmern.“ Ankündigung einer Occupy-Demo in einer Berliner Stadtteilzeitung, danach auch in Die Welt (Online-Ausgabe) vom 29. Oktober 2011.)) nicht hinweg täuschen sollten.
Darüber hinaus scheint die westliche occupy-Bewegung keineswegs planlos und unvorbereitet zu agieren. Sie reflektiert selbstkritisch die Vorgeschichte harter Anti-Globalisierungstreffen und ihrer jeweils nationalen Protestkultur und stützt sich auch auf Berater und Vordenker zwischen Athen, Madrid und New York.
In einem bemerkenswerten Artikel unterstreicht Jörg Häntzschel (SZ, 22./ 23. Oktober 2011), dass sich occupy in den USA außerhalb der Protestbewegungen der letzten 45 Jahre ansiedle und sogar die Kampagnenform pro Obama nicht mehr weiterverfolge, da Obama die Bewegung nur instrumentalisiert habe. Das neue Konzept der Selbstorganisation ohne Sprecher, Hierarchien etc. orientiere sich an den Erkenntnissen David Graebers ((London, Goldsmith College. Er ist auch Verfasser von Toward An Anthropological Theory of Value: The False Coin of Our Own Dreams (2001), Fragments of an Anarchist Anthropology (2006), Lost People: Magic and the Legacy of Slavery in Madagascar (2007).)) in seinem Werk Direct Action: An Ethnography (2009). Darin analysiert der Autor, der schon im Juli und August an occupy-Treffen in East Village/Manhattan teilnahm ((Nach Häntzschel nahmen auch spanische und griechische Vertreter an Sitzungen der general assembly in New York teil.)), die neuen gruppendynamischen Aktionsformen, die er während der vergangenen Jahre bei militanten Massenprotesten beobachtet hatte.
Von Einfluss sind danach auch die Analysen von Antonio Negri und Michael Hardt (Empire), die Hacker-Gruppe Anonymous, das Manifest Der kommende Aufstand / L’insurrection qui vient und ein Aufsatz von Joseph Steglitz im Mai-Heft von Vanity Fair (Of the 1%, by the 1%, for the 1%), der insbesondere der amerikanischen occupy-Bewegung das Motto gab.
Doch wie sieht es auf der Seite der erfolgreichen arabischen Revolutionsstaaten aus? Werden sie sich zu Speerspitzen gegen die Macht der westlichen Zentralbanken entwickeln – und damit ihrerseits der occupy-Bewegung zuarbeiten? Werden sie ihre Volkswirtschaften aus dem Zugriff internationaler Konzerne und fremder Regierungen befreien können, um jeweils eigene Systeme von Produktion und Distribution entwickeln zu können? Werden sich die strikten, aber doch reformorientierten Konzepte, die in unseren Beiträgen zur Lage in Ägypten konkretisiert werden, durchsetzen?
Glaubt man Vertretern einer eher ‚realpolitischen‘ Sicht (FAZ, 28. Oktober 2011, S. 14), so verschleppt insbesondere der ägyptische Militärrat die überfälligen Reformen im Wirtschaftsbereich und spielt trotz des wirtschaftlichen Stillstands auf Zeit. Das Land stecke – so die Einschätzung weiter – mitten in einer Finanzkrise, lehne aber Verhandlungen mit dem IWF ab. 60 % aller Arbeitslosen in Ägypten und Syrien sind danach zwischen 15 und 24 Jahre alt, wobei jedes Jahr 700.000 Ägypter mehr auf den Arbeitsmarkt strömen. Da die ägyptische Wirtschaft aus eigener Kraft keine international konkurrenzfähige Wertschöpfung betreiben könne, sei eine soziale Krise absehbar, die nur durch eine massenhafte Selbstständigkeit nomineller Kleinunternehmer gedämpft werden könne.
Derweil zeichnet sich unter den erheblich komfortableren Verhältnissen in Tunesien und unmittelbar nach den dortigen Wahlen zur verfassungsgebenden Versammlung das für den arabischen Raum wahrscheinlich insgesamt maßgebliche Modell einer Arbeitsteilung ab, auf die wohl auch der ägyptische Militärrat spekuliert: Während auch in Tunesien die Revolution von der Mitte der verarmten Bevölkerung ausging und schließlich in die ordnenden Hände von Intellektuellen überging, werden nun in der Mehrheit Vertreter der islamischen, religiös-kulturkonservativen En Nahda die tunesische Verfassung konzipieren.
Gewiss – der vermutliche Übergangsregierungschef Hamad Jebali hat bereits eine Garantie aller bürgerlichen Freiheitsrechte ausgesprochen und damit die freiheitliche Tradition Tunesiens unterstrichen (Sonja Zekri, SZ vom 28. Oktober 2011, S. 8). Es gibt jedoch noch einen ganz anderen Grund, die ‚islamistische‘ Gefahr in Tunesien und darüber hinaus für sehr unwahrscheinlich zu halten: Jebali hat auch Einschränkungen im Bereich der Wirtschaft abgelehnt. Islamische Banken werde es nicht geben, meinte er, schließlich sei man aufs engste mit Europa verflochten. Zuvor hatte sich bereits der En Nahda-Gründer Rachid Ghanouchi (SZ vom 25. Oktober 2011) entsprechend des Beispiels der Türkei für eine Vereinbarkeit von Islam und Modernität, d.h. von Islam und Wirtschaftsboom ausgesprochen. Und noch während die Kämpfe anhielten, kam es zu Audienzen des Chefs des libyschen Übergangsrates, Mustafa Abdel Dschalil, für westliche Staatschefs und hohe Diplomaten, um künftige Kooperationen abzusprechen.
Man wird es dem Mittelstand der arabischen Staaten nicht verdenken dürfen, in die Fußstapfen anderer, z.B. europäisch-kulturkonservativer, hierzulande z.B. christlicher Parteien zu treten, deren Leitidee in der Regel der eigene Wohlstand und damit auch der Pakt mit Großindustrie und Finanzmärkten war. Anders würde sich nicht erschließen, was christliche Parteien hierzulande über Jahrzehnte hinweg an der Atomenergie fanden. Und so scheinen die arabischen Revolutionen ganz in abendländischer Logik auf die Gewährung bürgerlicher Freiheiten, aber auf die Vertagung der gerechten Gesellschaft hinauszulaufen.
Wenn Revolution im Sinn der revolving doors bedeutet, dass einer (die Oligarchen, die Gewaltherrscher) den Platz räumt, um ihn einem anderen (dem durch Wahlen legitimierten Mittelstand) zu überlassen, so hat ein anderes arabisches Land all dies, unter dem Eindruck der Ereignisse nebenan und ganz ohne Revolution, bzw. in einer Revolution von oben, schon hinter sich (vgl. FAZ vom 28. Oktober 2011, S. 10): Mohammed VI., König von Marokko, legte bereits im März ein Referendum zur Einführung einer parlamentarischen Monarchie auf, das am 1. Juli 2011 ein überzeugendes Mehrheitsvotum der Bevölkerung erhielt. Für den 25. November 2011 sind bereits vorgezogene Parlamentswahlen angekündigt.
Damit ist es dem König gelungen, sich sozusagen als Nachfolger seiner selbst zu etablieren, sich an die Spitze der Reformpolitik zu setzen und der ‚Bewegung der Empörten‘, die sich auch in Marokko gegen die hohe Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen zur Wehr setzt, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Doch seine Eile, die Versöhnung von Islam und Modernität, von religiösem Duktus und weltwirtschaftlichem Denken zu institutionalisieren, hat nicht nur mit der Machterhaltung des Herrscherhauses zu tun.
Vielmehr winkt Mohammed VI. und dem Königreich Marokko eine stattliche Anerkennung: Zwei Jahre nach ihrer Gründung wird die Planungsgesellschaft Desertec Industrial Initiative (DII) in Marokko im Jahr 2012 mit dem Bau eines Pilotkraftwerks zur Produktion von Wüstensolarstrom (500 Megawatt) mit Investitionen von bis zu zwei Milliarden Euro beginnen. Der erste Strom soll 2014, spätestens 2016, in lokale und europäische Netze fließen. Ziel ist (bis 2050) die Abdeckung von 15 % des europäischen Strombedarfs.
Nach Aussage der DII-Chefstrategin, Aglaia Wieland, hat der ‚Arabische Frühling‘ das Vorhaben sogar beflügelt. Die Revolutionen hätten den Bedarf an größerer wirtschaftlicher Stabilität in der Region und damit an mehr Energie gezeigt. DII dürfe allerdings nicht in den Verdacht des Neokolonialismus geraten. Dem sollen die „intensiven Kontakte zu unseren afrikanischen [sic!] Partnern“ entgegenarbeiten. In diesem Sinn eröffnet DII nun auch Büros in Tunis und Rabat. Wenn man es schaffe, so Wieland, „die Volkswirtschaften dort zu stabilisieren, müssten junge Leute nicht mehr ihr Leben riskieren und im Schlauchboot nach Europa kommen.“ ((Vgl. DIE ZEIT, 29.9.2011 Nr. 40: Zur Sonne, zur Freiheit. Die Chefstrategin des Wüstenstrom-Projekts DESERTEC, Aglaia Wieland, hat sich einer großen Idee verschrieben.))
Sollte die Lesart zutreffen, dass die arabischen Revolutionen zur Freiheit führen sollen – zur Freiheit der dortigen mittelständischen Eliten, sich wie ihre europäischen und nicht zuletzt deutschen Gegenparts am Kuchen einer an Gerechtigkeit uninteressierten Weltwirtschaft ‚wie gehabt‘ zu beteiligen, dann hat die westliche occupy-Bewegung ein zusätzliches Problem, vielleicht aber auch eine potenzielle Unterstützer-Fraktion mehr: die Fraktion der intellektuellen Organisatoren der arabischen Revolten, deren Erfolg und Arbeit vereinnahmt und kassiert wurde. Von daher hat die occupy-Bewegung gute Gründe, sich stärker als bisher jenem ‚arabischen Frühling‘ zuzuwenden, auf den sie sich legitimierend berufen hat.