Rede zur Versammlung Occupy Wall Street, am 6. Oktober 2011 ((Vgl. naomiklein.org. Übersetzung: Jobst Paul)), von Naomi Klein. Erschienen in DISS-Journal 22 (2011).
[…] Wenn es etwas gibt, was ich sicher weiß, dann die Tatsache, dass das ‚eine Prozent‘ Krisen liebt. Wenn Leute in Panik geraten und verzweifelt sind, wenn scheinbar niemand weiß, was man tun soll, dann ist das der ideale Zeitpunkt, um [kurz mal] die Wunsch-Vorstellungen der Wirtschaft politisch durchzusetzen: die Privatisierung der Bildung und der Sozialversicherung, Kürzungen im öffentlichen Dienst, das Abschütteln der letzten Schranken unternehmerischer Macht. Inmitten der Wirtschaftskrise geschieht das überall in der Welt.
Und es gibt nur eines, um diese Taktik zu durchkreuzen, und das ist glücklicherweise ziemlich groß: es sind die 99 Prozent und – dass jetzt die Menschen von Madison bis nach Madrid auf die Straße gehen, um zu sagen: „Nein! Wir werden nicht zahlen für eure Krise.“ Dieser Slogan kam 2008 in Italien auf. Er sprang über nach Griechenland, Frankreich und Irland, und schließlich ist er hier auf der Quadratmeile angekommen, wo die Krise anfing.
„Warum protestieren sie denn?“ fragen die verwirrten TV-Größen. Stattdessen fragt der Rest der Welt: „Warum habt ihr so lang gebraucht?“ „Wir haben uns gefragt, wann ihr endlich rauskommt.“ Und vor allem: „Seid begrüßt.“ Viele Menschen haben Parallelen zwischen Occupy Wall Street und den so genannten Antiglobalisierungsprotesten 1999 in Seattle gezogen, die überall in der Welt beachtet wurden. Das war das letzte Mal, dass eine globale, von der Jugend geführte, dezentralisierte Bewegung direkt auf die korporative Macht zielte. Und ich bin stolz, dass ich daran beteiligt war, was wir „die Bewegung der Bewegungen“ nannten.
Aber es gibt auch wichtige Unterschiede. Zum Beispiel wählten wir die ‚Gipfel‘ als Ziele. Aber die Gipfel der WTO, des Internationalen Währungsfonds und der G-8 sind naturgemäß vergänglich, sie dauern nur eine Woche. Und das machte auch uns vergänglich. Wir tauchten auf, rissen die Überschriften der Weltpresse an uns – und verschwanden wieder. Und in der Raserei des Hypes aus Patriotismus und Militarismus, die den 9/11-Angriffen folgte, war es leicht, uns völlig wegzuwischen – zumindest in Nordamerika.
Dagegen hat sich Occupy Wall Street ein permanentes Ziel vorgenommen. Und ihr habt kein Datum bestimmt, wann ihr diesen Platz verlassen werdet. Das ist klug. Nur wenn man auf einem Ort verharrt, kann man Wurzeln schlagen. Das ist entscheidend. Es ist eine Tatsache des Informationszeitalters, dass zu viele Bewegungen wie schöne Blumen aufgehen, aber schnell wegsterben. Weil sie keine Wurzeln haben. Und weil sie keine Pläne auf längere Sicht haben, wie sie bestehen können. So werden sie weggespült, wenn Stürme kommen.
Nach unten verankert und demokratisch zu sein, ist wunderbar. Aber diese Grundsätze sind mit harter Arbeit verbunden, dem Aufbau von Strukturen und Einrichtungen, die kräftig genug sind, kommenden Stürmen standzuhalten. Ich habe große Zuversicht, dass das geschehen wird. Und noch etwas anderes macht diese Bewegung richtig: Ihr habt euch zur Gewaltlosigkeit verpflichtet. Ihr habt euch geweigert, den Medien die Bilder von gebrochenen Fensterscheiben und von Straßenkämpfen zu präsentieren, nach denen sie so verzweifelt dürsten. Und diese enorme Disziplin hat bedeutet, dass die Story immer und immer wieder auf die skandalöse und grundlose Polizeibrutalität stößt. Von der wir gerade letzte Nacht wieder genug gesehen haben. Inzwischen wächst die Unterstützung für diese Bewegung ständig. Wieder richtig.
Aber der größte Unterschied, den ein Jahrzehnt ausmacht, ist, dass wir uns 1999 einem Kapitalismus auf dem Höhepunkt eines wahnsinnigen Konjunkturaufschwungs entgegenstellten. Die Arbeitslosigkeit war niedrig, die Aktienportfolios quollen über. Die Medien waren gierig auf Geschichten vom schnellen Geld. Alles drehte sich um Firmengründungen, nicht um Pleiten.
Wir haben darauf hingewiesen, dass die Deregulierung hinter dem Hype ihren Preis hatte. Sie war vernichtend für die von den Gewerkschaften erreichten Standards. Sie war vernichtend für die Umweltstandards. Die Unternehmen wurden mächtiger als die Regierungen, und das war vernichtend für unsere Demokratien. Aber – um ehrlich zu sein: Ein auf Habgier gegründetes Wirtschaftssystem einzuführen, während der Boom rollte, war ein schlechter Kauf, zumindest in den reichen Ländern. Denn zehn Jahre später, so scheint es, gibt es keine reichen Länder mehr. Nur noch ein Bündel von reichen Leuten. Von Leuten, die reich wurden, weil sie den öffentlichen Reichtum geplündert und die Bodenschätze rund um die Welt ausgebeutet haben.
Der Punkt ist: Heute kann jeder sehen, dass das System zutiefst ungerecht ist und sich jeder Kontrolle entzieht. Eine ungehinderte Habgier hat die Weltwirtschaft zuschanden gemacht. Und sie macht die natürliche Welt zuschanden. Wir überfischen unsere Ozeane, wir vergiften unser Wasser mit chemischem fracking und mit Tiefsee-Bohrungen und greifen zu den schmutzigsten Energieformen auf dem Planeten – man muss bloß an die Teer-Sande von Alberta denken. Und die Atmosphäre kann die Kohlenstoffmenge nicht absorbieren, die wir produzieren, was eine gefährliche Erwärmung schafft. Die neue Norm sind Serienkatastrophen: wirtschaftlich und ökologisch.
Dies sind die harten Tatsachen. Sie sind so klar, so offensichtlich, dass es heute viel leichter ist, die Öffentlichkeit zu erreichen als 1999 und die Bewegung schnell aufzubauen. Wir alle wissen oder spüren zumindest, dass die Welt auf dem Kopf steht: Wir tun, als gäbe es keine Grenze für das, was begrenzt ist – fossile Brennstoffe und die Atmosphäre, um die Emissionen zu absorbieren. Und wir tun, als gäbe es strenge und feste Grenzen für das, was im Überfluss vorhanden ist: Finanzmittel, um die Art von Gesellschaft zu bauen, die wir brauchen.
Die Aufgabe unserer Zeit ist es, das vom Kopf auf die Füße zu stellen: diesen falschen Mangel herauszufordern. Darauf zu bestehen, dass wir es uns leisten können, eine anständige, integrative Gesellschaft zu errichten – während wie zugleich die realen Grenzen dessen respektieren, was die Erde ertragen kann. Was der Klimawandel bedeutet, ist, dass wir all dies bis zu einem bestimmten Termin tun müssen. Dieses Mal kann unsere Bewegung nicht abgelenkt, geteilt, ausgebrannt oder durch bestimmte Ereignisse hinweggefegt werden. Dieses Mal müssen wir erfolgreich sein. Und ich spreche nicht über die Regulierung der Banken und auch nicht über die Erhöhung der Steuern für die Reichen, obwohl das wichtig ist.
Ich spreche über die Veränderung der grundlegenden Werte, die unsere Gesellschaft regeln. Das passt schlecht in eine einzelne mediengerechte Schlagzeile, und wie man es tun soll, ist auch schwer zu ermitteln. Aber je schwerer das alles ist, um so dringlicher ist es. Für mich geschieht das gerade auf diesem Platz. Wie ihr euer Essen teilt, einander wärmt, wie ihr für die freie Information für alle sorgt, wie ihr medizinische Versorgung, Meditationskurse und Selbstbewusstseins- (empowerment) Kurse organisiert – das alles kommt für mich am besten zusammen im Bekenntnis: Ich kümmere mich um dich.
In einer Kultur, die den Leuten eintrainiert, dem Blick anderer auszuweichen – was soviel ausdrückt wie: „Lass‘ sie sterben“, ist das eine zutiefst radikale Maxime.
Einige Gedanken zum Schluss. Nachfolgend einige Sachen, auf die es in diesem großen Kampf nicht ankommt.
- Was wir anhaben.
- Ob wir unsere Fäuste erheben oder Friedenszeichen machen.
- Ob wir unsere Träume für eine bessere Welt in einer Schlagzeile für die Medien unterbringen können.
Und hier sind einige Dinge, auf die es ankommt:
- Unser Mut.
- Unser moralischer Kompass.
- Wie wir miteinander umgehen.
Wir haben den Kampf mit den stärksten wirtschaftlichen und politischen Mächten auf dem Planeten aufgenommen. Das ist furchterregend. Und weil diese Bewegung an Stärke zunehmen wird, wird alles noch furchterregender werden. Seid euch immer bewusst, dass in dieser Lage die Versuchung lauert, sich an kleinere Ziele zu halten – etwa an den oder die neben Euch, z.B. auf dieser Versammlung. Diesen Kampf könnte man ja vielleicht leichter gewinnen.
Gebt dieser Versuchung nicht nach. Ich sage nicht, dass ihr euch nicht die Meinung sagen sollt. Aber dieses Mal wollen wir einander so behandeln, als ob wir vorhaben, zusammen viele, viele Jahre nebeneinander zu kämpfen. Denn – die Aufgabe erfordert nichts Geringeres als das.
Lasst uns diese schöne Bewegung so behandeln, als ob sie das Wichtigste auf der Welt wäre. Denn sie ist es. Sie ist es wirklich.