… auf dem Weg von Paris nach Lissabon. Von Jobst Paul. Erschienen in DISS-Journal 17 (2008)
Als die UNESCO im November 1997 in Paris ihre Erklärung zum menschlichen Genom ((Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights [http:// unesdoc.unesco.org/images/0010/ 001096/109687eb.pdf])) verabschiedete, erhielt ein Stolperstein der angelsächsischen Praktischen Philosophie weltweiten Rechts-Status. Wer dort nämlich als human being [Mensch] geführt wird, sollte hinsichtlich seiner Menschenrechte auf der Hut sein, gilt doch ein human being als überwiegend biologischer Minimalstatus des Menschen, d.h. nur eingeschränkt als Vertragspartner, bzw. als Träger von Menschenrechten. Besser haben es jene, denen der Status einer – insbesondere im Kopf – voll ausgestatteten person und damit volle Menschen- (bzw. Personen-) Rechte zuerkannt werden.
Dass dabei die Herrschaft der einen (der Personen) über die anderen durchaus mitgedacht ist, unterstrichen insbesondere die US-amerikanischen Vertreter der Disziplin seit den 70er und 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts in Grundlagenwerken. Einer ihrer prominenten Vertreter, der Philosoph Hugo Tristram Engelhardt, brachte diese Botschaft im Jahr 1977 auf den Punkt, als es einem seiner Aufsätze den Titel gab: Some Persons are Humans, some Humans are Persons, and the World is what we Persons make of it. ((„Einige Personen sind Menschen, einige Menschen sind Personen, und die Welt ist das, was wir Personen aus ihr machen“. Vgl. Engelhardt, Hugo Tristram: Some Persons are Humans, some Humans are Persons, and the World is what we Persons make of it. In: derselbe (Hg.): Philosophical Medical Ethics: Its Nature and Significance. Dordrecht 1977, S. 183- 194.))
An Handlungsoptionen, die auf diese Weise legitimierbar werden, hat es in den letzten Jahrzehnten nicht gefehlt. So eignet sich die Unterscheidung zwischen eigentlichem und nur eingeschränktem ‚Mensch’- Status im Zeitalter der Gen- und Humanforschung gut dazu, ein Reservoir an Menschen zum Objekt von Versuchen zu bestimmen, bei denen nicht die vollen Menschenrechte (der Personen) zu respektieren sind. In der Tat wurde in den Begleitpapieren zur UNESCO-Deklaration argumentiert, das menschliche Genom gehöre (wie Bodenschätze) der ganzen Menschheit, damit aber auch die Träger individueller Gene, die für die Forschung benötigt werden. Die Debatte um persons und non–persons erfasste im übrigen auch Deutschland, als zwischen 1993 und 1997 die sogenannte Bioethik- Konvention des Europarats (1997) durchgesetzt werden sollte, in der es u. a. um die Forschung an nichtzustimmungsfähigen Probanden, um Embryonenforschung oder auch um das Klonen von Menschen geht. ((Vollständiger Titel: Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin [http:// conventions.coe.int/Treaty/Commun/ QueVoulezVous.asp?NT=164&CM=8&DF=5/ 6/2006&CL=GER].))
In der angelsächsischen Bioethik-Debatte ist freilich auch Koma-Patienten, so genannten ‚gehirntoten’ Menschen (als Ressource der Transplantationsmedizin), Demenz- und Alzheimer-Patienten, behinderten Neugeborenen, Sterbewilligen u. a. m. eine makabre Rolle zugeschrieben worden. Berühmt wurden z.B. im Zusammenhang der Euthanasie- Debatte englische Begriffe wie human vegetable [menschliches Gemüse] oder cabbage existence [Kohlkopf-Existenz] für Koma-Patienten oder Demenz- und Alzheimer-Patienten. ((Vgl. Francis J. Beckwith. Abortion, Bioethics and Personhood: A Philosophical Reflection [Überblicksartikel] [http:// www.cbhd.org/resources/bioethics/ beckwith_2001-11-19.htm]; Vgl. zur Herkunft, zum Geltungsanspruch und zur Kritik an der Unterscheidung zwischen ‚Mensch’ und ‚Person’ auch http://www.lrz-muenchen.de/~hgvm/ Spaemann-Mensch-Person.pdf (Spaemann) und Berthold Gillitzer, Personen, Menschen und ihre Identität, Stuttgart 2001.))
Eine weitere Station der Mensch-Person-Unterscheidung ((Nachfolgend beziehe ich mich auf Stellungnahmen von Dietmar Mieth, Tübingen, u.a. in: Patentierter Mensch? Musterprozess zur Patentierbarkeit menschlicher embryonaler Stammzellen, DomRadio 24.06.2008 [http://www.domradio.de/aktuell/ artikel_42364.html]; ders. Die Bioethikkonvention und die ethische Begleitforschung. Mitschnitt eines Vortrags im Gustav-Stresemann-Institut Bonn, 27.06.2008.)) war die EU-Richtlinie zur Biopatentierung (1998), die von „biologischem Material“ und von „lebendigen Systemen“ spricht und damit auch noch den Begriff Mensch umgeht. In der EU-Direktive Good Clinical Practice (2001/20/EC) ((Sie wurde in der 12. und 14. Novelle des Arzneimittelgesetzes in deutsches Recht umgesetzt.)) wird die Unterscheidung zwischen verschiedenen menschlichen ‚Würdegraden’ festgeschrieben, indem klinische Versuche an Kindern (d.h. an nicht-einwilligungsfähigen Probanden) mit so genannter ‚Gruppennützigkeit’ legitimiert werden, die bereits in der UNESCO-Deklaration eine Rolle spielte. Freilich: Der „Gruppennutzen gilt entweder für jeden und jede in der Gruppe – dann braucht man ihn nicht als Kriterium, weil er mit Eigennutz zusammenfällt, oder er meint den Nutzen einer Mehrheit in der Gruppe, dann aber ist er ein utilitaristisches Argument: Gemeinnutz vor Menschenrechten. (…) Es könnte, obwohl dies bisher keineswegs intendiert ist, die Tür zu klinischen Versuchen an dementen Personen öffnen.“ ((Dietmar Mieth, Bio-Ethik als Krisenlöser oder Krisenmacher? Entwicklungen und Positionen im Widerstreit (2004) [http://www.dbthueringen. de/servlets/DerivateServlet/ Derivate-3487/mieth.pdf].))
Vor diesem Hintergrund wäre es verwunderlich gewesen, wenn die Unschärfen zwischen Mensch und Person im Text der im Jahr 2000 aufgelegten Europäischen Charta der Grundrechte ((Die Charta wurde unter Vorsitz von Roman Herzog vom ersten europäischen Konvent zwischen Dezember 1999 und Oktober 2000 erarbeitet.)) keine Rolle gespielt hätten. Die Charta war ursprünglich Teil II des Europäischen Verfassungsvertrages, der am 29. Oktober 2004 unterzeichnet wurde und der 2006 in Kraft treten sollte, dann aber scheiterte. Eine Gegenüberstellung der englischen Fassung der Artikel 1-3 und ihrer offiziellen (aber nicht völkerrechtlich gültigen) deutschen Übersetzung ((Es handelt sich um die Fassung, die nun Teil des Vertrags von Lissabon geworden ist [http://eur-lex.europa.eu/ LexUriServ/ LexUriServ.do?uri=OJ:C:2004:310:0041:0054:DE:PDF]. Vgl. dazu weiter unten.)) zeigt die erstaunliche begriffliche Vielfalt hinsichtlich derer, denen Grundrechte zukommen sollen.
Sie macht verständlich, warum angelsächsische Philosophen oft ihren Scharfsinn auf die Frage lenken, wer unter ‚every one’ subsumiert werden soll und wer nicht: Die Unterscheidung zwischen Mensch und Person erwies sich allerdings noch als eher harmlose Variante, in der die Biopolitik und die Verwertungsinteressen der Forschung Eingang in die europäische Grundrechte- Charta gefunden haben. Das Vorgehen der Lobbyisten aus Politik und Forschung, ausgerechnet in Grundwertetexten mit Hilfe sprachlicher Spitzfindigkeiten und rhetorischer Tricks die Öffentlichkeit zu täuschen oder sie zu einer voreiligen Zustimmung zu verleiten, hatte bereits in den Jahren 1993 bis 1998 aus Anlass der Bioethik-Konvention des Europarats zu öffentlicher Empörung, aber auch zu Erstaunen darüber geführt, wie dreist die beamteten Unterhändler der nationalen Regierungen dabei zu Werke gingen. Wie es scheint, hatten sie bei der Formulierung der Charta einen erneuten Auftritt:
So lässt schon die Aufnahme des Körpers und von Körperteilen (Artikel 3, 2c) in einen Verfassungstext aufhorchen, noch mehr aber, dass nur der Handel mit ihnen gegen Entgeld („financial gain“) verboten werden soll – und dies auch nur dann, wenn sie ‚as such’, also ‚unverarbeitet’ gehandelt werden. Damit bestimmt die Charta umgekehrt, indem sie nur einen Spezialfall ausschließt, als makabre Regel, dass in Europa der Handel mit ‚weiter verarbeiteten’ Körpern und Körperteilen offenbar erlaubt ist.
Über die Hintergründe des Artikels 3, 2d, das Verbot des reproduktiven Klonens von Menschen betreffend, liegt sogar der Zeugenbericht eines unmittelbar Beteiligten vor. Prof. Dietmar Mieth war mehrere Jahre Mitglied der Beratergruppe „Ethische Fragen der Biotechnologie“ der Europäischen Kommission. Er focht dort um Transparenz und berichtete darüber auch öffentlich, so im März 2000 ((Dietmar Mieth, Die Kirche zwischen Macht und Ethik. Plädoyer für eine zukunftsfähige Moral. Rede am 25. März 2000 in Köln bei der 7. Bundesversammlung der KirchenVolksBewegung „Wir sind Kirche“. [http://www.phil.uni-sb.de/ projekte/imprimatur/2000/ imp000502.html].)):
„Gestern diskutierten wir in Brüssel die Frage, ob in unserer Stellungnahme zur Charta der europäischen Grundrechte, die gerade in vielen Kommissionen verhandelt wird, stehen soll: ‚Das Klonen von Individuen ist verboten’ oder ob da stehen soll: ‚Das reproduktive Klonen ist verboten’. Sie werden wahrscheinlich gar nicht auf Anhieb verstehen, worum es da geht, aber es geht um etwas ganz Entscheidendes: wenn man sagt, das reproduktive Klonen ist verboten, dann ist das nicht-reproduktive Klonen (also das Klonen von Embryonen „in vitro“) erlaubt. So muss man diese trickreiche Sprache verstehen. Wenn man dagegen sagt „Das Klonen von menschlichen Lebewesen ist verboten“, dann ist das noch offen, dann kann man den Streit darüber noch führen, wer denn „menschliches Lebewesen“ (human being) ist. Selbstverständlich habe ich mich dafür eingesetzt, dass mindestens als Alternative angeboten wird „das Klonen von menschlichen Lebewesen ist verboten“. Von anderen Mitgliedern dieser Beratergruppe wurde dies abgelehnt, weil sie für das nicht-reproduktive Klonen, also (wenn auch mit Einschränkungen) für die verbrauchende Embryonenforschung sind.“
Im Jahr 2004, nach Abschluss der Beratungen, vertiefte Mieth seine Kritik:
„Das Verbot des reproduktiven Klonens, das im Augenblick weltweit deklariert wird, wie z.B. in der UNESCO-Deklaration „Zum Schutz des menschlichen Genoms und der Menschenwürde“ (1998) umfaßt also nicht den In-vitro-Bereich. (…) Wenn also in der Charta für europäische Grundrechte steht, reproduktives Klonen ist verboten, dann ist zugleich in einem Subtext den Embryonen ein Lebensrecht entzogen. (…) Aber was ist „therapeutisches“ Klonen? Nichts anderes als ein Klonen mit einer bestimmten Forschungsabsicht, nämlich in der Hoffnung, einen Teil der Immunabwehr überwinden zu können bei einer später vielleicht einmal möglichen Stammzelltherapie. Das Klonen selbst ist keine Therapie, sondern ein Forschungsweg. Dies sollte stets transparent bleiben. Die Genauigkeit der Sprache ist eine Bringschuld der Wissenschaft.“ ((Dietmar Mieth, Stuttgarter Gespräch. Klonen, Gentests und Patentierung. 14. Okt. 2004, Alte Kanzlei, Stuttgart [http:// www.kas.de/proj/home/events/99/1/ year-2004/month-10/veranstaltung_id- 12294/index.html].))
Die Europäische Verfassung und mit ihr die Charta der Grundrechte wurden im Jahr 2004 durch Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden abgelehnt. Dennoch fand man einen verschlungenen Weg, die Charta im Dezember 2007 schließlich in den Lissaboner Vertrag aufzunehmen. Eine offizielle Website der EU erklärte dies am 13. Dezember 2007 ((http://www.europa-web.de/europa/ 03euinf/10counc/grundrechte.htm)) auf folgende Weise:
„Die Proklamierung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union fand am Vorabend des Treffens der Staats- und Regierungschefs in Lissabon statt, die dort den EU-Reformvertrag unterzeichnen werden. (…) Der Europäische Rat fasste im Juni 2007 den Entschluss, den Text der Charta nicht in die Verträge aufzunehmen, sondern als Erklärung zu den Verträgen zu beschließen. (…) Darüber hinaus wird der Artikel des Reformvertrags, der der Charta Rechtsverbindlichkeit verleiht, auf die Proklamation am 12. Dezember verweisen und damit die Erklärung zum EU- Reformvertrag ersetzen.“
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Am 12. Juni 2008 lehnten die Iren bei einer Volksabstimmung die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon ab. Kommentatoren machten u. a. oppositionelle Gruppen verantwortlich, die davor gewarnt hatten, der Vertrag wolle die irische Abtreibungsgesetzgebung kippen. Wenn dies aus der Luft gegriffen war, so sind viel grundlegendere Befürchtungen angebracht: Nach der UNESCO-Deklaration zum menschlichen Genom und der Bioethik- Konvention des Europarats ist die EU-Charta der Grundrechte das dritte umfassende völkerrechtliche Dokument der neueren Geschichte, das die individuellen Grundrechte, wie sie nach 1945 in weltweiten Deklarationen, aber auch im deutschen Grundgesetz, festgelegt wurden, zugunsten des Nutzens und der Rechte der ‚Allgemeinheit’ wieder einschränkt.