Warum wird der Knackpunkt von NMD („Raketenschirm“), nämlich die Wiedergewinnung des gesichterten Erstschlags für die USA, manipulativ „aus der öffentlichen Debatte rausgehalten“? Appell der Zeitschrift „kultuRRevolution“ für ein Ende der Informationsblockade (Jürgen Link, Juni 2007)
1. Seit der Brechung des Atomwaffenmonopols der USA, das insbesondere die Möglichkeit des gesicherten (nicht durch Gegendrohung in Schach zu haltenden) Erstschlags enthielt, durch die Sowjetunion im Jahre 1949 besteht das sogenannte „atomare Patt“. Dieses Patt, das den Einsatz unwahrscheinlich macht, wird als MAD (Mutual Assured Destruction = gegenseitig gesicherte Vernichtung) bezeichnet. Es beruht auf der Fähigkeit des Zweitschlags für jede Macht des atomaren Oligopols, wodurch der gesicherte Erstschlag wegfiel. Konkret und banal: Wenn die Macht A die Macht B per Erstschlag angreift, besitzt die Macht B jederzeit genügend Möglichkeiten (durch die schiere Masse verstreut „dislozierter“ sowie seegestützter Raketen), die Macht A per Zweitschlag ebenfalls zu zerstören. In dieser Situation wird ein Erstschlag für vernünftige Menschen unmöglich und selbst für unvernünftige extrem unwahrscheinlich.
2. Was ist und was ändert NMD (= National Missile Defense, populär „Raketenschirm“) daran? Es ändert alles und führt tendenziell wieder die Situation des Atomwaffenmonopols der USA vor 1949 herbei, also die Möglichkeit („Option“) des gesicherten Erstschlags. Allerdings unter Bedingungen, die momentan noch nicht gegeben sind und die vielen Experten als technisch unrealistisch erscheinen. Die notwendigen Bedingungen sind: NMD muss funktionssicher und geschlossen sein. Erstens muss also die Technik des „Abfangens“ feindlicher Raketen gemeistert sein, und zweitens muss der Schirm die USA (plus vorgeschobene große ständige Basen) flächendeckend absichern. Wenn diese Bedingungen gegeben sind, begreift jedes Kind, was das bedeutet: Wenn die Macht A die Macht B per Erstschlag angreift und die Macht B per Zweitschlag antwortet, fängt die Macht A per Drittschlag (NMD) die Antwort von B ab. Damit ist der gesicherte Erstschlag für A wiederhergestellt.
3. Der strategische Kontext: die Eskalationsstrategie. Die Militärstrategie der USA (und der NATO) beruht auf dem Konzept der „flexible response“, d.h. der Möglichkeit, auf verschieden große Eskalationsstufen des Gegners je nach Situation flexibel mit eigenen Eskalationsstufen zu reagieren. Das Grundprinzip dabei ist, dass die Eskalationsleiter kontinuierlich bis zur höchsten Stufe, dem Einsatz von ABC-Waffen, reicht und dass sie an keiner Stelle ‚gedeckelt’ werden darf. So lehnen die USA prinzipiell jede Verzichterklärung auf den Erstschlag ab (was der damals noch unerfahrene deutsche Außenminister Fischer kurz nach seinem Amtsantritt zu seinem Leidwesen erfahren musste). So behielten sich die USA im 2. Golfkrieg 1991 ausdrücklich den Einsatz von A-Waffen vor (Erklärung des damaligen Vizepräsidenten Dan Quaile). Auch im Korea- und Vietnamkrieg gab es in der militärischen Führung der USA vehemente Forderungen nach Atomwaffeneinsatz, die glücklicherweise überstimmt wurden.
Diese Tatsachen taugen allerdings nicht zu einer sogenannten „Verschwörungstheorie“, die einzelnen führenden Personen der USA den „Willen“ unterstellen würde, die A-Waffen unbedingt einmal einzusetzen. Es geht vielmehr um die strategische Wirkung der Eskalationsstufen, die in erster Linie einen Machteffekt durch implizite Drohung ausüben. Wer möchte es schon auf eine apokalyptische Entscheidungssituation ankommen lassen? In diesem Zusammenhang gilt es nüchtern festzustellen, dass der gesicherte Erstschlag die absolut höchste Erskalationsstufe darstellt, die mittels der impliziten Drohung den absolut höchsten Machteffekt (den der Welt-Diktatur) bedeutet – unabhängig von jedem persönlichen guten oder bösen Willen.
4. Die große Gefahr jeder Eskalationsstrategie liegt also nicht in Personen, sondern in dem strukturellen Zwang zur „Glaubwürdigkeit“. Eine Eskalationsstrategie strahlt nur dann den gewollten Machteffekt aus, wenn sie „glaubwürdig“ ist, und das impliziert in bestimmten Situationen, die durch unglückliche Zufälle zustande kommen können, auch den (möglicherweise „ungewollten“) Einsatz der Waffen. Das gilt im Prinzip auch für die höchste Eskalationsstufe, d.h. eine durch NMD wieder hergestellte Erstschlags-„Option“.
5. Wie glaubwürdig ist die Erklärung der Regierung der USA und des Pentagons, bei NMD handle es sich um ein „rein defensives“ Dispositiv gegen „Schurkenstaaten“, so dass jede andere Einschätzung „lächerlich“ wäre (Rice)? Diese Erklärung ist völlig unglaubwürdig: NMD ist der (technisch realistische) Nachfolger von Reagans SDI (Strategic Defense Inititiative, populär „Starwars“). Damals gab es die heute gerade aktuellen „Schurkenstaaten“ als potentielle Atommächte überhaupt nicht. Auch Iran und Nordkorea wie alle „Schurkenstaaten“ stehen (sogar ganz extrem) unter der Logik von MAD (der garantierten Vernichtung). Überall vor den Küsten Irans und Koreas kreuzen Atom-U-boote, was selbst „Fanatikern“ völlig klar ist. Ein gutes Beispiel ist der „Schurke“ Saddam Hussein, der angeblich „wahnsinnig“ war und der doch genau wusste, dass auch nur der Einsatz einer C-Waffe gegen die USA oder ihre Verbündeten (z.B. Israel) sein sofortiges Ende in der Apokalypse bedeutet hätte.
Angeblich soll der osteuropäische Raketen-„Zaun“ gegen iranische Raketen gebaut werden. Jeder weiß, dass durch solche Raketen als erstes Israel bedroht wäre: Wird Israel durch einen „Zaun“ in Polen geschützt? All dies gilt in noch höherem Maße für den ersten „Zaun“ in den USA selbst, dessen Grundstock bekanntlich bereits an der Westküste (Alaska, Kalifornien) errichtet worden ist. Brauchen die USA einen solchen „Zaun“ gegen Nordkorea, vor dessen Tür in Südkorea sie Atomwaffen stationiert haben (ganz abgesehen von maritimen Basen)?
Aus all dem folgt, dass die erste Phase von NMD als strategisches Dispositiv gegen (unvorhersehbar wechselnde) „Schurkenstaaten“ wenig Sinn macht, sehr viel Sinn aber als erster Schritt zu einem funktionsfähigen und geschlossenen System, wodurch die USA die „Option“ des Erstschlags zurückgewinnen.
6. In dem Maße, in dem jenen Atommächten, die tendenziell ausgehebelt werden sollen, die strategische Lage klar wird, „müssen“ sie sich imperativ ebenfalls ein Raketenabwehrsystem zulegen, um „gleichzuziehen“. Damit wird eine neue Rüstungsspirale in Gang gesetzt, die noch teurer als die Pershings-Spirale werden dürfte. Noch gefährlicher ist der wiederum ganz strukturelle Umstand, dass jene Mächte, die tendenziell „ausgehebelt“ werden sollen, in einer eskalierten Krisensituation unbedingt auf die Zerstörung der NMD-„Zäune“ per Erstschlag angewiesen sein werden.
7. Gerade westliche Experten, die offensichtlich eine neue Massenbewegung gegen Raketen wie zu Beginn der 1980er Jahre präventiv verhindern möchten, betonen die technischen Defizite von NMD: Die bisher bekannt gewordenen Tests seien nicht überzeugend ausgefallen – ein Gegner könnte durch Attrappen-Raketen NMD verwirren und ins Leere laufen lassen – ein Ring von „Zäunen“ könnte niemals wirklich operational geschlossen werden. Gerade wenn diese Argumente zutreffen, gilt um so mehr, den Anfängen zu wehren. Es lässt sich kaum eine apokalyptischere Lage vorstellen als eine Situation, in der sich mehrere Atommächte mit jeweils technisch defizitären Abfang-Systemen gegenüber stehen.
8. Warum wird dann aber dieser weltgefährdende Knackpunkt von NMD hermetisch (und offenbar ganz bewusst manipulativ) „aus der Öffentlichkeit rausgehalten“? Warum schweigen auch die westlichen Oppositionen, warum schweigen aber sogar Russland und China?
Dazu ist zunächst zu sagen, dass nur die Öffentlichkeit mit der These vom „rein defensiven Dispositiv“ beruhigt wird, während die Experten natürlich die strukturelle Seite nicht übersehen können. Ein Beispiel:
„Der Direktor des Moskauer Zentrums für strategische und technologische Analysen, Ruslan Puchow, meinte ähnlich wie Balujewski, der Aufbau der Raketenabwehr in Europa vergrößere die strategischen Fähigkeiten Amerikas. Heute zählten die Abfangraketen nach Dutzenden, in ein, zwei Jahrzehnten würden es Hunderte, wenn nicht Tausende sein, während die Zahl der atomaren Sprengköpfe Russlands nur bis zu 500 betrage. Dann wäre der Erstschlag denkbar: Würde Amerika gegen Russland losschlagen und einen Teil der russischen Raketen dabei vernichten, könnte es hoffen, einen russischen Gegenangriff durch sein Raketenabwehrsystem zu neutralisieren.“ (FAZ 22.2.2007)
Das stand in der FAZ, gegen Ende eines längeren Artikels: Es war allerdings offenbar zu unwichtig, um auch nur eine Zwischenüberschrift zu verdienen. Vermutlich zittern nicht bloß die FAZ-Redakteure, sondern auch alle Politikerinnen, einschließlich denen der Opposition, vor dem todsicheren Vorwurf des „Antiamerikanismus“, der selbstverständlich auf dem Fuße folgen wird, wenn wieder jemand ausposaunt, dass 2 mal 2 gleich 4 ist.
9. Also gilt es, jetzt ganz schnell die Reste der Friedensbewegung zu wecken: Krefeld II ist angesagt!