Soziologische Analyse eines bioethischen Diskurses. Eine Rezension von Dorothee Obermann. Erschienen in DISS-Journal 10 (2002).
Eineinhalb Jahre nach der Ankündigung Craig Venters, das menschliche Genom nahezu vollständig entschlüsselt zu haben, diskutieren viele Bücher die unterschiedlichen Anwendungsmöglichkeiten der Gendiagnostik. Diese soziologische Studie fragt nicht nach den Chancen und Risiken bzw. Möglichkeiten und Grenzen der Gendiagnostik. Sie untersucht die Redeweise über die Chancen und Risiken.
Andreas Lösch analysiert in Anlehnung an die Machttheorie Michel Foucaults welche Wissensstrukturen diesen Redeweisen zugrunde liegen und in welche Machtstrukturen sie eingebettet sind. Aus dieser diskursanalytischen Perspektive heraus konfrontiert er seine Leserschaft mit innovativen Fragestellungen:
- Warum wird zwischen einer molekularbiologischen Grundlagenforschung im Labor und einer humangenetisch- medizinischen Anwendung des Laborwissens in der Gendiagnostik und -therapie unterschieden?
- Wie ist es möglich, vom Genomprojekt als Erkenntnis der menschlichen Natur zu sprechen und gleichzeitig dasselbe Genom bei der Patentvergabe als eine technische Erfindung zu behandeln?
- Wie leitet eine Bioethik, ausgehend von einer Biologie / Natur, die nach besonderen Interesse der Forscher konstruiert wird, allgemeine Normen und Werte ab?
Im Zentrum der Diskursanalyse steht die Debatte um die Einrichtung des europäischen Humangenom- Forschungsprogramms. Lösch setzt sich mit Forschungsprogrammen, Technikfolgenabschätzungsberichten, bioethischen Konventionen und humangenetischen Beratungsrichtlinien auseinander. Er konstatiert, daß im Expertendiskurs zwischen einer naturerkennenden Genomanalyse und einer naturkonstruierenden Gentechnik differenziert werde. Hierdurch sei es möglich, die genetische Diagnostik als bloße Anwendung einer für sich genommenen neutralen genetischen Information zu konstituieren. Der Bioethik komme nach Lösch in diesem Zusammenhang die Aufgabe zu, zwischen Labor- und Gesellschaftsinteressen zu vermitteln. Sie übersetze das im Laborexperiment entworfene ‘biologische Sein’ in ein allgemeines ‘gesellschaftliches Sollen’. Diese Vermittlungsfunktion demonstriert er exemplarisch in seiner Analyse der Bioethikkonventionen. In den Konventionen sei der Schutz der Menschenwürde zunächst in einen Schutz der genetischen Identität der Gattung übersetzt worden. Den bioethischen Diskursen zufolge würde zudem das Humangenomprojekt die genetische Identität definieren. Die Konsequenz dieser Diskursordnung sei, daß sie Förderung des Projektes und der Genomforschung geradezu als rechtsstaatliche Verpflichtung konstituiert werde. Die endgültige Kopplung von Labor- und Gesellschaftsordnung erfolge dann in der humangenetischen Beratung. Hier würden die Ergebnisse der molekularbiologischen Labortechnik in Arzt-Patienten-Gesprächen mit Selbsttechniken der Individuen verbunden. Andreas Lösch belegt überzeugend wie über die Verbindung unterschiedlicher Wissensformen und Selbsttechniken aus dem genetischen Code der Labore ein gesellschaftlicher Code wird. Für ein theorieinteressiertes Fachpublikum ist diese Studie unbedingt lesenswert!
Andreas Lösch
Genomprojekt und Moderne
Soziologische Analyse eines bioethischen Diskurses
2002 Frankfurt / New York: Campus
ISBN 3-593-36853-6
399 Seiten 49 €