Im Artikel »Hugo Moser« der Wikipedia wird Siegfried Jäger unter die »Schüler« des berühmten Germanisten eingereiht. Tatsächlich war er dessen Mitarbeiter und Doktorand und beteiligte sich unter dessen Leitung am Aufbau des mehr als berühmten Mannheimer Instituts für deutsche Sprache IDS (heute Leibniz-Institut für deutsche Sprache).Was in Wikipedia fehlt: Sigi Jäger war nicht nur Schüler, sondern mehr noch Apostat von Hugo Moser. Er gehörte zu den deutschen Intellektuellen, die die 68er Kulturrevolution entscheidend mit geprägt haben, die aber die vor-68er GeistesTypologie, in diesem Fall die alte germanistische nationale »Sprachpflege«, von der Pike auf gelernt hatten (einschließlich der GeistesTypologischen Mediävistik, in der Sigi promovierte, und einschließlich der GeistesTypologischen Dialektologie). Heute forscht das IDS auch soziologisch und »pragmatisch«, aber all das musste erst erkämpft werden. Es brauchte sozusagen erst ein (von Sigi gegründetes) DISS (Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung), um auch das IDS auf solidere wissenschaftliche Gleise zu lenken. Man kann die 68er Kulturrevolution in den »Geistes«-Wissenschaften pauschal als Soziologisierung auffassen – jedoch als radikale und daher an den von Marx angestoßenen Fragestellungen orientierte, womit zur Soziologisierung eine Politisierung hinzukam. Für die Sprachwissenschaft allerdings findet sich bei Marx außer einigen Geistesblitzen über die »Sprache des wirklichen Lebens« wenig. (Bekanntlich versuchte der alte Stalin sich darin, die Lücke zu füllen.) Wenn man die Sprache soziologisch betrachtet, erscheint sie zum einen (mikrologisch) als »Handlung«, was dann in der Pragmatik ausbuchstabiert wurde und in der ›Transskriptionslinguistik‹ landete (Karikatur: Zählen der »Turns«). Zum anderen erscheint sie (makrologisch) als Raum eines systemisch begrenzten Wissens mit Machteffekt. Beides wurde und wird als »Diskursanalyse« bezeichnet mit den bekannten Verwirrungen. Sigi hat in seinem Beitrag »Von der Ideologiekritik zu Foucault und Derrida« (2008; in: Wie kritisch ist die Kritische Diskursanalyse?, bes. S. 19) seinen Erkenntnisprozess skizziert: sozusagen von »Frankfurt« nach »Paris«. Auf diesem Weg lag als wichtiger Durchgangspunkt auch der sowjetische Sprachhandlungstheoretiker Leontjew.
Entscheidend dabei ist (und das sollte der meines Erachtens eigentlich redundante Begriff »kritisch« wie eine Fahne unübersehbar machen), dass sich dieser exemplarische Erkenntnisprozess stets ›in Tateinheit‹ mit politischen Interventionen entwickelte und nur so entwickeln konnte. Ich selbst bin mit Sigi, Margret und mehreren späteren ›DISS-Leuten‹ über die gewerkschaftlich-oppositionelle Ruhrgebietszeitschrift REVIER bekannt geworden, die bezeichnenderweise auf Wikipedia fehlt. Ohne REVIER lässt sich die Geschichte der Kämpfe der alten Ruhrarbeiterschaft innerhalb der Stahlkrise nicht schreiben (dazu das Kapitel in Bangemachen gilt nicht auf der Suche nach der Roten Ruhr-Armee, das ich Sigi gewidmet habe). Tatsächlich betrieben die Streikenden gegenüber dem Blabla der Politiker und Gewerkschaftsführer eine praktische Diskurskritik (»Der Kompromiss/ Ist ein Beschiss/ Auch wenn er vom Minister iss«). Ein direkter Weg führt von dort zu den Brand-
Sätzen, dieser exemplarischen Analyse des alltäglichen neorassistischen Diskurses, längst bevor seine erfolgreiche politische Resonanz in der »Mitte« eine eigene Partei »am Rand« gebar.
Die BrandSätze stellen nur einen Buchrücken inmitten der weißen Fülle mehrerer Regalbretter von DISS-Publikationen, zu denen später noch das DISSjournal hinzukam. Daraus bedient sich, wer sie zitiert und wer nicht. Achtundsechzig soll wenig Positives erreicht haben? – Seit den frühen Achtziger Jahren arbeiten DISS und kultuRRevolution zusammen, und zwar solidarisch-arbeitsteilig. Das ist eine ganz seltene Errungenschaft jenseits aller Ironie dieses Begriffs, und ich werde Sigi dafür stets dankbar bleiben. Der heimliche Konkurrenzkampf der Intellektuellen um ihr stirnersches »Eigentum«, ihr symbolisches Kapital nach Bourdieu, gehört zu den Tabus des kulturellen Diskurses. Ich bin überzeugt, dass dieser verschwiegene Kampf gerade auch unter oppositionellen Intellektuellen, gerade auch 68ern, zu den wichtigsten Ursachen des (global betrachtet) Scheiterns von 68 gezählt werden muss. Konkurrenzfreie Zonen lassen den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess frei atmen: Sigi Jäger hat eine solche Zone geschaffen. Dass sich junge Wissenschaftlerinnen darin wohlfühlen, zeigt die Fülle der Namen auf den Buchrücken und im Inneren der Bücher. Wenn eine Spezialität des DISS hervorgehoben werden soll, dann sicher die kritische Rekonstruktion des alt- und neudeutschen Rassismus (einschließlich Antisemitismus) und Faschismus. Wer die AfD und ihre Erfolge,wie vor allem auch ihre prognostischen Kapazitäten, begreifen will: diskursanalytisch, historisch und einfach auch archivalisch, kann sich beim DISS umfassend bedienen – nach Möglichkeit auch mit dem Hinweis, woher seine Weisheit stammt.
Basis und Synthese seiner Arbeit ist Siegfried Jägers Einführung in die Kritische Diskursanalyse mit ihren mehreren Auflagen und Erweiterungen. Darin ist komplexe Theorie mit einer Art Nürnberger Trichter für die praktische Anwendung verbunden, was Hunderte junger Forscherinnen dankbar aufgegriffen haben. Ein Grundbegriff ist der »Diskursstrang«: Sigi hat einen mächtigen Diskursstrang auf die Beine gestellt, der sich längst selbständig gemacht hat und der sich hinfort ohne ihn und doch mit ihm weiter entwickelt.
Der Literatur-, Kultur- und Diskurswissenschaftler Jürgen Link stand seit vielen Jahren in freundschaftlichem Austausch mit Siegfried Jäger. Er hat ihn zur Foucault-Lektüre angeregt und damit die Konzeption der Kritischen Diskursanalyse (KDA) in vielfältiger Weise inspiriert und intellektuell bereichert.
Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 40 vom November 2020. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.