„Die Corona – Gesellschaft“

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Eine Rezension ausgewählter Beiträge

Von Wolfgang Kastrup

Die Schnelligkeit erstaunt, da dieses Buch Die Corona-Gesellschaft mit dem Untertitel Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft mit 39 verschiedenen Beiträgen bereits im Juli dieses Jahrs im Transkript Verlag erschienen ist. Für die Herausgeber Michael Volkmer und Karin Werner ist dieses Buch ein „Experiment“, was die Wissenschaft, konkret „die Sozial- und Kulturwissenschaften, in der Aktualität dieser Pandemie-Krise, quasi in Echtzeit, leisten kann.“ (12) Das Buch steht mittlerweile auf der Sachbuchbestenliste September 2020. Wenn auch die Beiträge in der Regel recht knapp abgefasst sind, einer solchen Fülle von Texten kann man kaum im Rahmen einer Rezension gerecht werden. Deshalb beschränke ich mich auf einige wenige Artikel, um diese etwas intensiver zu besprechen.

Solidarität in Zeiten der Pandemie?

Der Beitrag von Stephan Lessenich, Professor für soziale Entwicklungen und Strukturen an der Ludwig-Maximilians-Universität München, ist überschrieben mit Allein solidarisch? Über das Neosoziale an der Pandemie (177-183). Er stellt eingangs die berechtigte Frage, weshalb der Neoliberalismus trotz der Förderung von systematischen, sozialen Ungleichheitsstrukturen, trotz sozialer Entsicherungen für viele Menschen und trotz eines sich verschärfenden Wettbewerbs der Beschäftigten untereinander erfolgreich in dem Sinne ist, dass er immer wieder gesellschaftliche Mehrheiten hinter sich vereint. „Warum stimmen die Leute ihrer gnadenlosen Unterwerfung unter allfällige Marktzwänge zu, warum stimmen sie als Wähler*innen jedes Mal von Neuem für ihre effektive Selbstentmachtung?“ (177) Bisherige Analysen können für ihn die Legitimierung der neoliberalen Transformation der letzten Jahrzehnte nicht hinreichend erklären. Sein Ansatz lautet überraschend: „Moral“. Er meint damit die „moralische Aufladung einer vermeintlich bloßer ökonomischer Rationalität gehorchenden gesellschaftlichen Umgestaltungsmaschinerie“, die er schon früher als „neosozial“ bezeichnet hat. (178) In dieser Logik heißt das sozialverantwortliches Denken und Handeln. Wer privat vorsorgt statt staatliche Unterstützung zu beantragen, wer auf Selbstoptimierung und „marktadäquate Qualifikationen“ setzt und dabei jede Arbeit annimmt, der stellt sich in den Dienst der Gesellschaft, der fördert so das Wohl der Gesellschaft. (Vgl. Ebd.) Die Förderung des Gemeinwohls geschieht heute nicht „untergründig, als verborgene Mechanik des Sozialen“ wie bei Adam Smiths klassisch-liberalem Unternehmerbild, sondern als bewusste und offene Propaganda, „die das genuin Soziale am gezielt Individuellen ins allgemeine Bewusstsein einzuspeisen, einzupflanzen, ja einzuimpfen versucht.“ (179)

So weit, so gut. Mit Marx hätte Lessenich auch sagen können, dass die herrschenden Gedanken die Gedanken der herrschenden Klasse sind. Der Bezug zur Corona-Pandemie erschließt sich für den Autor aus dem zuvor Gesagten und lässt sich auf den folgenden Nenner bringen: „Eigenverantwortung in Sozialverantwortung“. Durch eigenverantwortliches Handeln im Sinne von „Daheimbleiben, Abstand halten, Hände waschen, Mundschutz tragen, Kontakte minimieren“ schützt der Einzelne sich selbst vor Infektionen und vor allem die Allgemeinheit. „Wer gegen die Verhaltensnormen verstößt, macht sich daher schuldig, ja setzt das Leben anderer aufs Spiel. Eine stärkere Moralisierung individuellen Wohl- und Fehlverhaltens als entlang der Achse von Leben und Sterben ist wohl kaum denkbar.“ (179) Die Konsequenzen dieser „Subjektivierung des Sozialen“ sieht Lessenich zweifach: Zum einen gerät aus dem Blick, dass „das strukturelle Pandemierisiko in jener expansiv-destruktiven, industriekapitalistischen Wirtschafts- und Lebensweise wurzelt“. Zum anderen wird der politisch bewusste strukturelle Abbau der öffentlichen Gesundheitsversorgung einhergehend mit einer verstärkten Privatisierung (Stichwort Profitabilität) aus der medialen Diskussion herausgenommen. Wenn von Belastungs- und Kapazitätsgrenzen des Gesundheitssystems und damit auch der Gesundheitsämter die Rede ist, dann wird so getan, als ob diese Grenzen/Kapazitäten naturgesetzlich sind, eine unabhängige Variable, und nicht durch politische Prozesse bewusst herbeigeführt. (Vgl. 180) Jeder soll sich solidarisch verhalten. Solidarität, ein politischer Begriff, wird von der politischen wie intellektuellen Elite wie von der Zivilgesellschaft moralisch aufgeladen. Dadurch gewinnt der rechtliche, administrative und polizeiliche Kontrollapparat seine maßgebliche „Akzeptanz und Legitimität“. „‘Solidarität‘ wird vielmehr zum Ausfallbürgen einer öffentlichen Verantwortung für die Reproduktion des Sozialen und zum mikropolitischen Schmiermittel eines gesellschaftlichen Gestaltungsregimes, das sich gerade durch seine institutionalisierte Asozialität charakterisiert […].“ (182) Damit wird die Aussage, dass die Pandemie nur solidarisch bewältigt werden könne, zu einer „potenziell autoritäre[n] Drohung“. Da die Corona-Krise noch längst nicht vorbei ist, wird das „Neoliberale“ mit dem „Neosozialen“ durch die „Logik der Unabschließbarkeit“ vereint. „Es ist nie genug geleistet, ewig grüßt die Rückfalldrohung.“ (Ebd.)

Lessenich gelingt es in knapper, aber pointierter Weise, die moralische Aufladung des Begriffs Solidarität deutlich zu machen und somit eine neue Sichtweise auf diesen politischen Begriff zu lenken. Treffend charakterisiert er in diesem Zusammenhang auch die potenziell autoritäre Drohung, die damit verbunden ist. Seine Kritik gegenüber dem Neoliberalismus in Verbindung mit dem Neosozialen erfolgt nachvollziehbar, auch wenn er den Neoliberalismus nicht als eine Regulationsform des Kapitalismus herausstellt.

Corona-Krise und Risikopolitik

Andreas Reckwitz, Professor für Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der HU Berlin, überschreibt seinen Text mit Risikopolitik (241-251). Für ihn war – bis Mai 2020 – die Phase der Corona-Krise mit u.a. Reiseverboten und Schulschließungen ein Ausnahmezustand, der Mittel und Zweck war für eine groß angelegte staatliche Risikopolitik. Seine These ist, dass sich dahinter „ein Muster moderner Politik [verbirgt], das sich bereits in der Vergangenheit immer wieder fand und das möglicherweise in Zukunft noch größere Relevanz erhalten wird.“ (241) Die Politik ist gesellschaftstheoretisch im Zusammenhang einer „Soziologie des Risikos“ zu sehen, wobei sich der Autor auf Ulrich Beck, Niklas Luhmann und Wolfgang Bonß bezieht. (Ebd.) Im Folgenden beschreibt er sechs idealtypische Strukturmerkmale einer solchen modernen Risikopolitik, die hier nur kurz umrissen werden können:

1. Eine solche Risikopolitik ist für ihn eine Politik des Negativen, da ein negativer Zustand verhindert oder abgemildert werden soll. Pandemien werden in modernen Gesellschaften als Risiko eingeschätzt, was bedeutet, dass Infektionen in ihrer Ausbreitung beeinflussbar sind und man ihnen nicht schutzlos ausgeliefert ist. (242)

2. Risikopolitik ist für ihn „immer eine Politik der Sicherheit“ und „Zukunftspolitik“. Damit stellt sich die Frage, wie weit darf Sicherheit auf Kosten von Freiheit und Dynamik gehen. Elementares Ziel ist dabei die „Berechenbarkeit“. (243)

3. Es findet in der Risikopolitik eine Verwissenschaftlichung der Politik statt, wobei sich jedoch ein Spannungsfeld der Abhängigkeit ergibt. Sollte sich die Politik von der Wissenschaft die Lösungen vorgeben lassen, wäre das eine „Expertokratie der Alternativlosigkeiten“. (244)

4. Kollektives und individuelles Risikomanagement gehen für ihn Hand in Hand und können in die eine oder andere Seite ausschlagen. In der Corona-Zeit setzt die Risikopolitik stärker auf Verbote und harte Sanktionen, koppelt sie jedoch „an individuelle Maßnahmen des Risikomanagements“, indem jede Person auch für ihre Gesundheit selbst verantwortlich ist. (245)

5. Eine Politik, die die Infektionszahlen minimieren will, steht vor dem Problem einer „Risiko- und Folgeabwägung“, da Persönlichkeitsrechte eingeschränkt werden, ökonomisch große Krisen drohen und psychische Probleme bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen auftreten. (246)

6. Reckwitz unterscheidet hier Risikopolitik im Dauermodus von einer im Krisenmodus. Erstere hat wesentlich den „Charakter von Präventionsmaßnahmen“, um einer Epidemie vorzubeugen. In Corona-Zeiten gilt letztere Politik, da „typischerweise das gesamte Regierungshandeln“ absorbiert wird. (Ebd.)

Diese sechs Strukturmerkmale werden seiner Meinung nach noch von sieben Faktoren in ihrer Bedeutung verstärkt:

a. Der globale Kapitalismus ist aufgrund seiner hohen Komplexität besonders risikoanfällig. Dies zeigte die Finanzkrise von 2008.

b. Aber auch die globale Politik ist seit 2010 risikoanfällig, was Reckwitz an den folgenden Beispielen beschreibt: Allmählicher Verlust der Hegemonie der USA, der Aufstieg Chinas zur bedeutenden Macht, die stärkere Rolle Russlands, die failed states im Nahen Osten und die EU, die durch „innere Spannungen“ gekennzeichnet ist. (247)

c. Die gesellschaftliche Praxis ist abhängig geworden von einer „hochkomplexen Technologie“, die für „Spionage und Ausspähtechniken“ sowie für „immanente Fehler“ anfällig ist. (Ebd.)

d. Regionale Probleme können sich infolge der Globalisierung schnell zu überregionalen Krisen entwickeln, was die Beispiele Finanzkrise, Corona-Krise und die sogenannte Flüchtlingskrise zeigen. (248)

e. Für Reckwitz besteht ein Konflikt zwischen „Liberalismus und Populismus“, der in westlichen Gesellschaften durch „sozialstrukturelle[n] und soziokulturelle[n] Spannungen ausgelöst wurde, die wiederum teilweise zu „politische[n] Polarisierungen“ geführt haben. Dadurch haben u.a. durch die Wahl von populistischen Politikern unberechenbare politische Entwicklungen zugenommen. (Ebd.)

f. Durch den Klimawandel entsteht eine Menge an ökologischen Risiken, die durch politisches Handeln nur noch abgemildert werden können. (Ebd.)

g. Risiken sind „immer abhängig von einer gesellschaftlichen Interpretation als Risiko“. Die Sensibilisierung für Risiken hat durch die stärkere „öffentliche und mediale Thematisierung“ zugenommen. (Ebd.)

Reckwitz zufolge steht möglicherweise ein „neuer Strukturwandel von Staatlichkeit“ in Aussicht, in dem „Präventionen und Katastrophenmanagement“ bedeutende Aufgaben eines resilienten Staates werden, der sich durch eine „systematische Risikopolitik im Dauermodus“ auszeichnet. (249)

Reckwitz bündelt bekannte und neue gesellschaftspolitische Entwicklungen zu einem interessant zu lesendem Beitrag. Dabei geht er leider nicht auf die mächtige ökonomische und politisch unterstützte nationale wie internationale Agrarindustrie ein. Er zeigt aber mögliche auf uns zukommende politische und gesellschaftliche Konsequenzen der Corona-Krise auf, die für die gesellschaftliche Diskussion wichtig sind.

Corona – Konsequenzen für die Geopolitik

Einen ganz anderen Blick nimmt Herfried Münkler, Professor em. für Theorie der Politik an der HU Berlin, in seinem historisch-politischen Beitrag Corona-Pandemie und Geopolitik (301-308) ein. Er beschreibt, dass die Ausbreitung von Pandemien viel mit Kriegen und Eroberungen zu tun hatten. So im 5. Jahrhundert v. Chr., als die Athener und die attische Landbevölkerung im Peloponnesischen Krieg sich vor den anrückenden Spartanern hinter die Stadtmauern zurückzogen und aufgrund von schlechter Ernährungslage und fehlender Hygiene die große Pest ausbrach. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit sind, so Münkler, mehr Soldaten durch Krankheiten gestorben als durch Feindeinwirkung. (301) Es waren „strategische Optionen“, Krankheiten bei den zu bekämpfenden Feinden absichtlich herbeizuführen. So wurden pockeninfizierte Decken an ausgewählte Indianerstämme verteilt oder Ratten als Pestüberträger in belagerte Städte geschleudert. „Seuchen waren nicht nur Begleiter des Krieges, sondern auch eine heimtückische Waffe bei seiner Führung.“ (302) An der Spanischen Grippe starben am Ende des Ersten Weltkrieges weltweit ca. 50 Millionen Menschen. Der Name rührt daher, weil die Spanier diese Epidemie als erste dokumentierten. Münkler zufolge konnten sie sich das erlauben, da sie ein neutraler Staat waren; am Krieg beteiligte Länder unterdrückten Informationen darüber, um dem Gegner keine Hinweise über mangelnde Kriegsfähigkeit zu geben. (Ebd.) Durch veränderte Kräfteverhältnisse ergaben sich Konsequenzen für die geopolitischen Lagen. Geopolitik sieht Münkler nicht nur auf den globalen Maßstab bezogen, sondern er versteht darunter „die regionalen Mächteverhältnisse in Abhängigkeit von Geographie und Topographie, Demographie und Klima sowie wirtschaftlicher Entwicklung und politischer Organisation […].“ (303)

Sämtliche genannten Beispiele sind nach seiner Meinung im Zusammenhang von Kriegen und Eroberungen zu sehen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist dann „Frieden als Lösung nahezu aller Probleme“ als „prägende Leitvorstellung“ zu betrachten. (Ebd.) Diese Darstellung des Autors ist jedoch m.E. sehr fragwürdig angesichts der vielen regionalen Kriege weltweit in dieser angesprochenen Zeit. Für ihn ist diese Leitvorstellung durch die Covid-19 Pandemie durchbrochen worden. „Nicht Krieg und Eroberung, sondern deren genaues Gegenteil: Frieden, wirtschaftlicher Austausch und eine rege touristische Reisetätigkeit haben in diesem Fall zur rasanten Ausbreitung des Virus geführt.“ (Ebd.) Er nennt dies eine „paradoxe Verkehrung“, die durch die Maßnahmen der Politik zur Eindämmung der Ausbreitung des Virus noch weiter ging: „Zusammenbruch des Wirtschaftslebens und die Traumatisierung ganzer Bevölkerungsgruppen“. (Ebd.)

Münkler zufolge haben viele Menschen diese Paradoxie nicht verstanden und er fügt etwas arrogant hinzu, dass viele überhaupt nicht die Fähigkeit haben, Paradoxien intellektuell einzuordnen. Daraus leitet er ab, dass Verschwörungstheorien einen solchen Zulauf erfahren. Sie beinhalten eine „strukturelle Leugnung des Paradoxen“, sehen bzw. fordern eine direkte Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Verborgene Mächte hätten dann das Virus produziert. Oder aber die Krankheit würde als eine viel zu große Gefahr stilisiert, um dann in deren Gefolge Maßnahmen durchzusetzen, die ansonsten die Bevölkerung nie mittragen würde. (304) Diese Unfähigkeit im Erkennen von Paradoxien hat für ihn geopolitische Konsequenzen, „insofern sie die bestehende Mächteordnung mit neuen (und verschiedentlich auch alten) Feindbildern überzieht, was zum Wiederaufleben nationalistischer Obsessionen oder zur Entstehung von Misstrauen gegen die eigene Regierung bzw. die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten führt.“ (Ebd.)

Während sich seiner Meinung nach wirtschaftliche Veränderungen durch die Pandemie eher langfristig entwickeln, sieht er für den Tourismus kurzfristig gravierende Konsequenzen, da in den kommenden Jahren ein Vor-Corona-Niveau nicht mehr erreicht werden wird. Er bezieht das vor allem auf die europäischen Urlauber in nichteuropäischen Ländern. In einigen dieser Länder könnte das zu einer drastischen Krise der Wirtschaft führen, was wiederum die staatliche Ordnung destabilisieren würde und so durch die in der Pandemie entstehenden „Ängste und Befürchtungen“ geopolitische Veränderungen zu erwarten sind. (305) Welche aber diese konkret sein könnten, darauf geht der Autor nicht ein. „Eine Veränderung der Geopolitik durch veränderte Geoökonomie wird vor allem durch einen geschrumpften Tourismus erfolgen.“ (306) Um die Versorgung sicher zu stellen, steht die EU vor dem Problem der Schaffung „mittelfristig autarkiefähige[r] Räume“; dafür müssten dann „Grenzen für den Not- und Ausnahmefall“ festgelegt werden. (307) Er sieht die USA als Verlierer und China als den Gewinner in der Corona- Krise und macht das an folgenden Faktoren fest: Die Rolle des Staates und dessen Möglichkeiten des Eingriffs in das gesellschaftliche Leben, die Bereitschaft der Politik, sich an Experten zu orientieren „oder aber nach eigenen Vorstellungen oder den Stimmungen von Bevölkerungsteilen zu agieren“. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sieht Münkler Deutschland (bis Mitte Mai) „bei dieser Effizienzevaluation“ in einer Spitzenposition, was der Bundesregierung an politischem Einfluss zugutekommt. (308)

Der historische Blick von Münkler auf Pandemien ist interessant zu lesen. Seine Analyse geopolitischer Konsequenzen zeigt sich u.a. in der Entwicklung von unterschiedlichen Kräfteverhältnissen in wirtschaftlichen und politischen Organisationen und Institutionen. Wenn in vielen Ländern als Reaktion auf die Pandemie staatlicherseits ein Großteil der nicht lebensnotwendigen Produktion stillgelegt wurde und zum Teil noch wird, ist dies auch ein Beleg.

Corona-Pandemie: „Kein Sprungbrett in eine Postwachstumsgesellschaft“

Dieser Beitrag von Klaus Dörre (311-322), Professor für Arbeits-, Industrie und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, beginnt mit folgender These: „Die Pandemie und die politisch herbeigeführte globale Wirtschaftskrise wirken spontan keineswegs als Sprungbrett, das uns in eine bessere, eine demokratische Postwachstumsgesellschaft hineinkatapultiert. Je länger die Verwerfungen andauern, desto eher wird es für die verwundbarsten Teile der Weltbevölkerung um das nackte Überleben gehen. Massive Entsolidarisierungen könnten die Folge sein. Käme es dazu, würde zusätzlich behindert, was längst überfällig ist – eine Nachhaltigkeitsrevolution sowohl in der ökologischen als auch in der sozialen Dimension.“ (311) Diese These umreißt den gesamten Text, sodass die nachfolgenden Ausführungen als Erläuterungen angesehen werden müssen. COVID-19 zeigt ihm zufolge, dass die Globalisierung „Gegenbewegungen“ auslöst, die gesellschaftsverändernd wirken, besonders in den „kapitalistischen Zentren“. Die weltweite Bedrohung durch eine solche Infektionskrankheit ist verursacht durch die globale Reisetätigkeit, die zunehmende Internationalisierung des Handels, die engere Mensch-Tierhaltung, bedingt durch immer weniger werdenden Lebensraum für Wildtiere, eine veränderte Tierhaltung und durch einen Klimawandel, der eine Artenwanderung ausgelöst hat. (312)

Die hinter der Pandemie wirkende Krise bezeichnet Dörre als „ökonomisch-ökologische Zangenkrise“. Damit meint er, dass die herrschende Produktions- und Lebensweise auf immer mehr Wirtschaftswachstum beruht, diese aber zunehmend gesellschaftlich und ökologisch zerstörerisch wirkt. Durch die Corona-Krise waren weltweit „81 Prozent der global workforce (2,7 Milliarden Menschen) vom Lockdown ganz oder teilweise betroffen.“ (314) Seinen Angaben zufolge haben allein in den USA 36 Millionen Menschen ihre Arbeit verloren. Besonders betroffen, wobei das kaum überrascht, sind die informell und prekär Beschäftigten und die, die bei kleinen und mittleren Unternehmen arbeiten. (Ebd.) Er attestiert der Bundesregierung durch die Finanzkrise 2007-2009 gelernt zu haben, denn sonst wäre nicht erklärbar, dass in kurzer Zeit die schwarze Null, die heilige Kuh der marktradikalen Ökonomie, geschlachtet wurde. Dass durch staatliche Abwehrmaßnahmen enorme Wirtschaftseinbußen erfolgten, sieht Dörre als Zeichen der Solidarität, um Leben zu schützen. Es stellt sich aber die Frage, wie lange der Gesundheitsschutz gegenüber der sozioökonomischen tiefen Krise Bestand hat. (315) Auch diese Pandemie zeigt, dass die soziale Ungleichheit zunimmt und hauptsächlich solchen Menschen schaden wird, „denen alsbald auch noch der Teller für die Suppe fehlen könnte“. (316) Verteilungskämpfe werden nicht ausbleiben – auch auf EU-Ebene zwischen Gläubiger- und Schuldnerstaaten – und wahrscheinlich Entsolidarisierungen hervorrufen. Dörre sieht in Trump ein Beispiel für eine „Eskalationsstrategie“. Sobald der amerikanische Präsident erkannte, dass vor allem „people of colour, Arme und Schutzlose“ von der Infektion betroffen sind, entschied er sich, die Wirtschaftssanktionen nach und nach aufzuheben. Der Autor bezeichnet das als „verantwortungslose[n] Klassenpolitik“ und sieht „eine rassistische Konnotation“. (Ebd.)

Notwendig für ihn ist, „die Eigentumsfrage neu zu stellen“. Wenn der Staat privaten Unternehmen finanzielle Hilfen zukommen lässt, dann muss das seiner Meinung nach mit „Verfügungsrechten für Beschäftigte und/oder der öffentlichen Hand bezahlt werden“. (319) Momentan sieht er aber für eine solche Handlung durch die politische Elite keine Chance. Bezüglich Digitalisierung und Klimawandel wird nach Dörre die Rolle des Staates sich verändern und sich „ein Staatsinterventionismus neuen Typs durchsetzen“, da ansonsten in der Konkurrenz zu anderen imperialen Mächten Niederlagen drohen. Deshalb sind für ihn Staatsinterventionen nicht automatisch als progressiv zu bezeichnen. Dörre schließt seinen Beitrag mit der Hoffnung, dass „Realitätssinn“, „Skepsis des Verstandes“ und Solidarität mit all jenen, die in große Not geraten sind, „einer sozialökologischen Nachhaltigkeitskoalition zu kollektiver Handlungsfähigkeit in und nach der Krise verhelfen“ kann. (321)

Dörre gelingt es, seine eingangs aufgestellte These inhaltlich zu untermauern und damit deutlich zu machen, dass die Corona-Pandemie politisch keineswegs in eine demokratische Postwachstumsgesellschaft führt. Obwohl durch die ökologische Krise und durch die soziale Ungleichheitsschere an sich ein enormer Handlungsdruck besteht, wird der Staat, der auf einer „Verdichtung von Klassen- und Kräftekonstellationen beruht“ (320), sein Imperativ der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft nicht aufgeben, um in der Konkurrenz der imperialen Mächte keine Niederlagen zu erleiden. Seine Analyse der Rolle des Staates ist klar und nachvollziehbar.

Alle vier Beiträge zeigen aus unterschiedlichen Blickwinkeln aktuelle Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft der „Corona-Gesellschaft“. Das macht alle vier Texte lesenswert, da sie soziologisches Orientierungswissen liefern in einem von nationalen wie internationalen Krisen durchzogenen Kapitalismus.

Die vier vorgestellten Beiträge sind veröffentlicht in:

Volkmer, Michael/ Werner, Karin (Hg.) 2020: Die Corona-Gesellschaft. Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft, Bielefeld: Verlag transkript, ISBN 978-3-8376-5432-5. 429 Seiten, 24,50 Euro.

Wolfgang Kastrup ist Mitglied der Redaktion und im AK Kritische Gesellschaftstheorie

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 40 vom November 2020. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.