Der Krieg in der Türkei gegen die Kurden …

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… und die Rolle Deutschlands

Von Ismail Küpeli. Erschienen in DISS-Journal 31 (2016)

Schon über zehn Monate herrscht der Krieg in den kurdischen Gebiete der Türkei und eine Deeskalation ist weiter nicht in Sicht. Währenddessen hat sich Deutschland auf die Seite der türkischen Regierung gestellt – und damit faktisch gegen eine friedliche Lösung des Konfliktes.

Seit Ende Juli 2015 dauert der Krieg in der Türkei an und hat tausenden Menschen das Leben gekostet. Die Ausgangssperren und Belagerungen von kurdischen Städten im Osten der Türkei haben sich inzwischen zu einem Dauerzustand entwickelt. In einigen dieser Städte, wie etwa Cizre, Silopi und Nusaybin, finden immer wieder Militäroffensiven mit kurzen Pausen dazwischen statt. Während dieser Ausgangssperren und Militäroffensiven in den Städten wurden hunderte kurdische Zivilisten getötet, unzählige Menschen verletzt und ganze Straßenzüge zerstört.

Es ist ein merkwürdiger Krieg, der in den deutschen Medien bis vor kurzem nicht einmal als Krieg anerkannt war. Auch die genaue Opferzahl ist nicht bekannt. Die türkische Armee meldet, dass man über 4000 „Terroristen unschädlich gemacht“ habe – so die Sprechweise dort. Die linke HDP und Menschenrechtsorganisationen sprechen von mindestens hunderten zivilen Opfern.

Cizre als Testfall des Krieges

Um diesen Krieg richtig einzuschätzen, ist ein Blick auf die Situation in Cizre hilfreich. Cizre war bereits vielfach Ziel von Angriffen der türkischen Armee und Polizei. Bei einer dieser Operationen wurden im September 2015 über 20 Zivilisten getötet – nicht zuletzt weil die Armee die Ausgangssperre gewaltsam durchsetzte, etwa mit Hilfe von Scharfschützen. Die Opferzahlen spiegeln die Berichte von MenschenrechtsaktivistInnen wieder, die damals nach Aufhebung der Ausgangssperre in die Stadt gegangen sind, um die Lage zu analysieren.

Das staatliche Desinteresse am Umfang der zivilen Opfer hält sich bis heute. Cizre wurde immer wieder unter eine Ausgangssperre gestellt. Zivilisten, deren Häuser zerstört wurden, flohen in die Kellerräume, wo sie auf Rettung warten. Weil Verletzte aufgrund der Ausgangssperre nicht aus den umkämpften Gebieten evakuiert werden können, haben auch sie Zuflucht in solche Kellerräume gesucht. Bis Anfang Februar 2016 versuchten HDP-Abgeordnete, Menschenrechtsorganisationen und die kurdische Bevölkerung aus dem umliegenden Gebiet die verletzten Zivilisten zu retten. Diese Versuche wurden von der türkischen Armee und Polizei gewaltsam unterbunden. Auch Aufrufe von internationalen NGOs wie Human Rights Watch konnten die Türkei nicht dazu bewegen, diese Menschen zu evakuieren.

Nachdem zahlreiche verletzte Zivilisten verstorben waren, meldete die türkische Armee am 8. Februar, dass sie einen Kellerraum in Cizre gestürmt und dort dutzende „PKK-Terroristen“ getötet habe. Nach kurzer Zeit bestätigten sich die schlimmsten Annahmen. In dem bestürmten Kellerraum befanden sich verletzte Zivilisten, die bis zuletzt auf eine Rettung gehofft hatten. In den folgenden Tagen wiederholten sich solche Aktionen der türkischen Armee, mindestens zwei weitere Kellerräume wurden gestürmt. Die Darstellung der türkischen Armee, dass es sich bei den Opfern um bewaffnete PKK-Kämpfer handelte, scheint nicht zuletzt dadurch widerlegt zu sein, weil bei diesen Erstürmungen die türkische Armee laut Eigenangaben keinerlei Verluste hatte – aber gleichzeitig 60 „PKK-Terroristen“ getötet worden seien.

Wie schon bei der Offfensive im September 2015 haben MenschenrechtsaktivistInnen und HDP-PolitikerInnen nach einer Teilaufhebung der Ausgangssperre in Cizre versucht, die Zahl und Identität der Opfer zu erfassen. Nach ihren Angaben wurden in den Kellerräumen in Cizre mindestens 180 Menschen getötet, die bis heute nicht vollständig identifiziert werden konnten. Kurz nach den Massentötungen in Cizre kamen bedrohliche Meldungen aus Sur bei Diyarbakir, wo ebenfalls über 150 Menschen in solche Kellerräume geflüchtet sind. Dort konnte, anders als in Cizre, der Großteil der Menschen gerettet werden.

Deutschland schweigt nicht

Kritische Stimmen in Deutschland empören sich vielfach über das Schweigen der deutschen Regierung über solche Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen in der Türkei. Inzwischen ist aber die Rede vom „deutschen Schweigen“ eher ein Euphemismus und kein Kennzeichen einer kritischen Analyse der Rolle Deutschlands. Deutschland hat sich zum einen im Kontext der Europäischen Union dafür eingesetzt, die Abwehr der unerwünschten Flüchtlinge in Zusammenarbeit mit der Türkei zu organisieren. Die Türkei wird zum Türsteher an den Toren der Festung Europa. Dafür gibt es nicht nur EU-Finanzmittel in Milliardenhöhe, über die beide Seiten noch verhandeln, sondern auch politische Anerkennung seitens der EU und die Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen.

Die symbolische Wirkung dieser Maßnahmen bei der türkischen Wählerschaft sind eindeutig: Erdogan und die Regierungspartei AKP sind die Richtigen dafür, vom Westen Zugeständnisse zu entlocken.  Wenn die autoritäre Tendenz der AKP-Regierung so belohnt wird, dann werden die Stimmen in der Türkei lauter, die nach einer „starken Führung“ rufen. Die Kooperation der EU mit der Türkei beschränkt sich nicht nur auf die Finanzierung von Flüchtlingslagern in der Türkei, sondern geht weiter mit der Zusammenarbeit der Polizei- und Sicherheitsbehörden der EU-Staaten und der Türkei. Koordinierte Razzien der deutschen und der türkischen Polizei gegen vermeintliche „Menschenschmuggler“ haben bereits stattgefunden. Es ist davon auszugehen, dass die Zusammenarbeit sich nicht auf diesen Bereich beschränken wird, sondern sich ausweiten dürfte. Deutschland hat aber jenseits der EU-Türkei-Abkommen auch binationale Vereinbarungen mit der Türkei getroffen. Folgereich dürfte dabei der beschlossene gemeinsame „Anti-Terror-Kampf“ sein, der sich explizit nicht nur gegen den IS, sondern auch gegen die kurdische PKK und die türkische DHKP-C richtet. Ausgehend davon, wer alles in der Türkei als vermeintliches PKK-Mitglied oder vermeintlicher PKK-Unterstützer gilt, droht auch den politischen Gegnern des AKP-Regimes in Deutschland Repression. Erste Anzeichen sind bereits sichtbar. In Hannover wurde ein linkes Jugendzentrum wegen vermeintlichen PKK-Verbindungen durchsucht. In Heilbronn wurde eine Demonstration gegen die „Massaker in Cizre und Sur“ von der Stadt verboten. Der Krieg gegen die Kurden ist nicht weit weg, sondern zeigt sich auch hier in Deutschland. Insofern ist es nötig, dass die Linke in Deutschland die Beteiligung Deutschlands an Krieg und Repression in der Türkei wahrnimmt und eine adäquate politische Antwort darauf findet.

Bald „syrische Verhältnisse“ in der Türkei?

Angesichts dieser Gemengelage – einer autoritären türkischen Regierung, die sich mittels der Kriegseskalation an der Macht halten will, einer indifferenten türkischen Öffentlichkeit, einer zunehmend frustrierten und wütenden kurdischen Bevölkerung und der fortdauernden Unterstützung für das AKP-Regime seitens des Westens – spricht wenig dafür, dass der Krieg bald aufhören wird. Ganz im Gegenteil dürfte sich der Krieg 2016 weiter ausweiten und stärker in der Westtürkei ankommen – so etwa durch weitere Anschläge der „Freiheitsfalken Kurdistans“ (TAK) und militante Aktionen von kurdischen Gruppen in Istanbul und anderen Großstädten. Die Anschläge in Ankara am 17. Februar gegen ein Militärkonvoi mit 29 Toten und am 13. März am Kızılay-Platz mit 37 Toten deuten auf eine düstere Zukunft auch für die bisher von Kämpfen verschonten Gebiete. So sprechen auch die ersten Beobachter davon, dass in der Türkei bald „syrische Verhältnisse“ herrschen könnten – anders gesagt: ein landesweiter Bürgerkrieg.

Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler und freier Jorunalist.