Helmut Kellershohn: AfD-Sondierungen (4)

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Außenpolitische Sandkastenspiele

Die Russlandfrage aus der Sicht der jungkonservativen Neuen Rechten

von Helmut Kellershohn

Im Mittelpunkt des jungkonservativen Diskurses über Russland steht nicht Russland, sondern Deutschland. Alles Räsonnieren über russische Interessen verfolgt das Ziel, nach Wegen und Möglichkeiten zu suchen, wie Deutschland seine eigenen nationalen Interessen in Europa und gegenüber der Supermacht USA zu Geltung bringen kann. Und alles Schwärmen für den letzten „Metaphysiker“ unter Europas tonangebenden Politikern, nämlich Wladimir Putin, ist nichts anderes als die erhoffte Bestätigung dafür, dass die hier angestrebte „Kulturrevolution von rechts“ keine pure Fiktion, sondern in Russland bereits ein Stück weit Wirklichkeit geworden ist: das russische Vorbild also als Impuls für die Umgestaltung der deutschen Verhältnisse.

Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich vor allem auf die geopolitischen Mustern folgende Argumentation der jungkonservativen Neuen Rechten um die Wochenzeitung Junge Freiheit und das Theorieorgan Sezession, das vom Institut für Staatspolitik herausgegeben wird. Zur Einstimmung gehe ich auf das „Thesenpapier zur Außenpolitik“ des stellvertretenden AfD-Sprechers vom September 2013 ein, das man als populäre Einführung in den jungkonservativen Diskurs lesen kann. Gaulands politische Heimat war ursprünglich der sog. Stahlhelm-Flügel in der Union, er hatte aber auch gute Kontakte zum Kreis um Caspar v. Schrenck-Notzing und Armin Mohler und schrieb für deren Zeitschrift Criticón, in deren Tradition sich JF und Sezession sehen. Seit 2006 schreibt er in unregelmäßigen Abständen für die JF und gibt Interviews. Man muss daraus schließen, dass Gauland wenig Berührungsängste mit der jungkonservativen Neuen Rechten hat.

Staaten haben widerstreitende Interessen

Bei der öffentlichen Vorstellung des Thesenpapiers betonte Gauland die Schwierigkeit, in Deutschland über außenpolitischen Interessenlagen zu reden: „Wir Deutsche neigen dazu, nach den Erfahrungen der Hitler-Jahre die Definition und Verfolgung nationaler Interessen per se für etwas Schlechtes zu halten“ (Die Welt v. 10.09.2013), eine Sichtweise, die es in anderen Ländern nicht gebe, in denen es vielmehr ganz normal sei, auch unter befreundeten Nationen von gegenläufigen Interessen und Konkurrenzverhältnissen auszugehen. Diese ‚realistische’ Sicht der Außenpolitik wünscht sich auch Gauland und fordert in diesem Sinne ein neues Selbstbewusstsein Deutschlands. Gleichwohl haben auch die Thesen für das heutige Deutschland nichts einzuwenden gegen die, wie er sich 1991 ausdrückte, „Konstante der deutschen Nachkriegsentwicklung“ (gemeint ist die westdeutsche), die er dahingehend definiert, dass „unser Interesse am besten in einer engen Verbindung mit den westlichen Demokratien gewahrt“ worden sei. Die „westliche Sicherheitsarchitektur“, so die Thesen, sei beizubehalten, und diesbezüglich seien die USA nun mal der „entscheidende[ ] Anker dieser Architektur“, auch wenn man gegebenenfalls den „Grenz- und Regelüberschreitungen der USA […] diplomatisch und rechtlich“ entgegentreten müsse. Das geforderte neue Selbstbewusstsein wendet sich also nicht generell gegen die US-amerikanische Vormachtstellung, akzeptiert diese vielmehr, zumindest vorläufig, um dann die Aufmerksamkeit auf die Felder der Außenpolitik zu lenken, auf denen sich Spielräume und neue Handlungsoptionen, vor allem auf kontinental-europäischer Ebene, für die Verfolgung nationaler Interessen eröffnen könnten.

In der Europapolitik fordert Gauland, neben der „Auflösung des bestehenden Euro-Währungsgebietes“, die Beschränkung der EU auf den gemeinsamen Binnenmarkt und die Renationalisierung und Dezentralisierung solcher Kompetenzen, die „für das Funktionieren des gemeinsamen Marktes nicht unbedingt erforderlich sind“. Die Idee, die EU könne eine Weltmacht sein, wird abgelehnt. Es läge aber auch im deutschen Interesse, wenn „Länder der EU […] europäische Interessen auch mit militärischen Mitteln in angrenzenden Gebieten von vitalem Interesse“ (z.B. im Mittelmeerraum) wahrnähmen. Der Einsatz der Bundeswehr „in Konflikten außerhalb des NATO-Gebietes und losgelöst von den vitalen deutschen oder europäischen Interessen wie zum Beispiel im pazifischen Raum“ lehnt Gauland ab.

Die Russlandfrage als Symbol

Besondere Aufmerksamkeit widmet Gauland dem Verhältnis zu Russland, das für die deutsche und preußische Geschichte von großer Bedeutung gewesen sei und Preußen mehrfach „vor dem Untergang“ bewahrt habe (im Siebenjährigen Krieg und gegen Napoleon). Die Bismarcksche Reichseinigung und die deutsche Wiedervereinigung sei ohne Zutun Russland bzw. der Sowjetunion nicht denkbar gewesen. Vor diesem historischen Hintergrund seien die heutigen Beziehungen zu Russland einer „sorgfältige[n] Pflege wert“. Aber nicht nur für Deutschland, sondern auch für Europa postuliert Gauland: „Deutschland und Europa haben kein Interesse an einer weiteren Schwächung Russland [sic!] und damit auch des ganzen euroasiatischen Raumes.“ Eine weitere Annäherung der (europäischen) Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion an die EU dürfe daher „nur mit äußerster Vorsicht und unter Wahrung der Empfindlichkeiten Russlands“ betrieben werden. Schließlich sei etwa die Ukraine mit dem „heiligen Kiew“ die „Keimzelle Russlands“ und dessen Abtrennung nur vergleichbar mit der „Aachens oder Kölns von Deutschlands“. Und Gauland betont das Selbstbestimmungsrecht der „ehemals zum russischen Reich [!] gehörenden Völker und Nationen“, das müsse aber auch dann gelten, falls „die Ukraine und Weißrussland in den russischen Orbit zurückkehren“ wollten. Zudem erinnert er daran, dass die russische Seite „auf westliche Vorschläge oft aggressiv abwehrend reagiere“, weil sie mit Recht am „Wert westlicher Zusagen“ zweifle. Gauland verweist in diesem Zusammenhang auf die Ausdehnung der NATO „über die Oder hinaus“.

Die Berücksichtigung der russischen Interessenlage führt Gauland abschließend zu Bismarck. Dessen „Rückversicherungspolitik gegenüber Russland“ sollte auch unter den veränderten historischen Bedingungen „gepflegt“ werden – ein Rat, mit dem er sich nicht nur an die deutsche, sondern auch an die Außenpolitik der anderen europäischen Staaten wendet. Dass darin eine „antipolnische Spitze“ gesehen werden könnte, verneint er. Schließlich sei Polen in die EU und NATO integriert sowie mittlerweile mit Deutschland eng verbunden.

Soweit Gaulands Positionspapier. Im September 2014 lud die JF zu einem Streitgespräch zwischen Gauland und Bernd Lucke ein. Anlass war das von einem Parteitagsbeschluss abweichende Abstimmungsverhalten von AfD-Abgeordneten im Europaparlament in der Frage der Sanktionen gegen Russland. In diesem Gespräch präzisiert Gauland sein Positionspapier in zwei Punkten. Erstens relativiert er das dort angesprochene Selbstbestimmungsrecht. An die Adresse der Ukraine gerichtet heißt es: „Es gibt auch Regeln, die besagen, man sollte sich einem großen Nachbarn gegenüber politisch klug verhalten.“ Die Ukraine habe es „versäumt“ zu beachten, dass die Ausdehnung von NATO und EU – siehe Assoziierungsabkommen – von russischer Seite als Provokation und als „Verschiebung des Gleichgewichtes“ aufgenommen worden sei. Zweitens rechtfertigt er seine Warnung vor einer Schwächung Russlands mit einem „Grundgefühl“ in der Partei, „das weg will von einer zu starken amerikanischen Dominanz“, was im Klartext heißt: Die Schwächung Russlands liegt im amerikanischen, aber nicht im deutschen Interesse. Bezüglich der deutschen Außenpolitik, so Gauland weiter, bestünde aber der Eindruck mangelnder Unabhängigkeit (von den USA) und Souveränität, die aber jetzt bei den „relevanten Entscheidungen zum Tragen kommen“ müsse. Wieder im Klartext: Eine souveränere deutsche Außenpolitik muss sich gegen amerikanische Dominanz behaupten. „Und dafür ist“, so Gauland resümierend, „die Rußlandfrage im Grunde genommen fast so etwas wie ein Symbol.“ Lucke stimmte der ersten Präzisierung (politische Klugheit vs. Selbstbestimmungsrecht) nicht zu. Der zweiten dagegen wohl, freilich mit der Einschränkung, dass „die Westbindung Deutschlands in der AfD mehrheitlich“ bejaht werde, was aber Gaulands Thesenpapier gar nicht infrage stellen will.

Die Stunde der Geopolitik

Vom Gauland-Papier ist es nicht weit zu den grundsätzlichen Überlegungen, wie sie in der Jungen Freiheit und in der Sezession im Zusammenhang der Ukraine-Krise angestellt wurden. Dieter Stein hat sich nur selten direkt zum Thema Russland geäußert und das Feld strategischer Überlegungen weitgehend seinen ‚Vielschreibern’ Thorsten Hinz und Michael Paulwitz überlassen. Beide Autoren bemühen sich um eine ihrer Meinung nach realistische Sicht der Dinge. Dagegen gehörten „Russophobie und Russophilie […] genauso zur politischen Romantik wie blinder Pro- oder Antiamerikanismus“ (Hinz). Man müsse sich, so Paulwitz, vor „Schwarzweißdenken und Gut-Böse-Rhetorik“ (Paulwitz) hüten und stattdessen von der eigenen Interessenlage ausgehen, und zwar in Relation zu den eigenen Gegebenheiten und Möglichkeiten sowie in Hinblick auf den „staatspolitischen Egoismus“ der beteiligten Hauptakteure USA bzw. Russland. Maßgeblich für die Analyse ist bei beiden Autoren eine geopolitischer Ansatz, der zwischen einem geographischen Mystizismus („Geographie ist Schicksal“) und der banalen Erkenntnis schwankt, dass Großmächte und erst recht eine Supermacht wie die USA ihr Augenmerk auf Räume richten, die aus ökonomischen, machtpolitischen und militärstrategischen Gründen von Bedeutung sind. Dabei mag es nicht „primär um Landgewinne und Grenzverschiebungen“ gehen, „sondern um Sicherheit, Vormacht und die Ordnung und Beherrschung von Räumen“ (Paulwitz). Der Imperialismusbegriff, der sich hier zur Analyse anböte, spielt in den Ausführungen von Paulwitz und Hinz allerdings nur eine marginale Rolle. Ebenso fehlt ein kritisches Verständnis von Geopolitik als eines ‚wissenschaftlichen’ Instrumentariums für die Definition imperialistischer Ziele.

Das Mackinder-Spykman-Theorem

Um die Interessenlage der USA und Russlands zu beschreiben, bedienen sich beide Autoren der klassischen Unterscheidung von Seemacht und Landmacht, speziell in der Version des britischen Geographen Halford Mackinder (1861-1947). Dessen Theorie von einem „heartland“ (ursprünglich „pivot-area“) vollzog einen Perspektivenwechsel gegenüber der vormals, z.B. von dem amerikanischen Admiral Alfred T. Mahon, unterstellten Dominanz der Seemächte. Mackinder, so Hinz, „richtete den Blick auf das ‚Herzland’, das, für die Seemächte uneinnehmbar, den europäischen Teil Russlands und Westsibirien umfasste und im Süden bis ans Kaspische und Schwarze Meer reichte. Es sei von einem ‚inneren Halbmond’ umgeben, dessen westliche Spitze Europa bilde und sich von dort über Nordafrika, den Nahen und Mittleren Osten bis nach Indien und China erstrecke.“ Um diesen Gürtel herum ist die übrige Welt in Form eines „äußeren Halbmonds“ angeordnet, angefangen von den britischen und japanischen Inseln bis zu Amerika und Australien. Mackinder sieht einen strategischen Nachteil für die hier angesiedelten ‚reinen’ Seemächte, falls es dem Russischen Reich gelingt, das „Herzland“ industriell und technisch zu organisieren, möglicherweise in Zusammenarbeit mit Deutschland, und die Expansion Richtung Meer voranzutreiben. Die Verbindung Deutschland-Russland, so Hinz, sei Mackinder zufolge in der Lage, „sich die Herrschaft über die Eurasische Landmasse zu sichern, die zusammen mit Afrika die ‚Weltinsel’ bilde.“ Daraus habe Mackinder folgende Schlussfolgerung gezogen: „Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht das Herzland; wer über das Herzland herrscht, beherrscht die Weltinsel; wer über die Weltinsel herrscht, beherrscht die Welt.“

Ergänzend zieht Hinz Nicholas J. Spykman (1893-1943) heran, der in Yale lehrte und für die amerikanische Containment-Politik Vorarbeiten geleistet hat. Spykman modifizierte in mehrerer Hinsicht Mackinders Theorie, insbesondere in Hinblick auf den Gürtel des „inneren Halbmonds“, den er in „Rimland“ nannte. Hinz weist auf den entscheidenden Punkt hin, dass für Spykman die „zentralen Machtpotenzen“ nicht im Herz- sondern im Rimland lägen. Spykman veränderte folglich Mackinders Regel: „Wer das Rimland kontrolliert, beherrscht Eurasien, wer Eurasien kontrolliert, kontrolliert die Geschicke der Welt.“ Daran anschließend meint Hinz, dass es das Bestreben der USA sein müsse, ihren Einfluss im Rimland auszubauen und von dort aus eine „antirussische Eindämmungspolitik“ zu betreiben, die sie dann auch nach 1990 weiter verfolgt hätten, u.a. mit Hilfe der NATO-Ausdehnung.

Die Ukraine spielt in diesem geopolitischen Szenario eine zentrale Rolle, wie Hinz und Paulwitz gleichermaßen hervorheben. Kronzeuge ist in diesem Fall der US-amerikanische Politologe und Geostratege Zbigniew Brzezinski, der in seinem Buch The Grand Chessboard (dt. Die einzige Weltmacht, 1997) auf die Rolle der Ukraine näher eingeht. Hinz referiert: „’Der Wegfall der Ukraine’ […] wirke als ‚geopolitischer Katalysator’. Ohne sie sei Rußland außerstande, ein eigenständiges eurasisches Reich aufzubauen. Schließlich bliebe ihm nichts anderes übrig, als sich der US-dominierten westlichen Gemeinschaft unterzuordnen. Seine äußeren und inneren Verhältnisse müsste es nach westlichen Vorgaben regeln. Geostrategisch bekämen die Amerikaner ein weiteres Stück der eurasischen Landmasse unter ihre Kontrolle.“

Multipolarität statt Unipolarität

Vor diesem Hintergrund „nackte[r] geopolitische[r] Interessen“ (Dieter Stein) wird verständlich, warum die jungkonservativen Autoren das russische Vorgehen auf der Krim als in der Sache gerechtfertigt ansehen. Bei der „Rückgliederung“ (!) der Krim, schreibt Paulwitz, gehe es „nicht um kleinräumigen Gebietserwerb oder ethnisch motivierte Heimholungspolitik, […] sondern um die Verteidigung geostrategischer Positionen. Ein NATO-Stützpunkt auf der Krim und der Verlust der Seehoheit im Schwarzen Meer wäre für Russland, was für die USA eine erfolgreiche sowjetische Raketenstationierung auf Kuba gewesen wäre.“ (Paulwitz) Dies könne „Putin, will er russische Interessen wahren, niemals zulassen“ (Hinz). Hier kommt ein weiterer geopolitischer Vordenker, nämlich Carl Schmitt ins Spiel. Dessen Großraum-Konzeption knüpfe, so Paulwitz, an den „ursprünglichen Sinn“ der Monroe-Doktrin von 1823 („Amerika den Amerikanern“) an und spreche für den jeweiligen Großraum ein „Interventionsverbot“ für „raumfremde Mächte“ aus. In diesem Sinne seien das russische Vorgehen und darüber hinaus das Projekt einer „Eurasischen Union“ unter russischer Führung Ausdruck eines „multipolaren Gegenentwurf[s] zum anglo-amerikanischen Suprematieanspruch“. Damit wird die Gewissheit verbunden, dass „die Welt des 21. Jahrhunderts […] multipolar“ (Paulwitz), nicht unipolar strukturiert sei.

Allerdings hält sich das Verständnis für die russische Seite in Grenzen, auch wenn es zweifellos Sympathien für Putin gibt, der der „letzte europäische Politiker“ sei, „der sich explizit um die metaphysische Rückbindung des Politischen“ bemühe (Hinz). Russland sei „weder das ‚Reich des Bösen’ noch der bessere Hegemon“ (Paulwitz), sondern ein „Pfund“, mit dem die europäischen Staaten – „am günstigsten gemeinsam“ – wuchern könnten (Hinz) Im Klartext: Die Interessenlage der europäischen Staaten und insbesondere Deutschlands gebietet es, mit dem Machtfaktor Russland im Rücken, „die amerikanische Übermacht auszubalancieren“ und in einer Art „eurasische[r] Kooperation […] den amerikanische Druck zu neutralisieren“. Mehr Souveränität im Rimland, so die Devise. Umgekehrt bedeutet dies zwar, die russischen Interessen zu respektieren, gleichwohl aber nicht allzu viele Zugeständnisse zu machen. Am Horizont taucht hier wie bei Gauland das Konzept einer Gleichgewichtspolitik à la Bismarck auf, durch die Europa und Deutschland sich der Gegensätze zwischen den Polen USA und Russland bedienen, um ihre Eigenständigkeit und Souveränität auszubauen. Allerdings, und das ist die Crux der Angelegenheit, gibt es innerhalb dieses Dreiecks ein Machtgefälle zu Gunsten der USA, das auch die jungkonservativen Vordenker vorerst notgedrungen anerkennen müssen. Daraus ergibt sich gewissermaßen eine knifflige Schachaufgabe, die einer Quadratur des Kreises gleicht: Einerseits müsste eine „Europäische Union freier Völker, die allen Beteiligten ihre Individualität belässt“ mit einer Stimme sprechen; sie müsste sodann „den Osteuropäern Schutz vor russischen Pressionen“ bieten, also deren Souveränität garantieren (was die Ukraine mit einschließen würde), um damit deren „Sonderbeziehungen zu den USA überflüssig“ zu machen; zugleich hätte sie die Interessen Russlands zu respektieren“ (z.B. keine weitere Ausdehnung der NATO). Andererseits hätte sie alles zu vermeiden, „was den Eindruck eines US-feindlichen ‚Herzland-Rimland’ Machtblocks hervor- und das amerikanische Potential auf den Plan“ riefe, zumal man „bestmögliche Beziehungen“ zu den USA brauche, um z.B. die Handelswege zu sichern.

Mitteleuropa!

In diesem Machtspiel, dessen Komplexität sicherlich unterbelichtet ist, weil etwa die Rolle Chinas oder der „islamische Extremismus und Terrorismus“ (Paulwitz) nicht berücksichtigt wird, würden an die deutsche Außenpolitik hohe Anforderungen gestellt. Angesichts der „politischen und mentalen Verfaßtheit“ Deutschlands, so Hinz, sei dies aber problematisch, wenn nicht gar „utopisch“. Alle weltpolitischen Sandkastenspiele verweisen also zurück auf die Rolle Deutschlands in einem ‚Europa der Vaterländer’ bzw. der ‚freien Völker’. Es stellt sich die Frage, wie das Verhältnis Deutschlands als einer „wirtschaftlich dominante[n] europäische[n] Mittelmacht“ (Hinz) zu den anderen europäischen Staaten unter den Bedingungen eines renationalisierten Europas aussehen könnte. Welchen politischen Mehrwert könnte denn eine Renationalisierung in Hinblick auf die halbhegemoniale Stellung, die Deutschland ja bereits hat, erbringen? Warum der ganze Aufwand, wenn sich daran nichts ändern würde? Die jungkonservativen Vordenker stehen hier vor einem Problem, das sie vergleichsweise konventionell angehen, indem sie auf eine traditionelle Stoßrichtung der deutschen Außenpolitik zurückgreifen, für die der Name Bismarck steht.

Bismarck musste, nachdem auf dem Berliner Kongress die russischen Positionsgewinne auf dem Balkan zurückgewiesen worden waren und der russische Zar sich dafür im Ohrfeigenbrief über Bismarck beschwert hatte, seine Idealkonzeption des „Kissinger Diktats“ revidieren. 1879 wurde der Zweibund mit Österreich-Ungarn geschlossen und damit der Schwerpunkt auf eine mitteleuropäische Allianz verschoben, um die herum Bismarck dann sein berühmtes Bündnissystem, ein in der Tat wackliges „System von Aushilfen“ (mit dem berühmten Rückversicherungsvertrag als Gipfel der Diplomatie) aufbaute. Das Zauberwort Mitteleuropa beherrschte seitdem außenpolitische Debatten in Deutschland (neben der Propaganda für Kolonien und später den „Lebensraum im Osten“).

Die Mitteleuropaidee macht dann in den 1980er Jahren, im Vorfeld der sog. Wiedervereinigung, Karriere in der Neuen Rechten, und so verwundert es nicht, dass Thorsten Hinz in einem Beitrag für die Sezession wieder darauf zurückgreift. Der eigentliche Befürworter der Mitteleuropa-Idee ist freilich Karlheinz Weißmann, der sie mit einer deutlich antifranzösischen und antirussischen Spitze formuliert und folglich auch wenig von Alain de Benoists Achse Paris-Berlin Moskau hält. Er befürwortet einen unter deutscher Führung stehenden Raum von Skandinavien bis Sizilien. Mitteleuropa bedeute einen Bund der daran Beteiligten mit enger politischer und militärischer Zusammenarbeit und basierend auf einem geschlossenen Handelsstaat, der Einfluss auf Gesamteuropa habe und sich gegen Einwanderung abschließe sowie, solange es keine Alternative gebe, die Suprematie der USA akzeptiere.

Thorsten Hinz dagegen bezieht sich auf Friedrich Naumanns Kriegszielschrift Mitteleuropa von 1915. Dieser habe schon damals die „Vision einer multipolaren Welt der Großräume“ verfolgt und Deutschland „im Zentrum eines mitteleuropäischen Staatenverbundes“ platziert. Im Gegensatz zu Weißmann plädiert er dafür, dass die „kontinentale Führungsmacht“ Deutschland eine Partnerschaft mit Frankreich und Polen pflegen und aus Gründen, die bereits erwähnt wurden, ein gutes Verhältnis zu Russland und „bestmögliche Beziehungen“ zu den USA haben solle. Die Idee eines eurasischen Blocks unter russischer Führung à la Dugin lehnt Hinz logischerweise ab.

Unter den gegebenen Bedingungen, darüber sind sich sowohl Weißmann wie Hinz im Klaren, sind dies alles utopische Gedankenspiele. Am Ende aller außenpolitischen Überlegungen stehen daher die Innenpolitik und die Bemühungen um die Veränderung der hiesigen Verhältnisse. Der „Ablöseprozeß“ von den USA, schreibt Hinz, „müsste zunächst auf der intellektuellen und psychologischen Ebene stattfinden“. Die Funktionseliten in Deutschland seien dazu nicht in der Lage, sie hätten den „subalternen Status“ gegenüber den USA quasi „verinnerlicht“. Als selbsternannte zukünftige Elite spricht sich die jungkonservative Neue Rechte Mut für die angestrebte „Kulturrevolution von rechts“ zu – und findet in Putin den 15. Nothelfer. „Der Haß“, so der Ethnologe Thomas Bargatzky, „der Putin in den westlichen Systemmedien entgegenschlägt, ist Zeichen einer Kränkung des global-universalistischen Selbstbewusstseins. Hier ist einer, der dem Siegeszug der von den westlichen Eliten getragenen Moderne nicht nur Paroli bietet, sondern auch die Mittel dazu hat.“ Von Putin lernen, heißt siegen lernen!

Zitierte Quellen

Bargatzky, Thomas: Russland und die „westlichen Werte“, in: Sezession 59/2014, 24f.

Gauland, Alexander: Was ist Konservativismus? Frankfurt/M. 1991.

Gauland, Alexander: Thesenpapier zur Außenpolitik (05.09.2013): www.alternativefuer.de/thesenpapier-aussenpolitik/.

Gauland, Alexander/Lucke, Bernd: „Wir sind keine Einheitspartei“, in: JF 38/2014, 7

Hinz, Thorsten: Den kalten Krieg beenden, in: JF 04/2014, 1.

Hinz, Thorsten: Den Druck neutralisieren. US-Geopolitik und Russland, in: JF 13/2014, 18.

Hinz, Thorsten: Mitteleuropa als Option, in: Sezession 65/2015, 16-19.

Paulwitz, Michael: Positionen und Begriffe im Ukraine-Konflikt, in: Sezession 60/2014, 2f.

Paulwitz, Michael: Geographie ist Schicksal, in: JF 38/2014, 1.

Stein, Dieter: Die Balance wahren, in: JF 12/2014, 1.

Weißmann, Karlheinz: Unsere Zeit kommt, Schnellroda 2006.

Eine leicht veränderte Fassung dieses Textes erschien am 16.6.2015 in der Tageszeitung junge Welt unter dem Titel: Mit Bismarck.