Von Robin Heun, erschienen in DISS-Journal 22 (2011).
In der Antisemitismusforschung gelten Vorgeschichte, Ereignisse und Nachwirkungen der November-Pogrome als gut erforschte Phase der Verfolgungsgeschichte der Juden. Für zahlreiche Städte wurden in den vergangenen Jahren Regionalstudien angefertigt, in denen die lokalen Pogromausschreitungen aufgearbeitet, analysiert und rekonstruiert wurden. Für die Ruhrgebietsmetropole Duisburg existiert bisher noch keine vergleichbare Veröffentlichung.
Wer sich über die Ereignisse des Pogroms in Duisburg informieren möchte und sich mit den Gedenktafeln, die an die niedergebrannten Synagogen erinnern, nicht zufrieden gibt, der muss die wenigen Bücher, die sich mit Duisburg in der NS-Zeit beschäftigen, durchforsten und sich selbst auf die Suche nach geeigneten Quellenmaterial begeben. Dann wird man allerdings fündig. Im Duisburger Stadtarchiv befindet sich z.B. unter der Signatur „StA Duisburg – 306/253“ eine Polizeiakte, die über 34 Schriftstücke enthält, die sich auf die gewaltvollen Ausschreitungen des 10. und 11. Novembers beziehen. Diese Polizeidokumente geben einen aufschlussreichen Einblick in die Geschehnisse des Novemberpogroms in der Stadt Duisburg. Sie verdeutlichen, wie sich die Polizei während des Pogroms verhielt und sie belegen, dass die „Aktionen gegen die Juden“ – so die Bezeichnung der Pogromausschreitungen im Nazi-Jargon – von zentralen Parteistellen aus organisiert wurden.
Die Duisburger Polizei erhält Anweisungen…
In der Nacht zum 10. November wurde der Duisburger Polizei vom Oberregierungsrat August Korreng (Polizeipräsidium Düsseldorf) um 0.22 Uhr folgendes mitgeteilt:
„Auf Veranlassung des Höheren SS Führers Weitzel, ist damit zu rechnen, dass ab sofort Aktionen gegen Juden unternommen werden. Hiergegen ist nicht einzuschreiten. Die Aktionen sind im Gegenteil zu unterstützen. Wertsachen, die beim Einschlagen von Schaufensterscheiben usw. evtl. durch Mop geplündert werden, sind von den Polizeirevieren sicherzustellen. Es ist damit zu rechnen, dass Synagogen in Flammen hochgehen.“ ((StA Duisburg – 306/253, Bl. 6.))
Von München aus wurde Joseph Goebbels Pogromaufruf telefonisch durch SA-Führer, Kreis- und Ortsgruppenleiter der NSDAP, Bürgermeister und andere Funktionäre weiter getragen. Parallel dazu versendete Heinrich Müller, Chef der Gestapo-Abteilung für Regimegegner, von Berlin aus um 23.55 Uhr ein geheimes Blitzfernschreiben an sämtliche Gestapodienststellen. Es enthielt Anweisungen bezüglich der „Aktion gegen Juden“. Die um 0.22 Uhr in Duisburg eingetroffene Nachricht ist mit dem ersten Absatz dieses Fernschreibens identisch. Reinhard Heydrich, Leiter der Sicherheitspolizei und des SD, präzisierte Müllers Mitteilung mit einem weiteren Fernschreiben, das er um 1.20 Uhr von München aus versendete. Gegen 3.50 Uhr erhielt die Duisburger Polizei eine telefonische Mitteilung von der Gestapo Düsseldorf. Der Duisburger Polizei wurden konkrete Handlungsanweisungen mitgeteilt. Bei diesen Anweisungen handelt es sich um insgesamt sieben Instruktionen, die vom „Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei“ – also von Heinrich Himmler – für die Polizei vorgesehen waren. Vergleicht man die telefonische Mitteilung mit Heydrichs Fernschreiben, dann wird deutlich, dass dieses wortwörtlich übermittelt wurde. Der angegebene Betreff „Maßnahmen gegen Juden“ lässt bereits erahnen, wohin die Reise geht. Anschließend wird folgendermaßen in die ‚nachtpolitische’ Materie eingeleitet: „Im Laufe der heutigen Nacht zum 10. 11. 38 sind im ganzen Reich Demonstrationen gegen Juden zu erwarten“. Die weiteren Ausführungen dieses Dokuments belegen, in welchem Umfang die Polizei in die Organisation des Pogroms eingebunden wurde. Es wurde explizit angeordnet, dass die Polizei nicht gegen die Pogromtäter vorgehen sollte, es sei denn, es bestünde ein Verdacht auf Plünderung. „Geschäfte und Wohnungen dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden“; ebenso sollten „Synagogenbrände nur wenn keine Brandgefahr für die Umgebung“ besteht, zugelassen werden. Eine weitere Aufgabe bestand darin, „in allen Bezirken so viele Juden, insbesondere wohlhabende Juden festzunehmen als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können“. Wie die Duisburger Polizeibeamten mit den Anweisungen umgingen, geht dann aus den polizeiinternen „Erfahrungsberichten über die Aktion gegen die Juden“ hervor. Daraus wird deutlich, dass die Polizei nicht versuchte, die Täter zu ermitteln. Auch versuchte sie nicht, den Opfern zu helfen, vielmehr versiegelte sie die Wohnungen oder das Ladenlokal und bewachte es. Dies ist dem Erfahrungsbericht des 6. Polizeireviers zu entnehmen:
„Gegen die Personen, es sollen etwa 8-10 unbekannte Zivilisten gewesen sein, die die Aktionen vornahmen, wurde nichts unternommen“. „Nach Zerstörung der Ladeneinrichtungen […] wurden die Läden sofort mit je einem Posten besetzt. Während der Postenbesetzung zerstörten die gleichen Unternehmer auch die gesamten Wohnungseinrichtungen der noch hier wohnenden Juden.“ ((StA Duisburg – 306/253, Bericht des 9. Polizei Reviers, Bl 12.))
Aus dem Bericht des Polizeireviers 16 geht hervor, dass sowohl die Schutzpolizei als auch die Kriminalpolizei am Raub des jüdischen Eigentums beteiligt war:
„Befehlsgemäß wurden die genannten Geschäfte – Privatwohnungen ausgenommen – polizeilich gesichert. Geschäftshauptbücher sowie Bargeld der Firma Berger u. Co wurden der Stapo mit Sonder-Bericht übergeben.“ ((StA Duisburg – 306/253, Bericht des 16. Polizeireviers, Bl. 27.))
Außerdem wurden jüdische Mitbürger, oftmals mit Hilfe von SA-Männern, festgenommen und dem Polizeigefängnis „zugeführt“. In einem Fall wurden dann zwei von der Polizei festgenommene Juden nach Rücksprache mit der Stapo (Nebenstelle Hamborn) wieder aus dem Polizeigefängnis entlassen. Begründet wurde diese Entscheidung damit, dass es sich bei den beiden Männern „um unbemittelte Personen handelte“. Hier hatte sich die Polizei also nicht an die Anweisung gehalten, „insbesondere wohlhabende Juden festzunehmen“. Die Polizei war über die Planung des Pogroms informiert und in die Durchführung involviert, sie war Herrschaftsinstrument des NS-Staats. Doch wer waren die „unbekannten Zivilisten“, die letztendlich die Wohnungen, die Ladenlokale und Synagogen verwüstet, zerstört und niedergebrannt haben? In der NS-Forschung wird davon ausgegangen, dass die Täter des Novemberpogroms überwiegend in Zivil agierende SA-Männer und Angehörige anderer Parteigliederungen wie NSKK und Hitlerjugend waren. Der Duisburger Historiker Ludger Heid bestätigt, dass auch in Duisburg die SA bei den Übergriffen dominierte. In diesem Zusammenhang erscheint es besonders skurril, dass die Polizei bei sämtlichen Einsätzen von Einheiten der SA unterstützt wurde. Bezüglich der Herkunft der Täter hebt ein Augenzeugenbericht hervor, dass es teilweise keine Duisburger waren, sondern dass sie aus taktischen Gründen extra aus Dortmund anreisten. Außerdem ist davon auszugehen, dass die Täter mit sorgfältig angefertigten Adresslisten ausgestattet waren und bei den Übergriffen stark unter Alkoholeinfluss standen. ((Barkow, Ben (2008): Novemberpogrom 1938. Die Augenzeugenberichte der Wiener Library, London/Frankfurt am Main: Jüdischer Verl. im Suhrkamp-Verlag, S. 357-361.)) Im Zuge des Pogroms wurden in Duisburg so wie in anderen Städten auch die Synagogen in Duisburg-Mitte, Duisburg-Ruhrort und Duisburg-Hamborn niedergebrannt. Auch wurde die Inneneinrichtung des jüdischen Gemeindehauses zerstört. Es wurde eine jüdische Schule verwüstet und ausgeplündert. Mindestens 40 Wohnungen und 40 jüdische Geschäfte wurden überfallen, verwüstet oder sogar vollständig zerstört. Am 10. November wurde gegen 10:00 Uhr der Geschäftsmann Ludwig Leiser Windmann vor seinem Geschäft auf dem Sonnenwall 72 von SA-Männern vor den Augen seines Enkels brutal bis zur Bewusstlosigkeit niedergeschlagen. Acht Tage später verstarb das Opfer an den Folgen der schweren Misshandlungen. Von den Bränden und Zerstörungen blieben selbst die Toten nicht verschont. Am 11. November wurde auf dem jüdischen Friedhof in Duisburg-Beeck durch einen Brandanschlag die Leichenhalle vollständig zerstört.
Die an dieser Stelle exemplarisch geschilderten Pogromausschreitungen waren für die jüdischen Mitbürger Duisburgs äußerst verheerend. Für sie hatte der sowieso schon ausgehöhlte Rechtsstaat endgültig aufgehört zu existieren. Damit sich interessierte Bürger, Lehrerinnen, Schülerinnen und Studierende über den Verlauf des Novemberpogroms 1938 in Duisburg informieren können, sollten alle bereits vorhandenen Erkenntnisse aufgegriffen und um nicht genutzte Quellenbestände erweitert werden, um eine Buchveröffentlichung zum Thema voranzubringen. ((Die Regionalstudie zum Novemberpogrom 1938 in Duisburg von Robin Heun ist auf dem DISS-Blog (http://www.disskursiv.de/) veröffentlicht.))