Der Diskurs im Spannungsfeld von System- und angewandter Linguistik

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4. Internationale Konferenz „Kommunikation für Europa“ in Pobierowo (Polen) Ein Tagungsbericht von Sonja Baláž / Philipp Dreesen / Pavla Matejková (Universität Greifswald). Erschienen in DISS-Journal 19 (2010)

Seit 2003 finden alle zwei Jahre in Pobierowo Konferenzen statt, die von der Universität Szczecin und der Universität Greifswald ausgerichtet werden. Die jüngste Konferenz vom 15.9. bis 18.9.2009 trug den Titel „Der Diskurs im Spannungsfeld von System- und angewandter Linguistik“ und wurde ausgerichtet von Prof. Dr. Ryszard Lipczuk (Szczecin) und Prof. Dr. Jürgen Schiewe (Greifswald). ((Die Tagung wurde gefördert von der Universität Szczecin und der Fritz Thyssen Stiftung. Die Beiträge der Tagung sind erschienen in: Ryszard Lipczuk, Dorota Misiek, Jürgen Schiewe und Werner Westphal (Hg.) Diskurslinguistik – Systemlinguistik. Theorien – Texte – Fallstudien, Stettiner Beiträge zur Sprachwissenschaft, Band 3, Hamburg.)) Mit dem Thema wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass Diskurse als textübergreifende Größe zu einem mittlerweile etablierten Untersuchungsgegenstand in der Linguistik geworden sind.

Dr. Margarete Jäger (DISS) eröffnete die Tagung mit einem gemeinsam mit Prof. Dr. Siegfried Jäger verfassten Vortrag unter der selbstverortenden Frage „Wie kritisch ist die Kritische Diskursanalyse?“ Kritisch, so wurde deutlich, versteht sich die Kritische Diskursanalyse vor allem in vier Dimensionen: (1) in der thematischen Wahl des zu untersuchenden Diskurses, (2) in der sich auf einer moralisch- ethischen Grundlage verstehenden Wissenschaft und (3) in der Wahrung der Unabhängigkeit der Forschung. Schließlich erteilt (4) Kritische Diskursanalyse allen „Wahrheiten“ eine Absage und wendet sich gegen jegliche Ideologisierung. Die anschließende Diskussion nahm diesen umfassenden Kritikbegriff auf und formulierte – insbesondere wegen des aus ihm resultierenden Relativismus – den Wunsch nach dessen Schärfung zwischen Selbstkritik und zivilgesellschaftlichem Auftrag.

Aus seiner Arbeit als Leiter des Auslandsamts der Universität Toruń stellte Dr. Lech Ziliński exemplarisch Unterschiede in der sprachlichen Kommunikation zwischen Polen und Deutschen dar, die mitunter zu Missverständnissen führen. Er wies auf das Fehlen theoretischer und methodischer Ansätze in der Erforschung interkultureller Kommunikation hin. In der Diskussion wurde auf einen zu stark auf das Nationale fokussierenden Kulturbegriff hingewiesen, zu dessen Überwindung sich ein transkultureller Ansatz anbiete.

Prof. Dr. Elizavete G. Kotorova (Zielona Gora) präsentierte Ergebnisse einer Untersuchung von Sprechakten im Deutschen. Sie zeigte das Maß der Prototypizität von spezifischen illokutionären Indikatoren für bestimmte Illokutionen und ihre typischen Ausdrucksformen im Kontext (Diskurs) auf. Die Diskussion bestätigte, dass die Systemlinguistik zwar bei der formalen Beschreibung der Sprechakte an ihre Grenzen stößt, dass aber andererseits die Untersuchung von Sprechakten in der Diskurslinguistik bisher kaum (systematisch) Anwendung findet.

Der Aphorismus als prägnanter Ausdruck von Erfahrungen ist, so die These von Prof. Dr. Winfried Ulrich (Kiel), das Ergebnis von Rede- und Gegenrede als Diskurs. Die verschiedenen Wortbildungsmuster der Pointen kommen zustande, indem der Aphorismus stets unzureichende Informationen liefert, die durch außersprachliches Wissen der Sprachgemeinschaft und/oder durch sprachliches Wissen (Sprichwörter, Losungen) ergänzt werden müssen. In der Diskussion wurde angeregt, ein Konzept von Diskurs und Gegendiskurs in der linguistischen Aphorismusforschung zu entwickeln, um das historische Wissen einzubeziehen.

Am letzten Tag der Konferenz sprachen Dr. Jürgen Spitzmüller (Zürich) und Prof. Dr. Martin Wengeler (Düsseldorf ). Erstgenannter stellte die Entstehungsgeschichte und Lesart seines gemeinsam mit Ingo H. Warnke erarbeiteten DIMEAN- Modells für Diskursanalysen vor. Es wurde deutlich, dass das Modell ein Spektrum von Möglichkeiten diskursanalytischen Arbeitens aufzeigt und dabei doppelt integrierend wirkt: Es bietet sich sowohl für eine Kritische wie für eine Semantische/Historische Diskursanalyse an und verknüpft Diskurslinguistik mit Methoden der Systemlinguistik. In der Diskussion wurde deutlich, dass das DIMEAN-Modell ausdrücklich offen für Modifikationen ist; hervorgehoben wurde die Berücksichtigung der Akteursrolle im Diskurs.

Prof. Dr. Martin Wengeler nutzte die Gelegenheit, um sich als Vertreter der Düsseldorfer Schule (erneut) von der Kritischen Diskursanalyse abzugrenzen. Er konzentrierte sich auf zwei Beispiele: den Reform-Diskurs auf der Wortebene im parteipolitischen Diskurs und den Heuschrecken-Topos im Kapitalismusdiskurs. Bei seiner Methode der Topoi-Analyse hob er hervor, dass es sich beim Topos nicht um das richtige Schließen im Sinne der Logik handelt. Vielmehr seien die Topoi auf einer mittleren Abstraktionsstufe angesiedelt, so dass man sich darunter eine Plausibilität im Sinne der Alltagslogik vorzustellen habe. Die Diskussion griff dies auf und problematisierte, dass zu analysierende Argumentationstopoi im Diskurs nicht immer als in Schlussregeln formulierte vollständige Satze auftreten, sondern durchaus auch auf der Wortebene angesiedelt sein können. Damit aber ergibt sich die Notwendigkeit, eine Abgrenzung zum Schlüssel- bzw. Schlagwort vorzunehmen.

Insgesamt trugen vierzig Teilnehmerinnen auf der Konferenz ihre Arbeitsergebnisse vor. Es wurden dabei viele kulturvergleichende bzw. transnational angelegte Forschungsprojekte vorgestellt, die z.B. die besonderen polnisch-deutschen Beziehungen in den Massenmedien nachwiesen oder sich mit interkulturellen Missverständnissen beschäftigen. Bei all dem zeigte sich die Diskurslinguistik in mehrfacher Hinsicht breit aufgestellt: Die Untersuchungskorpora reichten von spatmittelalterlichen Stadtbüchern über Massenmedien (Print und TV) bis zum Weblog. Zwar konzentriert sich jede Diskursanalyse in ihrem Textkorpus auf ausgewählte Aspekte; die Tagung demonstrierte die Diskurslinguistik gleichwohl als Analyse unterschiedlicher sprachlicher wie nicht sprachlicher Symbolisierungsformen und den schon angesprochenen Argumentationstopoi. Daraus ergeben sich mindestens zwei Themenvorschlage für eine Konferenz 2011: „Text-Bild-Beziehungen aus sprachwissenschaftlicher Sicht“ und „Sprachkritik zwischen autonomem Subjekt und der Macht des Diskurses“.