Sammelband zum Zustand der Universität. Eine Rezension von Rolf van Raden. Erschienen in DISS-Journal 18 (2009)
Im Oktober 2009 kündigte die Kultusministerkonferenz (KMK) an, man wolle nach Protesten von Studierenden und Lehrenden das umstrittene Bachelor/Master-System reformieren. Schnell stellte sich heraus: Die zentralen Paradigmen der Reform, die während des Bildungsstreiks im Sommer massiv in Frage gestellt worden waren, werden von der KMK weiter verteidigt. Wie gut, dass zumindest an anderer Stelle kontrovers und kritisch über den Zustand der Hochschulen debattiert wird. Einen solch kenntnisreichen Blick auf die „ruinierte Institution“ Universität wirft ein kleiner Sammelband, den die Theaterwissenschaftlerinnen Ulrike Haß (Bochum) und Nikolaus Müller- Schöll (Hamburg) herausgegeben haben. Was ist aus der modernen Universität geworden, die – zumindest ihrem humboldtschen Gründungsmythos nach – nur der Erkenntnis und der Wahrheit verpflichtet sein sollte? Von was spricht man, wenn man heute „Bildung“ sagt? Und wie behauptet sich diese „Bildung“ gegenüber Forderungen nach reiner Ausbildung, Effizienz und Exzellenz? In insgesamt elf Beiträgen antworten Philosophinnen, Historikerinnen, Literatur-, Kultur- und Theaterwissenschaftlerinnen auf diese Fragen – und zwar in einer Dichte, wie man sie sonst selten geliefert bekommt.
Der Bochumer Philosoph Bernhard Waldenfels etwa setzt dem Paradigma der Ökonomisierung ein Plädoyer für die Überschussproduktion entgegen, welche grundsätzliches Prinzip der universitären Forschung sein müsse. Die Hamburger Literaturwissenschaftlerin Marianne Schuller kritisiert in ihrem Beitrag, dass die gegenwärtigen Reformen einen Keil zwischen Forschung und Lehre treiben. Den Entscheidungsstrukturen an der Hochschule widmet sich die Wuppertaler Romanistin und Kulturwissenschaftlerin Ursula Link-Heer: Sie beschreibt die Beratung durch hochschulpolitische Lobbyisten als „Regimewechsel“, der seit den 1990er Jahren „mit äußerster Brutalität und Gewalt in einem besinnungslosen Tempo durchgesetzt wurde.“ Versöhnlich zeigt sich dagegen die Berliner Politikwissenschaftlerin und SPD-Bundespräsidentschaftskandidatin Gesine Schwan: Sie macht die politisch-aufklärerische Rolle der Universität stark und erklärt, „dass gute, gleichsam ‚nachhaltige’ Ausbildung keineswegs im Gegensatz zur Bildung steht.“
Es ist eine Stärke des Sammelbands, dass mancher Text auch zum differenzierten Widerspruch anregt. Der Mannheimer Literaturwissenschaftler Jochen Hörisch etwa dignostiziert einen Bedeutungs- und Funktionsverlust der Universität. Etwas widersprüchlich beklagt er einerseits die Formalisierung, Verschulung und Enterotisierung der ehemaligen „Alma Mater“, um andererseits den notwendigen Stellenwert der Geisteswissenschaften ausgerechnet an Verwertungskriterien fest zu machen:
„Zur Klärung der offensichtlichen Großprobleme zu Beginn des 21. Jahrhunderts tragen Genforschung, Neurophysiologie und Biochemie wenig bei; dazu braucht man vergleichende Religionswissenschaftler, Byzantinisten, Koranexperten, Kulturanalytiker, Historiker, Demographen, Textkundige, Psychologen, Politologen, Soziologen.“
Dass so manchem Beitrag die eigene institutionelle Bedingtheit sichtbar eingeschrieben ist – dass hier also Wissenschaftlerinnen ihre eigenen Fachbereiche und Freiheiten zu verteidigen suchen – das kann nicht als Schwäche des Sammelbands ausgelegt werden. Denn gerade das kritische Nachdenken über die eigene Institution macht den authentischen Charme und die inhaltliche Qualität der Beiträge aus. Abschließend führt dies Mitherausgeber Nikolaus Müller-Schöll in seinem Aufsatz über die „Zukunft der Universität“ beispielhaft vor, der einerseits auf einem hohen Abstraktionsniveau Jacques Derridas Schriften zur Universität heranzieht, um vor diesem Hintergrund andererseits politisch handhabbar die „Wunden“ der aktuellen Hochschulreformen zu bestimmen.
Warum kümmern sich ausgerechnet Theaterwissenschaftlerinnen um diese Themen? Ulrike Hass und Nikolaus Müller-Schöll begründen das schon im Vorwort: Beide Institutionen, Universität und Theater, seien „auf das Engste mit der Idee der Aufklärung verknüpft und bilden Grundpfeiler für die Vorstellung der bürgerlichen Öffentlichkeit als eines Forums, in dem Fragen verhandelt werden können, welche die Gesellschaft als Ganze betreffen.“ Das ist eine plausible Antwort. Wer den vorliegenden Sammelband liest, dem kommen gleich zwei weitere gute Gründe in den Sinn: Weil sie es können, und weil es sonst viel zu wenige tun
Ulrike Haß / Nikolaus Müller-Schöll (Hg.)
Was ist eine Universität?
Schlaglichter auf eine ruinierte Institution
2008 Bielefeld: transcript
ISBN 978-3-89942-907-7
156 S., 12,80 €