und die Verdrängung des Politischen – in Österreich und anderswo. Von Markus Wrbouschek. Erschienen in DISS-Journal 17 (2008)
Anlässlich des irischen Nein zum Lissabonvertrag kam es europaweit zu Diskussionen über die Zukunft des Europäischen Integrationsprojekts bzw. über die Gründe der geringer werdenden Akzeptanz in vielen Mitgliedsstaaten. In Österreich drängte sich diese Frage umso mehr auf, als das Eurobarometer weit unter dem europäischen Mittel liegt. Der öffentliche Diskurs hierzulande wird mit erheblichem Erfolg durch das Dreigespann aus Kronen Zeitung und den Rechts-Außen Parteien FPÖ und BZÖ, der von Jörg Haider ins Leben gerufenen Partei, in Beschlag genommen. Die euro-skeptischen Kampagnen der Kronen Zeitung verzahnen sich mit der Warnung der Rechtsparteien vor einem Identitätsverlust Österreichs.
Die Verweise der Großparteien SPÖ (Sozialdemokraten) und ÖVP (Christlich-Konservative) auf den Nutzen des Europäischen Einigungsprozesses erscheinen angesichts globaler Herausforderungen wirkungslos. Zu leicht lässt sich in der österreichischen Provinz europäisches Bewusstsein als Verrat nationaler Interessen verkaufen. So titelte die FPÖ z.B. im Wahlkampf: „Volksvertreter statt EU-Verräter“. Entsprechend sahen sich die politisch Verantwortlichen im Gefolge der irischen Abstimmung zum Reformvertrag zwar veranlasst, sich mit der „heißen Kartoffel“ Europa zu befassen, allerdings nur kurz. In einem offenen Brief an die Kronen Zeitung überraschte der neue SPÖ- Parteichef Werner Faymann die Öffentlichkeit und Teile der eigenen Partei mit der Ankündigung, den Europäischen Reformvertrag im Fall der Neuverhandlung einer Volksabstimmung unterziehen zu wollen.
Die Kehrtwende in der bisherigen Parteilinie und die Bekanntgabe via Boulevard sorgte für Empörung. So wurden der SPÖ Verrat an Europa (immerhin hatte Kanzler Gusenbauer den Reformvertrag mit unterzeichnet) und Buckeln vor der Kronen Zeitung vorgeworfen. Dabei ging die Frage unter, wie man das Projekt Europa neu und besser gestalten könne. Hinter diesen Diskursvermeidungsstrategien stecken freilich Probleme weit über Österreich hinaus.
Das Soziale und der Wettbewerb
Ein zentrales Thema des Europäischen Integrationsprozesses bildete in den letzten Jahren der Aufbau einer Sozialunion als Komplement zu den wirtschaftspolitischen Zielsetzungen der Gemeinschaft. Der Mangel an sozialer Verantwortlichkeit der Europäischen Politik bildet seit Jahrzehnten einen Fixpunkt kritischer Kommentare. Die Wirtschafts- und Sozialunion soll die Lücke zwischen gesellschaftspolitischen Anliegen und ökonomischen Zielen schließen. Ein wesentlicher Faktor ist dabei die Formulierung einer Europäischen Beschäftigungsstrategie, die im Rahmen des „Lissabon-Programms“ für Wachstum und Beschäftigung ((Europäische Kommission (2005). KOM(2005) 24. Mitteilung für die Frühjahrstagung des Europäischen Rates. Zusammenarbeit für Wachstum und Arbeitsplätze. Ein Neubeginn für die Strategie von Lissabon. http://ec.europa.eu/growthandjobs/ pdf/comm_spring_de.pdf (11.3.2007).)) erarbeitet wurde. Das Programm offenbart, welcher Art das Europäische Einigungsprojekt ist, und auch, welche Ansatzpunkte für eine (linke) Kritik am Projekt Europa sich ergeben könnten. Wie nämlich eine diskursanalytische Studie ((Wrbouschek, Markus (2008). Der arbeitende Mensch im Brennpunkt der Europäischen Beschäftigungspolitik. In: Jäger, Siegfried [Hg.] (2008). Wie kritisch ist die kritische Diskursanalyse? Ansätze zu einer Wende kritischer Wissenschaft. Münster: Unrast.)) gezeigt hat, werden dort soziale Zielsetzungen (z.B. das Eintreten für Vollbeschäftigung) keineswegs mit eigenständigem politischen Anspruch erhoben, sondern bleiben jederzeit auf den ökonomischen Topos verwiesen. So findet sich im Vorschlagspapier der Europäischen Kommission zur Neuauflage der Lissabon- Strategie 2005 die Formulierung: „Die Strategie von Lissabon misst dem Beschäftigungs- und dem Produktivitätszuwachs mittels einer gesteigerten Wettbewerbsfähigkeit denselben Stellenwert bei.“ ((Europäische Kommission (2005). KOM (2005) 24. Mitteilung für die Frühjahrstagung des Europäischen Rates. Zusammenarbeit für Wachstum und Arbeitsplätze. Ein Neubeginn für die Strategie von Lissabon. http://ec.europa.eu/ growthandjobs/pdf/comm_spring_de.pdf (11.3.2007).)) Die Kommission geht im zitierten Papier von einer Mittel-Zweck Beziehung zwischen Produktivitätszuwächsen und dem Steigen der Beschäftigungsquote aus und betrachtet die Resultante besserer Bedingungen im „internationalen Wettbewerb“ zwischen Nordamerika, Asien und Europa.
Das Europäische Sozialprojekt schrumpft daher zum Residualeffekt des ökonomischen Projekts, der sich aus der Installierung des wettbewerbsstarken Standorts Europa ableiten soll. Michel Foucault analysiert in seiner Vorlesung am Collège de France in Auseinandersetzung mit den wirtschaftspolitischen Programmen der deutschen Ordoliberalen nach 1945 exakt diese Konzeption einer neoliberalen Regierungsweise ((Foucault, Michel (2006). Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Vergleiche insbesondere die Vorlesungen 4 und 5.)), in deren Mittelpunkt die Schaffung eines freien Wettbewerbs als Fundament und Fluchtpunkt sämtlicher sozialer und gesellschaftspolitischer Eingriffe steht. Die zentrale Platzierung des Wettbewerbs dient danach keineswegs der Befreiung von unzweckmäßigen Regulativen, sondern ist Produkt einer ganzen Reihe von politisch-strategischen Interventionen, um die Marktförmigkeit des Sozialen sicherzustellen.
Im zitierten Kommissionspapier, das die Grundlage der gegenwärtigen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik der Union bildet, finden sich in der Tat ausschließlich Begründungsmuster, die auf die Unausweichlichkeit des Wettbewerbs abheben. Eine genuin politische Argumentation findet sich nicht. Genau an diesem Punkt müsste nach möglichen Alternativen zum Europa des ausschließlich ökonomischen Wettbewerbs und nach Fundamenten gefragt werden, die einem sozialen Europa zuträglicher sind.
Dass statt dieser Diskussion populistisch ausschlachtbare Themen wie der ‚Beitritt der Türkei zur EU’ vorgeschoben werden, liegt zum Teil an den bisherigen Entscheidungsstrukturen, in denen die Kommission beinahe ohne demokratische Legitimation und Verantwortlichkeit arbeiten konnte. Damit fehlte eine Verknüpfung zwischen Europäischen Entscheidungsprozessen und europapolitischen Debatten in den Mitgliedstaaten der Union. Der Reformvertrag von Lissabon würde in dieser Richtung einige Verbesserungen bringen, z.B. durch Schaffung realer Kompetenzen für das Europäische Parlament, das nach wie vor als einzige Institution der EU für öffentliche, demokratisch legitimierte und nachvollziehbare Entscheidungsprozesse steht. Die Stärkung der Mitspracherechte der nationalen Parlamente würde zu einer direkteren Übersetzung nationaler Diskussionsbeiträge auf die Europäische Ebene beitragen. Zugleich aber bedürfte es der Formulierung von Problemstellungen im Rahmen der europapolitischen Diskurse in den Mitgliedsstaaten selbst. Und gerade hier liegt die Crux.
Neoliberaler Konsens und politisch hergestellte Ausweglosigkeit?
Dies zeigt sich im österreichischen Wahlkampf am Thema der Europäischen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik: Nahezu alle Wahlprogramme begründen offen, warum zentrale Fragen des Europäischen Sozialprojekts außen vor bleiben sollen:
„Die österreichische Sozialdemokratie bekennt sich zu einer dynamischen und sozial fairen Wirtschaft. Ein starker und sicherer Wirtschaftsstandort Österreich, an dem Unternehmen gute Rahmenbedingungen vorfinden und sich Investitionen lohnen, bildet eine wichtige Grundlage für Wohlstand und soziale Sicherheit. Nur leistungsstarke und gesunde Unternehmen sichern langfristig Wachstum und Beschäftigung.“ (SPÖ ((SPÖ (2008). Wahlmanifest der Sozialdemokratischen Partei Österreichs. Nationalratswahl 2008. http://spoe.at/bilder/ d265/wahlmanifest08.pdf (10.9.2008).)) )
„Wettbewerb ist ein entscheidendes Instrument, um die Inflation in den Griff zu bekommen. Gleichzeitig fördert er Wachstum und damit Beschäftigung.“ (ÖVP ((ÖVP (2008). Neustart für Österreich. http://www.oevp.at/Common/Downloads/ Wahlprogramm_innen_Ansicht.pdf (10.9.2008).)) )
„Faire Marktwirtschaft sichert durch freien Wettbewerb in sozialer Verantwortung eine dynamische Wirtschaftsentwicklung. Sie geht von der Gleichwertigkeit von Arbeit und Kapital aus. Faire Marktwirtschaft fördert die Leistungsbereitschaft und weckt die schöpferischen Kräfte. […] Eine umfassende Deregulierung des Wirtschaftslebens steigert die Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Wirtschaft, sichert ihr Gedeihen und schafft Arbeit.“ (FPÖ ((FPÖ (2008). Österreich im Wort. Auswahl und Zusammenfassung inhaltlicher Ziele der Freiheitlichen Partei Österreichs für die neue Legislaturperiode. http://www.fpoe.at/fileadmin/Contentpool/ Portal/wahl08/FP_-Wahlprogramm_NRW08.pdf (10.9.2008).)) )
Quer durch die Lager der österreichischen Politik finden sich also die Argumentationsmuster aus dem Lissabon-Programm der EU-Kommission. Nur die Grünen verzichten darauf, den Zusammenhang zwischen ökonomischen und sozialen Prozessen zu thematisieren und gehen gleich zu Sachfragen einer ökologischen Wirtschaftspolitik über. Von daher existiert in Österreich ein weitgehender politischer Konsens über ein neoliberal geprägtes Politikverständnis, der tiefer greifende Debatten über die Fundamente des Europäischen Projekts nicht zulässt.
Eine Kritik der Europäischen Verhältnisse aus linker Perspektive müsste bestimmte Bereiche der Diskussion gegenüber der institutionalisierten Politik erst wieder zurückgewinnen und zum Beispiel das Thema des ‚sozialen Europas’ genuin und nicht nur als Nebenaspekt von Wettbewerb verhandelbar machen. Die aktuellen politischen Programme müssen auf das ihnen zugrunde liegende Politikverständnis hin untersucht werden. Insbesondere der ‚Wettbewerb’ – als neoliberale ‚Sperrprämisse’ – steht dabei obenan.