Die unsichtbare Hand greift nach der Schule

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Schulreformen zwischen mehr Markt und mehr Chancengleichheit. Von Thomas Quehl. Erschienen in DISS-Journal 16 (2007)

Der schiefe Turm soll gerichtet werden. Seit der Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse sind Schule und Bildung in Deutschland wieder verstärkt zu einem umkämpften Terrain geworden. Jeder redet darüber, doch klingt es häufig eher wie auf einem großen Schulhof, auf dem laut durcheinander gerufen wird, und die Linien und Ziele der Debatten bleiben nicht selten unklar. Da geht es um Schulentwicklung und die Gestaltung des Unterrichts, um den Wirtschaftsstandort Deutschland, um die Strukturfrage des Schulsystems, um zentrale Leistungstests – und es geht um die Überwindung des in der Bundesrepublik besonders engen Zusammenhangs von sozialer und/oder ethnischer Herkunft und Schulerfolg. Zweifellos sind all diese Aspekte miteinander verwoben und der Bildungsföderalismus macht das umkämpfte Feld noch einmal unübersichtlicher. Doch gleichzeitig erscheinen die Schwierigkeiten aller Beteiligten damit, dass sie die unterschiedlichen Ebenen im schulischen Alltag zwar immer wieder erfahren, ihr Ineinandergreifen und die Frage von mehr Bildungsgerechtigkeit in den bildungspolitischen Debatten aber nicht angemessen artikulieren können, jenen (Bildungs-)Politikerinnen zuzuarbeiten, die einfache Formeln präsentieren möchten. Die schiefe Schule soll von der ‘unsichtbaren Hand’ des Marktes gerichtet werden. ((Adam Smith selbst, auf den die Metapher der ‘unsichtbaren Hand’ des Marktes zurückgeht, wollte das Schulwesen allerdings nicht den Marktmechanismen überlassen sehen (vgl. 1974: 18; Streminger 1989: 99).))

Dabei sind die nun auch hierzulande vorangetriebenen Entwicklungen ein Trend, der in zahlreichen Industriestaaten zu verzeichnen ist. Auf den Bildungsbereich und andere öffentliche Dienstleistungen angewandt, entspricht er den Politikvorstellungen global wirkender Institutionen wie OECD, WTO und Weltbank. Obwohl unterschiedlich akzentuiert und dem jeweiligen Kontext angepasst, umfasst die Umstellung auf eine sich an marktwirtschaftlichen Prinzipien orientierende Bildungspolitik in der Regel ein Paket von Elementen: Wettbewerb, Wahlfreiheit, Dezentralisierung, Management-Orientierung und Performativität ((Performativität bezeichnet eine Strategie, die mit Beurteilungen und Vergleichen ebenso wie mit Belohnungen und Sanktionen operiert, um Veränderungen zu bewirken. Im Bildungsbereich bedeutet sie u.a. die Zentralisierung der Entscheidungen zu Curriculum, Pädagogik und Ergebniskontrolle, das ‘objektive’ Messen von Qualitätsstandards und die Verwendung von Leistungstabellen zur Steigerung der Schulleistungen (vgl. Broadfoot 2001: 138; Ball 2006a: 144).)) (vgl. Ball 2003a: 30f.). Die Stärke dieser mit solchen Prinzipien operierenden Bildungspolitik ist, dass sie an Commonsense-Vorstellungen anknüpfen kann: Wer – so wurde im britischen Kontext gefragt – könnte schon etwas gegen die ‘Verbesserung von Schule’ oder die Berücksichtigung des Elternwillens haben (vgl. Ball 2003a: 31; Wrigley 2006: 131), und wer ist nicht für die Überwindung einer ‘verkrusteten Schulbürokratie’? Solche Ziele erscheinen per se gut und verschieben zudem Verantwortlichkeiten. Zum einen wird die Verantwortung für eine erfolgreiche Schullaufbahn auf die Eltern übertragen – sowohl auf jene der Mittelschicht, die sich durch diese ‘Kundenorientierung’ angesprochen fühlen, als auch auf die anderen, die nicht über die Ressourcen verfügen, um solche Möglichkeiten zu nutzen. Zum anderen fällt die Verantwortung für eine qualitativ gute und dem Prinzip der Chancengleichheit verpflichtete Bildung der einzelnen Schule zu.

Der nun auch in NRW erfolgten Abschaffung der Schulbezirke ((Bei der Schulanmeldung können die Eltern im Oktober 2007 ihr Kind erstmals an der Schule ihrer Wahl anmelden. Aufgehoben werden auch die Schulbezirke für Berufsschulen.)) kommt dabei eine Schlüsselrolle zu, da sie die Aspekte Wahlfreiheit (der Eltern) und Wettbewerb (zwischen den Schulen) verbindet und so einen „Quasi-Markt im Bildungswesen“ (Whitty 1997) schafft. Durch die Dezentralisierung – die sog. Selbstständige Schule – soll eine Wettbewerbssituation geschaffen werden, und der Umfang der Übertragung von Verwaltungsaufgaben und Entscheidungskompetenzen an die Einzelschule kann dabei sehr unterschiedlich sein. In Deutschland erprobt man gegenwärtig verschiedene Modelle von sog. Budgetierung der Schule ((Die ‘Selbstständigkeit der Schulen’ bringt z.B. in NRW und Niedersachsen mit sich, dass Schulleiterinnen zu Dienstvorgesetzten werden und Mitbestimmungsrechte abgebaut werden.)). Hier ist die ‘Selbstständige Schule’ noch ein „Stochern im Ungewissen“ (Fritsche 2006), von dem sich die Lehrerinnen in erster Linie pädagogische Innovationsspielräume und die Bildungspolitik neben Signalen für den Wettbewerb Einsparungen erwartet. In Großbritannien hingegen bedeutet ihre radikale Variante, dass eine Schule ihre Finanzmittel selbst verwaltet, von den Lehrergehältern bis zur Stromrechnung.

Damit einher geht eine Output-Orientierung der schulischen Arbeit. Über sog. Lernstandserhebungen/ Vergleichsarbeiten, wie sie in den letzten Jahren in zahlreichen Bundesländern eingeführt wurden, und über Schulinspektionen, wie man sie mittlerweile z.B. in NRW, Niedersachsen und Hamburg praktiziert, werden die von Schülerinnen wie Schulen erbrachten Leistungen gemessen und statistisch erfasst. Auch wenn solche Daten nicht unbedingt, wie in England üblich, in den Zeitungen veröffentlicht werden, so stellen sie doch neue bildungspolitische Mechanismen von Kontrolle und Steuerung dar. ((Auch wenn man in NRW aus finanziellen Gründen die Inspektionen nicht im geplanten Umfang durchführen kann und auch ein öffentliches ‘Ranking’ der Schulen nach den Ergebnissen der Lernstandserhebungen nicht propagiert wird, so drängt die Logik der Entwicklung in eine solche Richtung.))

Sie sind die andere Seite der bildungspolitischen Medaille, bei der man gern unter den Stichwörtern ‘Selbstständige Schule’ und ‘freie Elternwahl’ handlungserweiternde Aspekte in den Vordergrund stellt. Doch die Maßnahmen, welche die OECD als „Dezentralisierung der Behördenaufsicht“ und die „Schaffung von Flexibilität“ bezeichnet und die „Managern und Organisationen größere Freiheit bei betrieblichen Entscheidungen [geben] und unnötige Zwänge beim Management finanzieller und personeller Ressourcen abbauen“ (1995: 29, zit. in Ball 2006b: 145) sollen, sind im Bildungsbereich weniger als ein Kontrollabbau des Staates, denn als die Etablierung neuer Formen von Kontrolle zu verstehen. So weist Stephen Ball, einer der führenden britischen Bildungssoziologen, darauf hin, dass es „ein Verkennung wäre, diese Reformprozesse einfach als eine Strategie der De-Regulierung zu sehen, sie sind Prozesse der Re- Regulierung“ (2006b: 145, Hervorheb. im Orig.).

Ein Blick auf Großbritannien erscheint deshalb nützlich, weil die dort in der Thatcher-Ära eingeführten und unter New Labour fortgeführten marktwirtschaftlich orientierten und ‘re-regulierenden’ Bildungsreformen bereits zum Gegenstand der Analyse werden konnten. Untersuchungen zeigten, dass freie Elternwahl, Schulautonomie und Schul-Ranking bestehende Ungleichheiten und eine Segregation der Schulen entlang der sozialen Schicht und ethnischen Herkunft verschärfen (z.B. Bartlett 1993; Gewirtz et al. 1995; Ball 2003b; siehe für eine Zusammenfassung internationaler Studien Whitty 1997; Weiß 2001). Zwei der dabei festgestellten Mechanismen wurden anschaulich als „Sahne-Abschöpfen“ und „Triage“ bezeichnet: Schulen mit vielen Anmeldungen beginnen, sich potenziell leistungsstarke Schülerinnen auszuwählen und greifen dabei auf die Kriterien der sozialen und ethnischen Herkunft zurück, um durch ihre Testergebnisse wiederum selbst attraktiv zu sein (vgl. Whitty 1997: 12ff.). Der aus der Katastrophenmedizin entliehene Begriff der Triage bezeichnet einen Prozess, bei dem die Sekundarschulen flexible Ressourcen den Schülerinnen zukommen lassen, die entscheidende Marken der Schulleistungstabellen positiv beeinflussen, statt denjenigen, die sie am meisten bräuchten. Letztere werden gewissermaßen als ‘hoffnungslose Fälle’ eingestuft, die das dem Markt und dem Schulministerium zu präsentierende Bild der Schule ohnehin nicht positiv beeinflussen können (vgl. Gillborn/ Youdell 2000: 133ff.).

Es ist nicht zuletzt die hier sichtbar werdende enge Verzahnung der einzelnen Elemente des neoliberalen Bildungspakets, die Stephen Ball in seiner Analyse, unter Bezug auf Foucault, von „Wahrheitsregimen“ sprechen lässt (vgl. 2006a: 49). Sie bringen eine bestimmte, vom bildungspolitischen Diskurs vorgegebene Verwendung von Begriffen wie Standards, Disziplin, Unterrichtsqualität und Ressourcennutzung mit sich: „Wir können uns dann die Möglichkeiten einer Antwort nur in der Sprache und innerhalb der Konzepte und Begrifflichkeiten vorstellen, die uns der Diskurs zur Verfügung stellt“ (ebd.). Nach genau diesem Sagbarkeitsfeld greift die unsichtbare Hand gegenwärtig, wenn mehr oder weniger sichtbar auch in Deutschland die neoliberalen Elemente zusammengeschnürt werden. Mehr Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit werden wir beim Auspacken nicht finden.

Literatur

Ball, St. (2003a): Class Strategies and the Education Market. London: RoutledgeFalmer.

Ball, St. (2003b): Urbane Auswahl und urbane Ängste: Zur Politik elterlicher Schulwahlmöglichkeiten. In: Widersprüche, 89, S. 59-74.

Ball, St. (2006a): What is Policy? Texts, trajectories and toolboxes. In: ders. (Hg.): Education Policy and Social Class. London: Routledge, S. 43-53.

Ball, St. (2006b): The teacher’s soul and the terrors of performativity. In: ders. (Hg.), S. 143-156.

Bartlett, W. (1993): Quasi-markets and educational reforms. In: J.Le Grand/ W.Bartlett (Hg.): Quasi-Markets and Social Policy. London: Macmillan, S. 125-153.

Broadfoot, P. (2001): Empowerment or performativity? Assessment policy in the late twentieth century. In: R. Phillips/J. Furlong (Hg.): Education, Reform and the State. Twenty-five Years of Politics, Policy and Practice. London: RoutledgeFalmer, S. 136-155.

Fritsche, T. (2006): Stochern im Ungewissen. In: Erziehung und Wissenschaft, 10/2006, S. 7-9.

Gewirtz, S./Ball, St./Bowe, R. (1995): Markets, choice and equity. Buckingham: Open University Press.

Gillborn, D./Youdell, D. (2000): Rationing Education. Policy, practice, reform and equity. Buckingham: Open University Press.

OECD (1995): Governance in Transition: Public Management Reforms in OECD Countries. Paris: OECD.

Smith, A. (1974): Wohlstand der Nationen. München: dtv.

Streminger, G. (1989): Adam Smith. Reinbek: Rowohlt.

Weiß, M. (2001): Quasi-markets in Education: An Economic Analysis. In: J. Oelkers (Hg.): Futures of Education. Bern: Lang, S. 217-237.

Whitty, G. (1997): Creating Quasi-Markets in Education: A Review of Recent Research on Parental Choice and School Autonomy in Three Countries. In: M.Apple (Hg.): Review of Research in Education, Vol. 22. Washington, DC: American Educational Research Association, S. 3-47.

Wrigley, T. (2006): School Improvement: Wie geht es weiter? In: P.Mecheril / T.Quehl (Hg.): Die Macht der Sprachen. Münster: Waxmann, S. 131-150.