Paradoxe Entschärfungen im Interesse der Nation

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Der Einwanderungsdiskurs nach dem 11.09.2001 ((Zusammenfassung eines Vortrags auf dem 9. Bundeskongress für politische Bildung am 07.03.2003 in Braunschweig. Eine ausführliche Darstellung der Ergebnisse eines diskursanalytisch verfahrenden Projekts ist in erschienen in: Schobert, Alfred / Jäger, Siegfried (Hg.): Mythos Nation: Fiktion mit Folgen, Münster: Unrast, 167-189)). Von Siegfried Jäger. Erschienen in DISS-Journal 12 (2004)

Es ist vielfach vermutet worden, dass sich der Einwanderungsdiskurs nach den Terroranschlägen vom 11.09.2001 erheblich verschärfen würde. Befürchtet wurde, dass sich dieses schreckliche Ereignis auf das allgemeine Bild der Einwanderer, insbesondere islamischer Herkunft, äußerst negativ auswirken würde.

So heißt es etwa im jüngsten Jahresbericht der „Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ (EUMC) (laut FR vom 11.12.2002), die „Fremdenfeindlichkeit“ nehme in Europa zu, die Medien berichteten oftmals wenig differenziert über Ausländer und tolerierten rechtsextremistische Äußerungen. Fremdenfeindlichkeit habe nach dem 11.09.2001 in der EU „wegen der verstärkten Angst vor dem Islam neue Dimensionen“ angenommen. Journalistinnen seien oft dazu übergegangen, „Spannungen zwischen inländischen und ausländischen Schichten der Bevölkerung“ zu schüren und damit „Unsicherheit und Polarisierung“ zu verstärken. Sensible Themen wie Asyl und Einwanderung würden von den Medien „hitzig“ und „sensationslüstern“ aufbereitet. Viele Journalistinnen präsentierten Bilder, die Ressentiments verstärken: Frauen mit Kopftüchern oder Kinder auf dem Weg zur Koranschule. Begriffe wie ‘Einwanderungswelle’ fielen, Bilder von „bedrohlichen Menschenmengen“ träten zu Hauf auf.

Diese Feststellungen der Wiener Beobachtungsstelle gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit gelten bei verschiedenen Konjunkturen für die Zeit zwischen 1980 und 1998 durchaus, wie auch unsere Analysen zu Politik, Medien und Alltag gezeigt haben. Doch für die Entwicklung des Themas Einwanderung nach dem 11.09.2001 lohnt eine differenziertere Betrachtung! ((Diese beruht auf der Beobachtung von mehreren großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, die im Zeitraum nach dem 11.09.2001 bis in die Gegenwart erschienen sind, insgesamt etwa 1000 Artikel zu den Themen Terror einerseits und Einwanderung andererseits.))
Nach dem 11.09.2001 gibt es zu den Diskurssträngen „Terror“ und „Einwanderung“ die folgenden Themenschwerpunkte:

  1. Die Berichterstattung zum Anschlag selbst und zur Gefährlichkeit und zu den Netzwerken des Terrorismus in der ganzen Welt, insbesondere aber auch mit Bezug auf Deutschland,
  2. das neue Einwanderungsgesetz,
  3. die vor dem 11.09.2001 abgehandelten Themen (Kosten, Abschiebung, Kriminalität etc.) tauchen allesamt in der einen oder anderen Variante immer wieder auf, was auch nicht wundert, denn einmal etablierte Diskurse brechen nicht einfach ab, sondern sie verfügen in der Regel über eine ziemliche Stabilität.

Das Thema Terror beherrschte seit dem Anschlag in New York und Washington die Medien in der einen oder anderen Form durchgängig und zieht sich bis in die unmittelbare Gegenwart durch. So  widmen sich jeweils etwa 10 Ausgaben von SPIEGEL und FOCUS mit Titel und Titelthema dem Thema „Terror/Terroristen und ihre Bekämpfung“ (ohne die Titel zu Afghanistan und Irak). Einhellig wird der Terror gebrandmarkt, und ein dahinter stehender religiöser Fanatismus konturiert das Feindbild Islam.

Doch es werden auch eher moderate Töne laut, selbst in der BILD-Zeitung. Hier heißt es wenige Tage nach den Terroranschlägen, am 16.09.2001, nachdem über Anpöbeleien gegen arabische Menschen in Deutschland berichtet wurde:

„Das Letzte, was wir jetzt brauchen, ist ein Kampf der Kulturen. … Das Allerletzte sind Mit-Christen, die nun zum Feldzug gegen den Islam blasen und den weltweiten Schock nutzen, um auf den Flammen des Infernos von New York ihr heuchlerisches Süppchen zu kochen. In Deutschland gibt es rund 2,7 Millionen Moslems. Sie pauschal mit Terror und Fanatismus gleichzusetzen, widerspricht nicht nur den Tatsachen, sondern auch der zentralen Grundlage des christlichen Glaubens. ‘Du sollst nicht falsch Zeugnis reden’ ist ein wichtiges der zehn Gebote!“

Das mediale Feindbild gegenüber Moslems und anderen Einwanderinnen in Deutschland hat sich entgegen den Erwartungen vieler nach dem 11.09.2001 somit keineswegs verschärft, im Gegenteil. Das liegt zum einen durchaus auch daran, dass in den Jahren davor, also etwa seit dem Regierungswechsel von 1998 bereits ein moderaterer Diskurs entstanden war. Es gab den von den Medien der Mitte lebhaft unterstützten Aufruf zum Aufstand der Anständigen; es gab eine Fülle von öffentlich unterstützten Initiativen und Projekten gegen Rassismus und Rechtsextremismus. Damit etablierte sich im Alltag und auch in den Medien ein moderaterer Einwanderungs-Diskurs, der offensichtlich eine gewisse Stabilität erlangte und der nicht mit dem 11.09.2001 plötzlich verschwand. Die vordem zu beobachtenden sensationslüsternen Kollektivsymbole (‘Fluten’ von Einwanderern, volle ‘Boote’ etc.), hitzige Feindbilder u.ä. tauchten deutlich seltener auf.

Auch haben die meisten Medien nach dem 11.09.2001 tendenziell vor Alarmismus und Hysterie gewarnt. Zwar verstärkte sich ein Feindbild Islam mit Schwerpunkt auf einem islamistischen Fundamentalismus. Eine den Einwanderungsdiskurs generell verschärfende Verschränkung des Einwanderungsdiskurses mit dem Diskurs Islam und daraus resultierende zusätzliche rassistische Effekte waren jedoch nicht zu beobachten.

Die Zurückdrängung des medialen und damit auch des alltäglichen Rassismus ((Dies zeigen auch Alltagsinterviews, die wir 2001 und 2003 durchgeführt haben.)) hatte jedoch ihren Preis: ein sog. Zuwanderungsgesetz, das Einwanderung so sehr begrenzt, wie es sich rechtskonservative und rechtsextreme Kreise nur wünschen konnten und welches ausländerfeindliche Ressentiments nahezu restlos befriedigte. ((Vgl. dazu den Mitgliederrundbrief von Pro Asyl vom 14.02.2002.))

Obwohl mit einem Gesetz, das Einwanderung regelt, anerkannt wird, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und obwohl dieses Gesetz durchaus einige wenige Zuzugserleichterungen gegenüber den vorangegangenen Bestimmungen enthält, etwa dass Opfer nichtstaatlicher und geschlechtsspezifischer Verfolgung künftig als Flüchtlinge anerkannt und Härtefallkommissionen eingerichtet werden sollen, gibt es aber daneben im Gesetzesentwurf zahlreiche Verschlechterungen gegenüber den bisherigen Regelungen und Praxen, die ja nun auch nicht sonderlich fortschrittlich waren. ((Vgl. dazu Keßler 2002. Vgl. auch Pro Asyl 2003.))

Doch die CDU/CSU forderte nach dem Karlsruher Bescheid, durch den der Gesetzesentwurf vorläufig zurückgestellt wurde, insgesamt 137 Änderungen, bei denen es sich jedoch größtenteils um absolute Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten handelte, die aber den Entwurf nicht im Kern berühren. ((Die große Zahl der Änderungsforderungen täuscht über den tatsächlichen Dissens hinweg. Alle diese Forderungen enthalten zwar Verschärfungen, ohne aber den Gesetzesentwurf im Kern zu tangieren.)) Die Absicht ist eindeutig: die Unionsparteien wollen sich das bewährte (Wahlkampf)- Dauerthema nicht nehmen lassen.

Ein erstes Fazit lautet daher: Der rot-grünen Regierung ist es zwar gelungen, das wahlkampfsensible Thema ein Stück weit zu neutralisieren. So schreibt denn auch Pro Asyl: „Der Bundestagswahlkampf (2002 S.J.) blieb weitgehend frei von fremdenfeindlichen Parolen…“ ((In dem Mitgliederrundbrief vom 14.02.2003.)) Dies geschah jedoch zu Lasten demokratischer Einwanderungspolitik.

Ein weiteres Fazit kann gezogen werden: Rassismus ist zwar im öffentlichen Diskurs und im Alltag zurückgedrängt worden; dafür hat er sich aber in der Mitte der Gesellschaft weiter festsetzen können. Wir können davon ausgehen, dass ein institutioneller Rassismus gestärkt worden ist und durch das neue „Einwanderungsbegrenzungs gesetz“, wie es offiziell bezeichnet wurde, vertieft wird. ((Zum Institutionellen Rassismus vgl. M. Jäger/Kauffmann (Hg.) 2002.)) Doch gerade dieser Bereich wird in den staatlich unterstützten Aktionen und Initiativen gegen Rassismus weitestgehend ausgespart oder gar geleugnet.

In einem Gutachten zu den Aktivitäten der Bundesregierung heißt es:

„Aus der Opferperspektive wissen wir um diskriminierende institutionelle Praktiken in Ausländerbehörden, Asyleinrichtungen, aber auch in Kommunalverwaltungen, Schulen und Kindergärten. Für diese institutionelle Fremdenfeindlichkeit gibt es in den vorliegenden Programmen keine Aufmerksamkeit.“ ((Roth/Benack 2002. Vgl. auch Lynen van Berg/Roth (Hg.) 2003.))

Sie sind in aller Regel durch Verordnungen und Gesetze gedeckt. Auf diese Weise ist Rassismus in der deutschen Gesellschaft an der Oberfläche abgeschwächt und zumindest teilweise wegnormalisiert und institutionell weiter gestärkt worden. ((Unter Verweis auf das geplante Gesetz dürfte sich zudem die Praxis der Behörden, die mit Einwanderern zu tun haben, weiter verschärfen.)) Das ist auch der Grund, weshalb rechtsextreme Parteien in Deutschland keine Chancen haben. In Sachen Einwanderung ist die Politik der ‘Mitte’ inzwischen so konservativ bis rechtslastig, daß Rechtskonservative und Rechtsextremisten damit nicht konkurrieren können. ((Lösche konstatiert als Teil der Begründung für den Niedergang der europäischen Sozialdemokratie: „Themen sind … angesagt, die sonst von Rechtspopulisten instrumentalisiert werden.“ (Lösche 2003, S. 212) Zu bedenken ist, dass alle rechten Parteien in Europa mit dem Thema Einwanderung punkten.)) Umso wichtiger sind daher auch weiterhin nicht-staatliche Initiativen und Protestformen. ((Ich verweise dazu auch auf den Beitrag von Heiko Kauffmann in dieser Ausgabe.))

Literatur

Jäger, Margarete / Kauffmann, Heiko (Hg.) 2002: Leben unter Vorbehalt. Institutioneller Rassismus in Deutschland, Duisburg

Keßler, Stefan 2002: Jubeln oder verzweifeln? Flüchtlingsbewegung und Zuwanderungsgesetz, in: M. Jäger/Kauffmann (Hg.) Duisburg, S. 279-288

Lösche, Peter 2003: Europas Sozialdemokraten im Niedergang? Zum Zustand der SPD und ihrer europäischen Schwesterparteien, Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2003, S. 207- 216

Lynen van Berg, Heinz / Roth, Roland (Hg.) 2003: Maßnahmen und Programme gegen Rechtsextremismus, wissenschaftlich begleitet. Aufgaben, Konzepte und Erfahrungen, Opladen

Pro Asyl 2003: Zuwanderungsgesetz: schlechter als sein Ruf, Frankfurt (Februar)

Roth, Roland (unter Mitarbeit von Anke Benack) 2002: Bürgernetzwerke gegen Rechts. Evaluierung von Aktionsprogrammen und Maßnahmen gegen Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit (Kurzfassung)