Interview mit Prof. Dr. Gerhard Bäcker zum Aufruf „Sozialstaat reformieren statt abbauen“. Erschienen in DISS-Journal 12 (2004)
DISS-Journal: Der Aufruf „Sozialstaat reformieren statt abbauen“ ist von einer Reihe namhafter Wissenschaftlerinnen aus dem sozialwissenschaftlichen und ökonomischen Sektor unterzeichnet worden. Kannst Du kurz die Eckpunkte skizzieren und markieren, an welchen Stellen er sich von der traditionellen gewerkschaftlichen Position unterscheidet?
Gerhard Bäcker: Der Aufruf ist initiiert und verbreitet worden in Reaktion auf die von der rot-grünen Bundesregierung im März dieses Jahres vorgelegten, mit „Agenda 2010“ umschriebenen Maßnahmen zum Ab- und Umbau des Sozialstaates. Er bezieht sich aber nicht im Detail auf die einzelnen Kürzungen und Einschnitte, sondern auf die Argumentationslinien, die die Politik, die Medien und die wissenschaftlichen Beratungsgremien seit langem beherrschen.
Diese Mainstream-Argumentation – bis weit in die Grünen und die Sozialdemokratie hinein – basiert ja auf der These, dass die tiefe wirtschaftliche, fiskalische und arbeitsmarktpolitische Krise, die nun seit Jahren die Lage Deutschlands charakterisiert, durch den Sozialstaat verursacht sei: die Sozialleistungen sind zu hoch und zu teuer, sie lähmen die Bereitschaft, eine Arbeit aufzunehmen, überfordern die öffentlichen Haushalte und verteuern die Produktion; zugleich ist der Arbeitsmarkt verkrustet und Einstellungen werden verhindert usw. usf. Verantwortlich für Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsschwäche wird also das Soziale gemacht, und aus dieser Sichtweise heraus ist es geradezu geboten, den Sozialstaat abzubauen – je radikaler umso besser, um endlich aus der Misere herauszukommen.
Diese Sichtweise der zwar schmerzhaften aber „alternativlosen“ Einschnitte ist populär und wird von vielen Menschen geteilt. Nur so ist auch zu verstehen, dass derzeit in der Politik geradezu ein Wettlauf um die größten Tabubrüche eingesetzt hat.
Der Aufruf wendet sich gegen diese Sichtweise und benennt Fakten und Argumente, die zeigen, dass nicht das Soziale die Krise bewirkt. Im Unterschied zur gängigen gewerkschaftlichen Argumentation bleibt es also nicht bei dem Hinweis, dass die Maßnahmen und Forderungen zum Sozialabbau „sozial unausgewogen“ sind. Dieser Bezug allein auf die fehlende soziale Gerechtigkeit und die „Gefährdung des sozialen Friedens“ verkennt die Dramatik der Entwicklung, die auf ein neues, am angelsächsischen Kapitalismus orientiertes Gesellschaftsmodell orientiert. Der Aufruf stellt deshalb vor allem heraus, dass die Krisendiagnose falsch ist und dass insofern auch die proklamierten Ziele durch die eingeschlagene Politik nicht erreicht werden. Der Sozialstaat wird eingerissen, die Gesellschaft ändert ihr Gesicht – aber die hohe Arbeitslosigkeit wird dadurch keineswegs verringert. Wir kritisieren dabei insbesondere die Auffassung, dass die Arbeitslosen durch noch stärkeren finanziellen und administrativen Druck in Beschäftigung gebracht werden könnten. Es fehlt aber nicht an Arbeitsbereitschaft, sondern an Arbeitsplätzen. Die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe, die Kürzung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld, verschärfte Zumutbarkeitskriterien, Festschreibung der Sozialhilfesätze – über diese Maßnahmen sollen die Arbeitslosen veranlasst, ja gezwungen werden, jede Arbeit anzunehmen. „Arbeit um jeden Preis“ – das schafft einen Niedriglohnsektor in Deutschland, der nicht zu mehr Arbeitsplätzen führt, sondern zu einer Verdrängung von regulärer Arbeit durch „bad jobs“. Es gehört nicht viel prognostische Fähigkeit dazu, um eine Verschärfung der Einkommensspaltungen und von Armut vorhersagen zu können.
Sicher können in einem solchen Aufruf, der ja auf Intervention angelegt ist, keine differenzierten Lösungsvorschläge unterbreitet werden. Deshalb interessiert mich vor allem, wie die Forderungen nach weiterer Arbeitszeitverkürzung oder Stärkung der Kaufkraft, die wir ja bereits aus den siebziger Jahren kennen, die angestrebten positiven Effekte auf den Sozialstaat und den Arbeitsmarkt zeitigen können – angesichts von Internationalisierung und Globalisierung der Wirtschaft? Hält eine keynesianische Wirtschafts- und Sozialpolitik heute noch die richtigen Antworten vor?
Der Aufruf belässt es nicht bei der kritischen Analyse, sondern versucht auch Wege und Maßnahmen zur Überwindung von Arbeitslosigkeit, Haushaltskrise und Stagnation aufzuzeigen. Wir wenden uns entschieden gegen die These der „Alternativlosigkeit“ der gegenwärtigen Politik, die nur darauf abstellt, die Opposition gegen den neoliberalen Kurs als „unsinnig“ oder als pures „Besitzstandswahren“ zu denunzieren. Alternativen aufzuzeigen, das heißt, für Reformen einzutreten, die ihren Namen verdienen und eine Perspektive nach vorn weisen. Dabei ist klar, dass manche Positionen allgemein bleiben und dass auch das Rad nicht immer neu erfunden werden muss. Wenn also einige der erhobenen Positionen und Forderungen alt sind, so ist dies noch kein Gegenargument. So ist und bleibt es in einer Zeit knapper Arbeitsplätze und von Personalabbau in nahezu allen Bereichen der Wirtschaft grundsätzlich richtig, die Arbeitszeiten zu verkürzen und Arbeit gerechter zu verteilen. Der gegenteilige, derzeit von der Politik, den Arbeitgeberverbänden und den Medien eingeforderte Weg, in Zeiten höchster Arbeitslosigkeit die Arbeitszeiten zu erhöhen, mehr und länger zu arbeiten, Feiertage zu streichen führt in die Irre – die Arbeitslosenzahlen werden steigen, die Verdrängung auf dem Arbeitsmarkt wird zu Lasten der Schwächsten weiter zunehmen. Auch die Forderung nach einer Stärkung der Kaufkraft ist alt, aber dennoch richtig. Richtig weil die wirtschaftliche Stagnation im Wesentlichen durch die rückläufige private Nachfrage verursacht wird. Die aktuellen Kürzungen von Löhnen und Sozialleistungen verschärfen dieses Nachfrageproblem, und durch den Export wird es alleine keinen ausreichenden Konjunkturanstoß geben. Unbestritten ist allerdings auch, dass wir in einem engen europäischen und weltwirtschaftlichen Verbund leben und nationalstaatlich isolierte Maßnahmen schnell verpuffen können. Deswegen ist insbesondere eine enge europäische Zusammenarbeit erforderlich. So etwas kommt aber nicht automatisch – hier muss die Bundesrepublik als größtes EU-Land endlich eine Vorreiter-Rolle spielen. Unbestritten ist schließlich auch, dass ein schlichtes, keynesianisch ori entiertes nachfrageorientiertes Gegensteuern allein noch keine „Lösung“ aller Probleme bringt. Die Politik muss den Weg ebnen für Produktinnovationen und Investitionen, für qualifizierte Dienstleistungsbeschäftigung, für umweltgerechtes, qualitatives Wachstum.
Wie waren die Reaktionen auf den Aufruf? Ist der Ruf aus dem wissenschaftlichen Raum bei Teilen der Parteien und Gewerkschaften angekommen?
Die Reaktionen waren erfreulich und enttäuschend zugleich. Erfreulich war, dass – im E-Mail-Schneeballverfahren – in knapp drei Wochen über 500 Wissenschaftlerinnen unterschrieben haben. Natürlich hätten es noch mehr sein können, und es fällt auch auf, dass die Namen von manchen exponierten Wissenschaftspersonen, die noch in den 80er und 90er Jahren für ein gesellschaftliches Reformprojekt geworben haben, fehlen. Enttäuschend war aber vor allem die Reaktion in den Medien: Trotz aller unserer Anstrengungen – die großen Zeitungen und Rundfunk bzw. Fernsehen haben die Initiative totgeschwiegen und die Politik – soweit überhaupt Reaktionen vorkamen – hat sich auf den Hinweis der „Alternativlosigkeit“ des eingeschlagenen Weges beschränkt. So ist das wohl in Zeiten, in denen der neoliberale Mainstream vorherrscht und kritischer Journalismus kaum noch zu finden ist. Und es ist auch wohl auch so, dass manche Wissenschaftlerinnen es vorziehen, sich in einer Zeit gesellschaftlich-sozialer Zuspitzungen vornehm zurück zu halten.
Aus meiner Sicht haben die Gewerkschaften einige Mühe, die betriebliche Basis gegen die Agenda 2010 und andere sogenannte Reformprojekte zu mobilisieren. Wie lässt sich dies erklären und vor allem, was könnten die Gewerkschaften tun?
Die Gewerkschaften haben auf den Aufruf sehr positiv reagiert. Allein die an meine Person gerichteten Anfragen hinsichtlich Vorträge und Beteiligungen an Podiumsdiskussionen sind nicht mehr zu zählen. Meine Erfahrungen der letzten Monate haben mir dabei aber auch gezeigt, dass es in der Tat schwierig ist, Opposition zu organisieren. Die Menschen sind mit dem Kurs keineswegs einverstanden, merken, dass mit „Reform“ gemeint ist, dass sie zahlen müssen und fühlen sich betrogen – vor allem von der SPD. Aber daraus resultiert noch keine Gegenbewegung: Die Angst um den Arbeitsplatz ist übergroß, die einzelnen Maßnahmen sind verwirrend und unüberschaubar, das Gefühl „den Gürtel enger schnallen zu müssen“, ist weit verbreitet und – vor allem – es fehlen Alternativen und Perspektiven. Das schafft eine Stimmung der Resignation und Ratlosigkeit, die leicht in Anfälligkeit für populistische und rechtsradikale Strömungen und Aktionen umschlagen kann. Die Gewerkschaften haben deshalb nach meinem Dafürhalten vor allem die Aufgabe, Alternativen zu entwickeln und zu verbreiten und auch Aktionen voranzubringen. Das ist allerdings nicht einfach, da es eine politisch- parlamentarische Opposition nicht mehr gibt und diese Rolle auch nicht von den Gewerkschaften übernommen werden kann. Schwierig ist auch das Verhältnis zur SPD – hier sieht alles nach einer grundsätzlichen Revision des Verhältnisses zur SPD aus.
Die Fragen stellte Dr. Margarete Jäger. Der Aufruf ist unter der Adresse www.sozialpolitik-aktuell.de/docs/ sozialaufruf.pdf im Internet einzusehen.