Anton Maegerle: Alois Brunner – Fahndung eingestellt

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Alois Brunner.
Fahndung nach NS-Massenmörder eingestellt

Anton Maegerle, August 2022

 

Die Recherchen fußen auch auf Akteneinsicht im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin und in den Archiven des Bundesnachrichtendienstes (BND) in Berlin und im bayerischen Pullach.

 

Alois Brunner war einer der berüchtigsten NS-Verbrecher. Der SS-Hauptsturmführer gilt als Hauptverantwortlicher für die Deportation der europäischen Juden in die Vernichtungslager. Doch vor Gericht kam Brunner, einer der lange Zeit weltweit meistgesuchten Verbrecher, nie. Nun wurde die Fahndung nach ihm von den deutschen Behörden eingestellt. Skandalös ist, dass der deutsche Auslandsgeheimdienst schon vor Jahrzehnten dessen Aufenthaltsort wusste und dies hartnäckig gegenüber staatlichen Stellen leugnete.

Die Kölner Staatsanwaltschaft hat die Fahndung nach dem NS-Verbrecher Alois Brunner offiziell beendet. Brunner, geboren 1912 im österreichischen Burgenland, wäre am 8. April 110 Jahre alt geworden, sagte Oberstaatsanwalt Ulf Willuhn im Juli gegenüber der Deutschen Presse-Agentur dpa. Dies sei eine Grenze, bei der Ermittlungen normalerweise eingestellt würden, weil man davon ausgehen könne, dass der Betroffene tot sei. Brunner sei vermutlich schon vor langer Zeit in Syrien gestorben. In den 1970er Jahren hatte die Kölner Staatsanwaltschaft sich aus einem bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt/Main anhängigen Ermittlungsverfahren einen Brunner-Komplex herausgepickt – dessen Taten in Frankreich 1943/44. Nach einer internen Geschäftsverteilung innerhalb des deutschen Justiz sind die Kölner für NS-Verbrechen im französischen Nachbarland zuständig.

Brunner war SS-Hauptsturmführer und engster Mitarbeiter von Adolf Eichmann bei der Organisation des Holocaust. Der Werdegang des nationalsozialistischen Massenmörders begann 1931 mit dem Eintritt des 19-Jährigen in die damals noch illegale österreichische NSDAP. Sieben Jahre später, am 15.November 1938, nach dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich, erfolgte Brunners Aufnahme in die SS (SS-Nummer:342767). Noch im selben Jahr berief ihn Eichmann in die „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ nach Wien. 1940 übernahm er die Leitung der Wiener Zentralstelle und war fortan der engste Mitarbeiter Eichmanns, seine Aufgabe war „die Erledigung der Judenfrage“. Brunner ist für die Deportation und Ermordung von 128.500 Jüdinnen und Juden zwischen 1938 und 1945, die er in mehreren Ländern Europas (Österreich, Griechenland, Frankreich und der Slowakei) verhaften und in die Gaskammern von Auschwitz zwangsverschicken ließ, verantwortlich. Eichmann bezeichnete Brunner als seinen „besten Mann“.

Im Gegensatz zu Eichmann, den der israelische Mossad 1960 in dessen Fluchtland Argentinien aufspürte und nach einem rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren 1962 hinrichten ließ, hat Brunner auch eigenhändig gemordet. So hat Brunner am 06. Februar 1942 einen schwerkranken jüdischen Kaufmann auf der Fahrt von Wien nach Riga gequält und mißhandelt, „ihn alsdann eigenhändig erschossen“. (1) Nach der militärischen Zerschlagung des Nationalsozialismus entzog sich Brunner einer strafrechtlichen Verfolgung, indem er eine falsche Identität annahm.

Der Mann, der Wien „judenfrei“ meldete, lebte unter dem Namen seines Cousins Alois Schmaldienst bis 1953 im Stadtteil Heisingen der nordrhein-westfälischen Großstadt Essen, Stauseebogen 140; zuvor fand er sein Auskommen in Österreich und Bayern. Als sein Alias aufzufliegen drohte, verhalfen ihm alte Kameraden zur Flucht in den Nahen Osten, wo er sich Mitte der 1950er Jahre nach einem Aufenthalt in Kairo unter dem Namen Georg Fischer in der syrischen Hauptstadt Damaskus niederließ. Der frühere SS-Hauptsturmführer Georg Fischer hatte Brunner 1954 seinen Pass überlassen. Fischer gehörte zuvor der Einsatzgruppe A in der Sowjetunion an. Die von Reichsführer SS Heinrich Himmler im Auftrag Adolf Hitlers aufgestellten Einsatzgruppen dienten der schrittweisen Umsetzung der nationalsozialistischen Rassenideologie und Völkermordpolitik und waren mit anderen Tätergruppen wesentlich am Holocaust beteiligt.

Fluchthilfe aus dem deutschen Bundestag

Zu den Fluchthelfern des SS-Schergen Brunner zählte Rudolf Vogel, seit 1949 CDU-Bundestagsabgeordneter und später Staatssekretär im Bundesschatzministerium. Der Politiker soll die Tickets nach Syrien besorgt haben. Der 1991 verstorbene Vogel, Träger des Großen Verdienstkreuzes mit Stern der Bundesrepublik Deutschland, lernte Brunner 1943 im griechischen Saloniki kennen. Der NS-Verbrecher Brunner trieb dort Juden zur Deportation zusammen, Vogel gehörte zur Propaganda-Abteilung Südost der Wehrmacht. Allein in den Monaten Februar bis Mai 1943 ließ Brunner 46.000 Juden von Griechenland nach Auschwitz deportieren. Im Juli 1943 übernahm Brunner als Kommandant die Leitung des Durchgangslagers Drancy bei Paris, wo er bis August 1944 dreizehn Transporte mit tausenden Juden nach Auschwitz organisierte. Eine Woche bevor die Westalliierten Paris befreiten, schickte Brunner am 31. Juli 1944 345 Kinder von Drancy in die NS-Vernichtungslager, darunter den 15 Tage alten Säugling Alain Blumberg. 284 der Kinder wurden ermordet. Für diese Mordaktion wurde Brunner von einem Pariser Strafgericht in Abwesenheit im März 2001 zu lebenslanger Haft verurteilt.

In Damaskus, Post für ihn war an „P.O. Box 635 Damaskus“ zu adressieren, fungierte Brunner als „Berater für Judenfragen“ des syrischen Regimes. Er hat dem syrischen Sicherheitsapparat als Berater gedient und Verhör- und Foltermethoden der Nazis weitergegeben. Daneben bespitzelte Brunner für die Syrer die deutsche Gemeinde in Damaskus. „Ansehen und Protektion“ (Simon Wiesenthal) der syrischen Regierung waren dem Geheimdienstmann gewiß. Vor Ort konnte sich Brunner unter Gleichgesinnten bewegen. Nach Damaskus hatte es u.a. auch Franz Rademacher gezogen, einst „Judenreferent“ des Auswärtigen Amts, 1952 verurteilt wegen Beihilfe zum Totschlag in 1300 Fällen. Nachdem er vorzeitig aus der Haft entlassen wurde, tauchte Rademacher in Syrien auf. Von ihm stammt die berüchtigtste Spesenabrechnung des „Dritten Reichs“. Als Grund für eine Reise gab er an: „Liquidation von Juden in Belgrad“.

Neben seiner Tätigkeit für die Syrer arbeitete Brunner als Kaufmann und Repräsentant mehrerer europäischer Firmen, z.B. als Vertreter der Dortmunder Aktienbrauerei DAB. Zugleich führte Brunner mit Hitlers Generalmajor Otto Ernst Remer die vermeintliche Handelsfirma „Orient Trading Company“ (Otraco). Offiziell als Handelsfirma eingetragen, verschoben die Altnazis tatsächlich Waffen im Nahen Osten und nach Afrika. In den Jahren zwischen 1955 und 1960 pendelte der beruflich umtriebige Brunner häufig zwischen Kairo (Ägypten), Beirut (Libanon) und Damaskus.

Die österreichischen und deutschen Behörden fahndeten erst seit den 70er Jahren ernsthaft nach Brunner. 1984 stellte die Bundesregierung auf Drängen der Kölner Staatsanwaltschaft in Damaskus einen förmlichen Auslieferungsantrag. Die syrischen Behörden zeigten sich jedoch nicht kooperationsbereit und wimmelten ab: Brunner sei nicht in Damaskus. Tatsächlich hatte Simon Wiesenthal bereits Ende der fünfziger Jahre Brunners Aufenthaltsort und Pseudonym in Damaskus ermittelt. Westliche Reporter telefonierten in den Folgejahren mehrfach mit Brunner, noch in den 1980er Jahren gab er Interviews. 1985 führte die Illustrierte „Bunte“ ein Interview mit Brunner. Neben dem Interview und Fotos des „Untergetauchten“ wurde auch Brunners Wohnsitz in Damaskus, Rue Haddad 7, veröffentlicht. Das letzte Interview mit Brunner stammt aus dem Jahre 1987 und wurde von der „Chicago Sun Times“ per Telefon geführt. Es ist das Bekenntnis eines Massenmörders: „Ich bereue nichts und würde es wieder machen. Sie alle (die Juden) hatten den Tod verdient, weil sie Agenten Satans und menschlicher Abfall sind“.

Holocaustleugner trifft antisemitischen Massenmörder

Im August 1987 pilgerte der österreichische Neonazi, Holocaustleugner und notorische Juden-Hasser Gerd Honsik zu seinem antisemitischen Vorbild nach Damaskus. Brunner ist nach Auffassung von Honsik „Zeit seines Lebens ein anständiger Mann gewesen“. Stolz war Honsik auch auf seinen Onkel Amon Goeth (Schindlers Liste), der einst KZ-Kommandant im Nazi-KZ Plasov bei Krakau war. Der Besuch von Honsik bei Brunner erfolgte im Rahmen von Honsiks Zusammenstellung des apologetischen Machwerkes „Freispruch für Hitler? 36 ungehörte Zeugen wider die Gaskammer“, das auf plumpe Weise den industriell betriebenen Massenmord an den Juden leugnet. Erschienen ist das Buch 1988 beim Burgenländischen Kulturverband in der österreichischen Hauptstadt Wien. Brunner gab beim Interview mit Honsik kund, daß er über die Vergasung von Juden erst nach „dem Krieg, aus den Zeitungen“ erfahren haben will. Über das Leben von Brunner in Damaskus weiß Honsik folgendes zu berichten: „In all den Jahrzehnten, da der überzeugte Burgenländer, von Heimweh geplagt, in Kairo und Damaskus lebte, war ihm nicht nur die Freundschaft der Syrer sowie die Herzlichkeit der dort beruflich stationierten Österreicher ein Trost -es war vor allem das Verdienst der ehemaligen österreichischen Botschafter Baron von Waldstetten und Filz die sich- wenn auch ohne offiziellen Auftrag- rührend um den SS-Offizier kümmerten. Jedesmal wenn sie nach Österreich fuhren, nahmen sie Geschenke aus der Heimat für ihren Schützling mit. Die geselligen Abende, an denen Hauptsturmführer Brunner im Hause der österreichischen Botschafter weilte, waren gesellschaftliche Ereignisse, bei denen führende Vertreter österreichischer aber auch bundesdeutscher Konzerne zusammentrafen.“ Honsik schloss sein Brunner-Kapitel mit dem Wunsch: „Ich gebe an dieser Stelle der Hoffnung Ausdruck, der einsame Alte von Damaskus möge den Tag erleben, da er unbehelligt in seine Heimat, in sein Österreich und sein Burgenland zurückkehren darf.“

Die Rollen der deutschen Botschaft in Damaskus und der Bundesnachrichtendienst (BND)

Die bundesdeutsche Botschaft und insbesondere der von Reinhard Gehlen, in der NS-Zeit in seiner Funktion als Generalmajor der Wehrmacht Leiter der Abteilung Fremde Heere Ost im Generalstab des Heeres, aufgebaute bundesdeutsche Auslandsgeheimdienst, der Bundesnachrichtendienst (BND), behauptete wahrheitswidrig über Jahrzehnte hinweg, nicht den Aufenthaltsort des NS-Verbrechers zu wissen und belog somit wissentlich den Bundestag, das Bundeskriminalamt und Staatsanwaltschaften. Brunners letzter bekannter Aufenthaltsort war die Rue Georges Haddad, Haus 7, in Damaskus – keine 400 Meter Luftlinie von der deutschen Botschaft entfernt.

In Damaskus wohnte Brunner zeitweilig ab 1957 bei Curt Witzke, einem Hauptmann a.D., in der Rue Rouda-Abdul Malek ben Marwan. Witzke war seit 1948 in Syrien und dort zeitweilig Offizier der syrischen Armee. Als Brunner alias Fischer fürchtete, dass ihn Witzke enttarnen könnte, schwärzte er diesen im November 1960 bei der deutschen Botschaft und den Syrern an. Er will Witzke aus Damaskus weg haben. Am 28. März.1961 wurde Witzke dann vom syrischen Sicherheitsdienst verhaftet. Ihm wurde vorgeworfen, ein jüdischer Spion zu sein. Witzke wird -wie andere von Brunner denunzierte deutsche Personen- schwer gefoltert. Nach intensiven Bemühungen der Botschaft wird Witzke am 09. Mai 1961 der Botschaft überstellt und sagt aus: Brunner ist Fischer. Die Botschaft informiert in einem Schreiben vom 23. Mai 1961 das Auswärtige Amt. Dort wird die brisante Information nicht an die zuständigen Behörden weitergegeben.

Zuvor hatte Witzke am 13. Mai 1961 für die Botschaft eine Niederschrift über seine Erkenntnisse zu Brunner verschriftlicht. Demnach lernte er „Fischer“ in den Jahren 1955/1956 bei einem Dr. Gelny in Damaskus kennen.

Der Euthanasiearzt Emil Gelny gilt als einer der größten Massenmörder in der NS-Zeit in Österreich. Er hat nachweislich 547 Menschen umgebracht – z.B. durch Elektroschocks.

1957 hält sich Witzke zeitweilig in der Bundesrepublik auf. Im Auftrag von „Fischer“ besucht er mehrere Personen, u.a. den CDU-Politiker Vogel. Witzke legt in seiner Niederschrift dar, dass ein Rudolf Schneeweiß, Bacherplatz 10 in Wien, Mittelsman zwischen „Fischer“ und dessen Familie in Österreich ist.

Wenige Tage vor der Niederschrift von Witzke teilte die Botschaft dem Auswärtigen Amt am 13. April 1961 mit: „Zur Person Dr. Georg Fischer ist hier wenig bekannt. … Über seine Identität mit Aloys Brunner kann aus eigener Sachkenntnis der Vertretung oder ihrer Angehörigen nichts gesagt werden.“ Fischer, so heißt es weiter, soll seit einem halben Jahr Agent des syrischen Geheimdienstes sein. Sogar das Monatsgehalt war der Botschaft bekannt.

Dass sich hinter Fischer Brunner verbirgt, war wohl in Israel bekannt. Am 13. September 1961 detonierte in Brunners Hand eine Briefbombe. Bei dem Attentat, das sich im Hauptpostgebäude in Damaskus ereignete, wurde Brunner „zufällig“ vom Vertrauensarzt der deutschen Botschaft behandelt. 1980 wurde ein zweiter Anschlag auf Brunner verübt. Vier Finger der linken Hand und ein Auge verlor Brunner bei den mutmaßlich vom Mossad verübten Briefbombenanschlägen.

Der Bundesnachrichtendienst wusste schon 1960, dass sich Brunner in Damaskus aufhält. In einem internen Schreiben vom 13. Dezember 1960 heißt es, Brunner lebe „unter dem Namen Dr. Georg Fischer in Damaskus“. Dennoch unternahm der BND nichts, um die Ermittlungen gegen Brunner zu unterstützen. Tatsachenwidrig behauptete der BND gar in einem Schreiben an das Bundeskriminalamt (BKA) noch am 30. Juni 1999: „Trotz intensiver interner Recherchen konnten keine Alois Brunner betreffende Erkenntnisse / Informationen festgestellt werden.“

Am 19. Oktober 2000 teilte das Bundeskanzleramt dem BND mit, dass ein „unverändert hohes Interesse der Bundesregierung an der Strafverfolgung von Alois Brunner“ bestehe. Am 3. November 2000 notierte der BND in einer hausinternen Notiz: „Es gibt derzeit keine Anhaltspunkte dafür, daß sich die Möglichkeiten des BND verbessert hätten, zur Klärung der Frage ‚Brunner‘ beizutragen.“

In einem Sprechzettel des BND für eine Sitzung der Parlamentarischen Kontrollgremiums des Deutschen Bundestages, das für die Kontrolle der Nachrichtendienste des Bundes zuständig und u.a. den Bundesnachrichtendienst (BND) überwacht, am 07. März.2001, heißt es: „Hinweise zum Aufenthaltsort oder über den möglicherweise eingetretenen Tod Alois Brunners liegen dem Bundesnachrichtendienst bis heute nicht vor.“

Tatsächlich soll Brunner 89jährig 2001 in Damaskus gestorben sein. Laut dem französischen Magazin „XXI“ stand er seit 1989 unter Hausarrest. Brunner habe aus Sicherheitsgründen die letzten Jahre im Keller eines Wohnblocks in Damaskus verbracht, sagten drei ehemalige Mitglieder des syrischen Geheimdienstes dem Magazin . Den Berichten von Omar und seinen beiden Kollegen zufolge blieb Brunner bis zum Ende ein fanatischer Antisemit und Nazi. Laut Omar wurde er nach seinem Tod in aller Heimlichkeit nach muslimischen Ritus auf dem Friedhof Al Affif in Damaskus bestattet.

 

 

(1) Schreiben Klaus Kinkel, Staatssekretär der Justiz, vom 02.07.1987 an den BND-Präsidenten Hans-Georg Wieck (Aktenbestand BND Berlin)