Die politische Theorie des Neoliberalismus

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Thomas Biebricher:
Die politische Theorie des Neoliberalismus
Suhrkamp-Verlag, Frankfurt a.M. 2021
345 Seiten, 22 Euro

ISBN 978-3-518-29926-5

Rezension von Helmut Kellershohn

Über den „Neoliberalismus“ ist bereits viel geschrieben worden. Thomas Biebricher hat mit seiner Habilitationsschrift, die bereits 2018 auf Englisch und nun bei Suhrkamp (2021) auf Deutsch erschienen ist, ein fulminantes Werk hinzugefügt. Der Titel ist auf den ersten Blick insofern missverständlich, als es ihm nicht nur um die ideengeschichtliche Rekonstruktion einer politischen Theorie geht, sondern auch um die Wirkmächtigkeit neoliberaler Ideen im Rahmen realpolitischer Prozesse, konkret im Rahmen der Konstitution und Entwicklung der Europäischen Union. Die Zweiteilung seines Werkes in einen ideengeschichtlichen und realhistorischen (zeitgeschichtlichen) Teil macht dies deutlich.

In der Einleitung kommt Biebricher zunächst auf den merkwürdigen Umstand zu sprechen, dass der Begriff „Neoliberalismus“ bzw. die Thematisierung dessen, was unter „Neoliberalismus“ verstanden werden könnte, vor allem eine Angelegenheit seiner Kritiker („fast ausnahmslos“) zu sein scheint, während es „heute schlicht keine bekennenden Neoliberalen mehr gibt“ (7). Handelt es sich also um einen reinen Kampfbegriff, der von Kritikern „mit antikapitalistischer Schlagseite“ (8) gebraucht bzw. missbraucht wird?

Diesem Eindruck tritt Biebricher entschieden entgegen. Der Neoliberalismus sei in der Tat „mehr als eine chimärische Ausgeburt der übersteigerten Phantasie seiner Kritiker“ (8). Das wirft definitorische Probleme auf, derer sich Biebricher durchaus bewusst ist. Was kann als „Neoliberalismus“ bezeichnet werden, wenn es sich, wie er betont, „nicht um eine geteilte Doktrin“ (8) handelt? Aus dieser Verlegenheit hilft eine Sichtweise, die Biebricher die „neoliberale Problematik“ nennt, also die Beschreibung einer Problemlage, auf die sich neoliberale Vordenker gemeinsam beziehen, nämlich die Frage, wie „die Bedingungen der Möglichkeit von funktionierenden Märkten“ (8) bestimmt werden könnten. Die Autoren, die Biebricher diesbezüglich ins Auge fasst, sind einerseits die deutschen Ordoliberalen Walter Eucken, Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow sowie – aus dem angelsächsischen Raum – die Autoren Friedrich August von Hayek, Milton Friedman und James Buchanan. Deren „Ideen, Entwürfe und Argumente“ (8) werden im ersten Teil des Buches untersucht. Zwei Aspekte hebt B. eingangs hervor:

Erstens richte sich sein Fokus auf die „genuin politische Dimension“ neoliberalen Denkens. Diese sei „integrale[r] Bestandteil der neoliberalen Problematik und keineswegs nur ein zu vernachlässigendes Anhängsel des vielbeschworenen Glaubens an selbstregulierende Märkte“ (8). Biebricher warnt geradezu vor einem ökonomistischen Missverständnis, neoliberale Theorie sei vielmehr als „politische Ökonomie“ (18, Hervorh. i. Orig.) ernst zu nehmen.

Zweitens will er neoliberales Denken anhand der Diskurse zu Staat, Demokratie, Wissenschaft und Politik untersuchen. Seine erklärte Absicht ist es, die diesbezüglichen Positionierungen in ihrer Diversität und vor allem auch Widersprüchlichkeit herauszuarbeiten. Es geht ihm um die „Heterogenitäten und Spannungen zwischen den diversen Perspektiven“, die er „in unterschiedliche Variationen neoliberalen Denkens“ (9, Hervorh. i. Orig.) identifizieren will.

Im zweiten Teil wendet er sich dann, wie oben angedeutet, „der Welt des ‚real existierenden Neoliberalismus‘“ (9), die er am Beispiel der Europäischen Union und der Wirtschafts- und Währungsunion untersuchen will, dem, wie es heißt, „bei weitem avancierteste[n] Labor zur Entwicklung neuer neoliberaler politischer Formen“ (9). Es geht ihm um den Nachweis, „dass die Eurozone in ihrer aktuellen institutionellen Ausgestaltung den politischen Vorstellungen des Ordoliberalismus als einer spezifischen Variante des Neoliberalismus entspricht“ (10, Hervorh. i. Orig.). Biebricher nennt dies die „Ordoliberalisierung Europas“. Auf die neuere Entwicklung seit Ausbruch der Corona-Pandemie geht er im Epilog des Buches ein.

Aus aktuellen Gründen – auch dies näher im Epilog – bezieht er den Aufstieg des Rechtspopulismus in den letzten Jahren in seine Betrachtung mit ein. Freilich bevorzugt er den (weiteren) Begriff „Autoritarismus“ und betont in diesem Zusammenhang sowohl mit Blick auf die Entwicklung der EU und der Wirtschafts- und Währungsunion, als auch mit Blick auf die „Variationen des neoliberalen Denkens“ (10) die autoritäre Komponente. Autoritarismus und Neoliberalismus (zumindest besagte Variationen) konvergieren durchaus in wichtigen Punkten, realhistorisch im Rahmen europäischer „Governance“, ideenpolitisch in Form mancher neoliberaler Konzepte. Von dorther erteilt Biebricher Überlegungen eine Absage, die nach der Finanz- und Eurokrise (und jetzt auch im Kontext der Corona-Krise) von einem „Ende des Neoliberalismus“ (10) sprechen. Im Gegenteil: „Versteht man den Neoliberalismus richtig, nämlich als kapitalistische Märkte, die in autoritäre politische Formen eingebettet sind, dann ist dieser Neoliberalismus keineswegs am Ende – womöglich hat er gerade erst begonnen.“ (10)

Der Untersuchung Biebrichers liegen zwei Entscheidungen, auch in methodischer Hinsicht, zugrunde:

1. Biebricher bezeichnet seinen Ansatz als ein „‘ideenbasiertes Verständnis des Neoliberalismus‘“ (17). Er grenzt dieses Verständnis gegen Einwände ab, die aus einer „eher materialistischen Perspektive“ (17) formuliert werden (z.B. David Harvey). Der zufolge sei „die ideationale Dimension des Neoliberalismus in allererster Linie und womöglich ausschließlich von ideologischer Bedeutung“ (17). Man betone die „vermeintliche Kluft zwischen neoliberaler Theorie und Praxis“ und – als Kritik an nicht-materialistischen Ansätzen – die „Einbettung von Ideen in interessebasierten und institutionellen Machtstrukturen, […] die die Resilienz jener Ideen verbürgten.“ (17)

Unabhängig davon, ob es sich hier nicht eher um eine Verballhornung des Ideologiebegriffs handelt – richtig ist, worauf Biebricher hinauswill, nämlich die „Wirkmächtigkeit“ (18) und Praxisrelevanz neoliberaler Theorie in ihrer Eigenschaft als „politische Ökonomie“ zu demonstrieren. Darüber hinaus sei es politisch relevant, da Neoliberale auf Kritik häufig mit dem Hinweis auf die bislang unzureichende „Implementierung“ (19) ihrer Ideen reagierten, dass man das Problematische der „Ideen selbst“ aufzeigen könne.

2. Es geht Biebricher daher nicht nur um „Rekonstruktion und Analyse“ der neoliberalen Ideenwelt, sondern auch um deren Kritik, die er explizit als eine „immanente Kritik“ begreift. Er will „interne Inkonsistenzen sowie Spannungen innerhalb und zwischen diversen Variationen des Neoliberalismus“ (19) offenlegen und klären, „inwieweit sie ihren eigenen Ansprüchen und Maßstäben (nicht) genügen“ (19) können. Zudem will er die Aufmerksamkeit darauf richten, „was in neoliberaler Theorie unausgesprochen bleibt, also die Annahmen und Bedingungen, die stillschweigend vorausgesetzt werden, die daraus resultierenden Limitierungen und blinden Flecken sowie die Implikationen und potentiellen Auswirkungen bestimmter Vorstellungen, wenn sie denn realisiert würden“ (19f.).

Mit diesem Anspruch verfolgt Thomas Biebricher ein methodisch und inhaltlich anspruchsvolles Programm. Der Wert seiner Habilitationsschrift für die Rechtsextremismus-Forschung ist erheblich. Sie präsentiert eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten für extrem rechte Argumentationen, die sich sowohl in der wirtschafts- und sozialpolitischen Publizistik (z.B. Junge Freiheit, eigentümlich frei) als auch in der Programmatik beispielsweise der AfD niederschlagen. Man kann geradezu von einer Strukturierung rechter Diskurse nach Maßgabe der Intensität sprechen, in der neoliberale Konzepte unterschiedlichster Art aufgegriffen und mit völkischen Ideologemen gekoppelt werden, im Gegensatz etwa zu den Strömungen, die sich auf eine im weitesten Sinne national-soziale und völkisch – ‚antikapitalistische‘ Programmatik fokussieren. Die Übernahme neoliberaler Argumente signalisiert den strategischen Willen, für die Renationalisierung der Republik und den geforderten Umbau des Staates in einer breiteren bürgerlichen Öffentlichkeit und insbesondere bei dissidenten Eliten in Wirtschaft, Medien und Politik Zustimmung zu generieren.

 

Dieser Artikel entstand im Rahmen eines vom Ministerium für Kultur & Wissenschaft NRW geförderten und in das Netzwerk CoRE-NRW eingebundenen Projekts zur Neuen Rechten.

 

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal 42 vom November 2021. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.