Stigmatisierung als flexible ökonomische Ressource

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von Jobst Paul, erschienen in DISS-Journal 35 (2018)

Flora Cassen
Marking the Jews in Renaissance Italy: Politics, Religion, and the Power of Symbols.
Cambridge: Cambridge University Press, 2017.
300 pp. $99.99 (cloth),
ISBN 978-1-107-17543-3.
((Ich stütze mich auf die Rezension von Cornelia Aust (Leibniz Institute of European History), https://www.h-net.org/reviews/showrev. php?id=51007 [accessed 29.05.2018] ))

Was ursprünglich vom römischen Lateralkonzil von 1215 ausging und was das Naziregime 1939 bzw. 1941 mit technokratischem Zynismus aufgriff, breitete sich als Praxis, ob nun über gelbe Hüte oder gelbe Stoffmarken, auch in den italienischen Städten der Renaissance aus  – die öffentliche Markierung von Juden. In ihrer Untersuchung Marking the Jews in Renaissance Italy: Politics, Religion, and the Power of Symbols versucht Flora Cassen, das soziale Geschehen dieser Exklusion in konkreten Kontexten, d.h. anhand von Archiven und Aufzeichnungen zu dokumentieren.

Nach einem Überblick über die unmittelbaren Folgen der Bestimmung des Laterankonzils im mittelalterlichen Europa wendet sie sich den unterschiedlichen Modellen zu, die Städte wie Mailand und Genua, aber auch eine ganze Provinz wie Piemont-Savoyen installierten, um ihre eigene jüdische Bevölkerung oder aber reisende Juden erkennbar zu machen. Auf Seiten der Obrigkeiten spielten dabei wechselnde religiöse, ökonomische und politische Motive ineinander, auf der anderen Seite reagierten darauf einzelne Juden bzw. jüdische Gemeinden wiederum unterschiedlich. Grund dafür waren die unterschiedlichen sozialen und politischen Strukturen.

Noch im Mailand des 15ten Jahrhunderts z.B. konnten weder der Stadtrat noch christlich-religiöse Eiferer den Fürsten bewegen, die Juden zum Tragen einer Markierung zu zwingen. Noch war die jüdische Gemeinde stark genug, das zu verhindern. Als Mailand jedoch im 16. Jahrhundert den Spaniern zufiel (die die Juden aus Spanien vertrieben hatten), konnten sich reiche Juden freikaufen, während der armen jüdischen Bevölkerung, vor allem den Männern, gelbe Hüte aufgezwungen wurden.

In Piemont versuchte die jüdische Gemeinde als Einheit aufzutreten, um mit Abgaben die schlimmsten Demütigungen zu verhindern. Daraus entwickelten die Obrigkeiten schließlich aber eine regelrechte Einnahmequelle, bis die Gemeinde zerfiel und letztlich wie in Mailand der Willkür ausgesetzt war.

In Genua wiederum wohnten offiziell gar keine Juden. Stattdessen wurden einzelne jüdische Gelehrte oder Geldhändler, die sich dort zeitweise niederließen, zum Ziel derselben Taktik wie in Mailand und Piemont: Sie hatten Abgaben dafür zu entrichten, nicht stigmatisiert zu werden, oder mussten die Stadt verlassen.

Cassen weist nach, wie sich die Praxis der Markierung von Juden zur flexiblen ökonomischen Ressource verfestigte, bzw. wie Juden durch das Instrument der Markierung immer mehr der Stigmatisierung und Verfolgung ausgesetzt wurden, um das von ihnen erpresste Steueraufkommen ständig zu erhöhen. Dieses Muster galt freilich nicht nur für das Italien der Renaissance: Die deutschen Kleinstaaten praktizierten diese Strategie noch bis zur Reichsgründung im Jahr 1870.