Der „neue Führer“ spricht

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Anmerkungen zur Dresdner Rede Björn Höckes
Von Helmut Kellershohn, Erschienen in DISS-Journal 34 (2017)

Zu Beginn eine Erinnerung an den 8. Mai 1985: Der Bundestag war zu einer Gedenkveranstaltung zusammengekommen an diesem vierzigsten Jahrestag der deutschen Kapitulation 1945. Die Rede zu diesem Epocheneinschnitt hielt Bundespräsident Richard von Weizsäcker. Es war zweifellos seine bedeutendste Rede. Der damalige israelische Botschafter Jitzak Ben-Ari sprach von einer „Sternstunde in der Geschichte der Bundesrepublik“. Dieser Rede entstammt die vielzitierte Sentenz: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ Der Bundespräsident bezog mit dieser Position klar Stellung zum Beispiel gegen die Rede Ludwig Erhards zwanzig Jahre zuvor, in der dieser den Befreiungscharakter des 8. Mai noch geleugnet hatte. Andererseits versicherte der Bundespräsident:

„Niemand wird um dieser Befreiung willen vergessen, welche schweren Leiden für viele Menschen mit dem 8. Mai erst begannen und danach folgten.“

Der subjektiven Erfahrung von Leid unter der deutschen Bevölkerung versuchte er damit Rechnung zu tragen. Aber, so fuhr er fort,

„wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Krieg führte. Wir dürfen den 8. Mai 1945 nicht vom 30. Januar 1933 trennen.“

In seiner Rede gedachte Richard von Weizsäcker „der sechs Millionen Juden, die in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden“, ferner „der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mussten“. Wichtig war ihm die ausführliche Würdigung des Widerstands, auch des kommunistischen, sodann die explizite Erwähnung der sowjetischen und polnischen Kriegsopfer. Mit seiner Rede, heben Katrin Hammerstein und Birgit Hofmann in ihrer Analyse hervor, habe der Bundespräsident Opfergruppen ins Bewusstsein gehoben, „die bis dahin im offiziellen Gedenken kaum repräsentiert gewesen waren“ (Hammerstein/Hofmann 2015). Der Holocaust war für von Weizsäcker ein singuläres Verbrechen. Entschieden wandte er sich gegen Versuche, sich mit dem „Argument des Nichtwissens“ (ebd.) zu entschuldigen. Schuld war für ihn nur individuell zurechenbar; aber hinsichtlich der kollektiven Verantwortung und den daraus erwachsenden Konsequenzen nahm er alle Deutschen in die Pflicht:

„Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob alt oder jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von den Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.“

An manchen Passagen der Weizsäcker Rede ist aus den verschiedensten politischen Lagern Kritik geübt worden, zum Teil mit bedenkenswerten Argumenten. Aber ihre enorme Wirkung bestand darin, dass sie über alle damaligen politischen Lager hinweg einen Minimalkonsens stiftete und die Erinnerungskultur der Bundesrepublik Deutschland maßgeblich gefördert hat.

Beispiel Höcke: religiös verbrämte Selbsterhöhung

Zweiunddreißig Jahre später, am 17. Januar 2017, hält ein AfD-Politiker namens Björn Höcke in Dresden eine Rede vor der Parteijugend der AfD. Es ist der Tag, an dem das Bundesverfassungsgericht die NPD für verfassungsfeindlich erklärt, aber nicht verbietet. In dieser Rede erklärt Höcke die Rede des Bundespräsidenten für ‚volksfeindlich’, sie sei gegen das eigene Volk gerichtet gewesen. Als Populist nahm er wie selbstverständlich ein Alleinvertretungsrecht in Anspruch und kündigte den Konsens auf, von dem ich vorhin gesprochen habe.

Aber auch Teile der Parteiführung werden von ihm massiv angegriffen. Diese „Typen“ seien unzuverlässige ‚Gestalten’, Höcke nennt sie die „Halben“. Der Ausdruck macht stutzig. Im Internet entdeckt man Erstaunliches dazu: Es handelt sich um eine Anspielung auf die in extrem rechten Fußball-Fangruppen weit verbreitete Parole „Die Halben hol’ der Teufel.“ Dazu schreibt die Lausitzer Rundschau (28. August 2012) in einem Bericht über die Cottbusser Fangruppe Inferno:

„Die scheinbar harmlose Zeile stammt aus einem Zitat der Romanfigur Gilbert Wolzow, einem Antihelden in dem antifaschistischen, im Osten früher weitverbreiteten Roman ‚Die Abenteuer des Werner Holt’. Wolzow hält eine flammende Durchhalte-Rede: ‚Wer […] Deutschland in seiner schwersten Stunde im Stich lässt, der ist ein Schweinehund. Alles oder nichts. Die Halben hol’ der Teufel. Wir stehen zum Führer’.“

Und schaut man beim „Führer“ selber nach, findet man zum Beispiel eine Rede Hitlers vom 20. Juli 1932, die er nachts in Stralsund hielt. Dort heißt es:

„Heute in der dritten Morgenstunde, da das ganze andere Deutschland schläft, sind wir hier wach und werden wach bleiben, bis Deutschland frei ist. […] Das Himmelreich und die Seligkeit gehören niemals Halben, sondern Ganzen. Ich verspreche, daß wir unsere Fahne, unsere Ideale und unsere Idee hochhalten und mit ihr ins Grab gehen werden. Unzählige Blutzeugen sind in dieser Stunde im Geiste bei uns. Aus dem Fanatismus und der gläubigen Inbrunst kommt eines Tages die Kraft, die das Reich der Größe, Kraft und Stärke einer wirklichen Herrlichkeit zimmert, das einmal das Vaterland für alle sein wird. […]“

Dieser religiös aufgeladene Ton mit direkten Anspielungen auf biblische und liturgische Texte findet sich auch bei Höcke. Den begeisterten Zuhörern aus den Reihen der Jungen Alternative präsentiert er sich als der neue „Führer“. Er sei der „Wegweiser“ auf einem „langen und entbehrungsreichen Weg“ hin zum „vollständigen Sieg“ der Partei. Die ‚jungen Leute’ sollten nicht wie irgendwelche „Parteifunktionszwerge […] den kürzesten Weg zu irgendwelchen Pfründen“ suchen. Diese Zwei-Wege-Metapher hat ihre Vorbilder: Man kennt sie aus der antiken Mythologie (Herakles am Scheidewege) und von alt- und neutestamentlichen Textstellen. Mit ihr stellt Höcke die Parteijugend vor eine moralische Entscheidungssituation: Es geht um die Wahl zwischen dem (negativen) Weg des karrieresüchtigen Berufspolitikers und dem (positiven) Weg derjenigen, die tugendhaft für „unser Volk“ und „dieses Land“ eintreten und sich hierin dem Bild des sich „im Dienst“ verzehrenden „neue[n] Preußen“ verpflichtet wissen. Höcke selbst stellt sich als dieser „neue Preuße“ dar und glaubt sich legitimiert, nach dem Muster der alttestamentlichen Weisheitslehrer den richtigen, wenn auch steinigen Weg zu weisen (vgl. Spr 4,11) – wenn hier nicht gar die messianische Botschaft mitschwingt: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Folgerichtig lässt Höcke die ‚jungen Leute’ auch nicht alleine: Weil „dieses Land […] einen vollständigen Sieg der AfD“ brauche, so das hochgesteckte Ziel, das an die Goebbelsche Rede vom „totalen Sieg“ erinnert, werde er „diesen Weg – und nur diesen Weg – mit Euch gehen, liebe Freunde“ – auch diese Zusicherung verweist auf eine messianische Formel: „Siehe, Ich bin bei Euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ (Mt 28, 19). Höcke erhebt also einen religiös verbrämten Anspruch, mit dem er sich weit über die „Parteifunktionszwerge“ des Bundesvorstandes der AfD stellt: Ohne ihn und ohne die Nachfolge, die er einfordert, wird es, so die Botschaft, keinen Sieg der AfD geben.

Völkisch-nationalistischer Umgang mit der deutschen Geschichte

Dazu bedarf es aber auch einer Vision, die Höcke gleich im Anschluss präsentiert, indem er eine „positive Beziehung zu unserer Geschichte“ als Grundvoraussetzung für die „innere Erneuerung“ des deutschen Volkes reklamiert. Warum fehlt es seiner Meinung nach an dieser Grundvoraussetzung? Höcke greift hier auf ein in der gesamten Rechten verbreitetes Argumentationsmuster zurück: Innerhalb der extremen Rechten ist vom „Schuld-Kult“ die Rede; die damit verbundene Kernaussage lautet, „’die Deutschen’ seien nach dem Kriege in eine Kollektivhaftung genommen worden und müssten bis heute für die NS-Verbrechen ‚büßen’“ (Suermann 2016, S. 269). Von „Umerziehung“ ist die Rede, was auch Höcke betont. „Weil sich unter diesen Bedingungen kein positiver Bezug auf Volk und Volksgemeinschaft habe entwickeln können, sei an die so entstandene Leerstelle eine irrationale ‚Negativ-Identität’“ (ebd.) getreten, gewissermaßen als Ausdruck eines entfremdeten Volks-Bewusstseins. „Ein quasi-religiöses Gedenken an die deutschen Verbrechen ‚verewige’ diese Schuld“ (ebd.), ihre Bewältigung, so Höcke, sei zu einer „gesamtgesellschaftlichen Daueraufgabe“ geworden. Höcke moniert: „Bis jetzt ist unsere Geistesverfassung, unser Gemütszustand, immer noch der eines total besiegten Volkes.“ Symbolischer Ausdruck dieser „Geistesverfassung“ ist für Höcke das Holocaust-Mahnmal in Berlin:

„Wir Deutschen […], wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat.“

Wie dies gemeint ist, wird deutlich, wenn Höcke von einer „dämliche[n] Bewältigungspolitik“ spricht, die das Volk lähme. Das seien doch alles „tote Riten“ und „hohle Phrasen“, eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ müsse endlich her. Wir bräuchten „eine lebendige Erinnerungskultur, die uns vor allen Dingen und zuallererst mit den großartigen Leistungen der Altvorderen in Berührung bringt.“ Das ist also die Alternative: Höcke propagiert einen Heroenkult als Inbegriff einer nationalidentitären Sinnstiftung von Geschichte: große Wohltäter, weltbewegende Philosophen, Musiker, geniale Entdecker und Erfinder. Alles Männer, und kein Wort über die Geschichte des Volkes.

Der geschichtspolitische Teil der Rede ist nicht der eigentliche Skandal der Rede. In der Tat, dieser Teil gehört zum Allgemeingut der deutschen Rechten. Deren Geschichtsrevisionismus, sieht man einmal von der offenen Holocaust-Leugnung ab, hat sich zweier Argumentationsstränge bedient: Der eine Strang fordert,

„einen ‚Schlussstrich’ unter die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus (NS) zu ziehen, schließlich sei bereits alles gesagt worden, man müsse endlich einmal zur ‚Normalität’ übergehen“ (Suermann 2016, S. 271).

Der andere Strang zweifelt zwar nicht den gewaltförmigen Charakter des NS an, doch wird die Bedeutung des NS für eine verantwortliche und moralisch verpflichtende Politik der nachfolgenden Generationen entschieden relativiert. Nicht Auschwitz selbst, sondern die historische und moralische Bedeutung dieses Verbrechens wird infragegestellt. „Jede Form erinnerungskultureller Aufarbeitung [wird so] als übertriebene bis antinationale Handlung“ (ebd.) dargestellt. Im AfD-Programm wird dementsprechend die „aktuelle Verengung der deutschen Erinnerungskultur auf die Zeit des Nationalsozialismus“ beklagt. Die Rede Höckes von der „dämliche[n] Bewältigungspolitik“ greift diese Klage auf und spitzt sie in zynischer Weise zu, wenn er in bewusst vieldeutiger Weise vom „Denkmal der Schande“ spricht. Deutlicher als sonst wird bei ihm der völkische Kern dieser Art Geschichtspolitik. Die „innere Erneuerung“ des deutschen Volkes mit dem Anspruch ethnischer Exklusivität ist nichts anderes als die alte Parole der völkischen Bewegung von der „Wiedergeburt“ des Volkes, das nicht verstanden wird als demos – als Gesamtheit der freien und gleichen Staatsbürger(innen) – sondern als ethnos, als ethnisch homogene Abstammungsgemeinschaft.

Vor diesem Hintergrund wird deutlich, was Höcke mit dem „vollständigen Sieg“ der AfD meint: Es geht ihm nicht primär um die 51 Prozent, wie es an einer Stelle der Rede heißt, also um die absolute Mehrheit, wie sie jede Partei anstrebt. Vielmehr geht es um die Durchsetzung einer Gesellschaftsordnung auf der Basis eines völkischen Nationsverständnisses jenseits einer pluralistisch und demokratisch verfassten Gesellschaftsordnung.

Die Rede Höckes kam im Vorfeld der Bundestagswahlen zur rechten Zeit. Sie macht kenntlich, welche Kräfte in der AfD wirken und an Bedeutung gewonnen haben. Die Höckes und Poggenburgs wollen die Öffnung nach rechtsaußen, sie wollen eine neue völkische Bewegung.

 

Literatur
Hammerstein, Katrin / Hofmann, Birgit 2015: „Wir […] müssen die Vergangenheit annehmen“ – Richard von Weizsäckers Rede zum Kriegsende 1985, in: Deutschland Archiv, 18.12.2015 (www.bpb.de/217619).

Suermann, Lennart 2016: Art. „Schuld-Kult“, in: Gießelmann, Bente / Heun, Robin u.a. (Hg.): Handwörterbuch rechtsextremer Kampfbegriffe, Schwalbach/Ts., S. 269-281.