Entfremdung: Renaissance eines Begriffes

  • Lesedauer:7 min Lesezeit

Von Wolfgang Kastrup. Erschienen in DISS-Journal 31 (2016)

Lange verpönt und kritisiert erlebt der Begriff der Entfremdung in den Sozialwissenschaften und der Philosophie als Schlüsselbegriff eine Wiedergeburt, allerdings mit unterschiedlicher Bedeutung. So will Rahel Jaeggi den „sozialphilosophischen Gehalt des gescholtenen Begriffes für die Gegenwart […] retten“, denn wir kämen kaum umhin „individuelle Formen des Lebens als entfremdet zu beschreiben.“ (Jaeggi, 8) Während Jaeggi das Entfremdungsproblem mehr auf der individuellen Ebene verortet, sieht Christoph Henning in den Entfremdungserfahrungen in der Arbeit eine wachsende Bedeutung und bezieht den Begriff auch auf globale und klassenübergreifende Strukturen (vgl. Henning, 12). Die zunehmende Ökonomisierung des alltäglichen Lebens, verursacht durch den Neoliberalismus als Regulationsform des Kapitalismus, hat m.E. dafür gesorgt, dass der gesellschaftskritische Begriff der Entfremdung eine Wiederbelebung erfahren hat.

Zwar gibt es den Entfremdungsbegriff schon bei Rousseau, bei Schiller, Humboldt, Fichte, bei Hegel, Feuerbach und Moses Hess, doch erst mit Marx, von Hegel und Feuerbach beeinflusst, gewinnt der Begriff eine besondere Bedeutung zur Erklärung sozial-ökonomischer Verhältnisse. Marx unterteilt Entfremdung in den „Ökonomisch-philosophischen Manuskripten“ („Pariser Manuskripten“) von 1844, erstveröffentlich 1932, immer unter der Voraussetzung der herrschenden kapitalistischen Produktionsweise, vierfach: 1. Entfremdung zu den eigenen Produkten. „Der Gegenstand, den die Arbeit produziert, ihr Produkt, tritt ihr als fremdes Wesen, als eine von dem Produzenten unabhängige Macht gegenüber. Das Produkt der Arbeit, die sich in einem Gegenstand fixiert, sachlich gemacht hat, es ist die Vergegenständlichung der Arbeit.“ (MEW, 40, 511f.) Das bedeutet, dass der Produzent über die Gegenstände der eigenen Herstellung keine Verfügung hat, da sie ihm nicht gehören. Auch über den Warentausch auf dem Markt hat er keinen Einfluss. 2. Entfremdung zur eigenen Tätigkeit. „Aber die Entfremdung zeigt sich nicht nur im Resultat, sondern im Akt der Produktion, innerhalb der produzierenden Tätigkeit selbst. Wie würde der Arbeiter dem Produkt seiner Tätigkeit fremd gegenüberstehen können, wenn er im Akt der Produktion selbst sich nicht sich selbst entfremdete?“ (MEW 40, 514) Die eigene Arbeit wird ihm fremd, da er nicht über sie verfügen kann, da die Arbeit fremdbestimmt ist, unfrei und gezwungen. Er steht unter dem Kommando des Kapitalisten, hat also keine Macht über sich selbst. 3. Entfremdung vom „Gattungswesen“. Dies bedeutet bei Marx, dass die entfremdete Arbeit „das Gattungswesen des Menschen, […]zu einem ihm fremden Wesen, zum Mittel seiner individuellen Existenz“ mache. „Sie entfremdet dem Menschen seinen eignen Leib, wie die Natur außer ihm, wie sein geistiges Wesen, sein menschliches Wesen.“ (MEW 40, 517) Ein produktives und sinnvolles Leben im Sinn einer freien und bewussten Tätigkeit ist so nicht möglich, da die Arbeitskraft des Menschen als Ware als Mittel zum Zweck kapitalistischer Profiterzielung dient. 4. Entfremdung zu den anderen Menschen. Für Marx ist diese Entfremdung die Konsequenz aus den drei vorhergehenden Formen. „Was von dem Verhältnis des Menschen zu seiner Arbeit, zum Produkt seiner Arbeit und zu sich selbst, das gilt von dem Verhältnis des Menschen zum andren Menschen, wie zu der Arbeit und dem Gegenstand der Arbeit des andren Menschen.“ (MEW 40, 518) Entfremdet arbeitende Menschen verhalten sich gleichgültig zueinander, sie haben keine Kontrolle über ihre Arbeit und die zunehmende Dynamik des Konkurrenzdrucks verschärft die Arbeitssituation.

Der Marxsche Entfremdungsbegriff stand und steht in der Kritik, anthropologisch konzipiert zu sein. So schreibt Michael Heinrich, dass die Wirklichkeit „mit einem idealen menschlichen Wesen konfrontiert“ werde, wobei festgestellt werde, dass eine Nichtübereinstimmung zwischen Existenz und Wesen bestehe, eine Entfremdung vom wirklichen Wesen. (Heinrich, 118). Er sieht hier einen Anthropologismus bei Marx, bei dem „frühen“ Marx. Diese Kritik bezieht sich u.a. auf folgende Textstelle in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten: „Der Kommunismus als positive Aufhebung des Privateigentums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für den Menschen […].“ (MEW 40, 536) Marx habe sich selbst, so Heinrich, von dieser Vorstellung eines menschlichen Wesens „im Sinne eines dem Individuum ´innewohnenden Abstraktums`, einer ´Gattung`“distanziert und bezieht sich dabei auf die 6. und 7. These über Feuerbach, in denen Marx vom Wesen immer nur als „das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ spreche und „das abstrakte Individuum, das dieses Gattungswesen in sich tragen soll, selbst ein gesellschaftliches Produkt ist.“ (Heinrich, 133) Eine vergleichbare Kritik äußere Marx in der Deutschen Ideologie. An die Stelle des „menschlichen Wesens“ würden bei Marx als grundlegendes begriffliches Konzept die „gesellschaftlichen Verhältnisse“ treten (Heinrich, 138). Die Auffassung, auch im Kapital sei eine Entfremdungstheorie zu finden, weist er als falsch zurück. In den Textstellen in der Deutschen Ideologie, in den Grundrissen, im Kapital, in den Theorien über den Mehrwert, in denen von „fremd“ die Rede sei, gehe es um „die Verselbständigung des gesellschaftlichen Zusammenhangs gegenüber den einzelnen Individuen.“ Würde dies als „Kontinuität der Entfremdungsproblematik behauptet“, so würde nicht gesehen, dass „die Konstatierung dieser Verselbständigung […] gerade nicht auf ein menschliches Wesen rekuriert, von dem die Menschen entfremdet sind.“ (Ebd., 142) Er sieht also einen inhaltlichen „Bruch“  zwischen dem „frühen“ Marx der Ökonomisch-philosophischenManuskripte und dem „späten“ Marx der Deutschen Ideologie und des Kapitals.

Kritik an Heinrich kommt u.a. von Christian Schmidt, der deutlich macht, dass der unterstellte Wesensbegriff durch den Text nicht gedeckt sei. Es finde sich keine Ausarbeitung einer angeblichen Anthropologie. Marx zu unterstellen, dass ein Wesen im Individuum wohne, sei unhegelianisch und unplausibel, da schon bei Hegel, der ja Marx stark beeinflusste, der Begriff Wesen von dem  Sein nicht getrennt werden könne. So müsse das Individuum als gesellschaftliches Wesen verstanden werden (vgl. Schmidt, 90/91). In der Tat, Marx spricht auch in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten von dem Menschen als einem gesellschaftlich Tätigen: „[…]so bin ich gesellschaftlich, weil als Mensch tätig.“ Und wenig später heißt es: „[…]mein eignes Dasein ist gesellschaftliche Tätigkeit; darum das, was ich aus mir mache, ich aus mir für die Gesellschaft mache und mit dem Bewußtsein meiner als eines gesellschaftlichen Wesens.“ (Marx, 40, 538) Deutlich wird, dass Marx hier keineswegs anthropologisch argumentiert, sondern schon ganz im Sinne der 6. und 7. Feuerbachthese. Dies zeigt m.E., dass Marx in ein und demselben Text das Wesen des Menschen einmal anthropologisch, das andere Mal gesellschaftlich bestimmt, selbst also in dieser Frage noch gespalten ist. Für Herbert Marcuse ist das Besondere der Frühschriften von Marx „die erste explizite Erörterung des Prozesses der Verdinglichung“, wodurch in der kapitalistischen Gesellschaft „alle persönlichen Beziehungen zwischen den Menschen die Form gegenständlicher Beziehungen zwischen Dingen annehmen.“ (Marcuse, 246) Da Marx diesen von Marcuse erwähnten Prozess später im Kapital in dem berühmten Kapitel über den „Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis“ aufgreift und weiterführt, kann nur so gedeutet werden, dass Marcuse das Kapital als kategoriale Weiterentwicklung der Frühschriften interpretiert und so das Eine nicht ohne das Andere zu haben ist. Marcuse bringt die Entfremdung mit der kapitalistischen Negativität in Beziehung. „Die Negativität der kapitalistischen Gesellschaft liegt in ihrer Entfremdung der Arbeit; die Negation dieser Negativität wird mit der Abschaffung der entfremdeten Arbeit zustande kommen.“ (Ebd., 249)

Wird die Entfremdungsproblematik nicht nur sozialphilosophisch (der einzelne Mensch kann sich mit der gesellschaftlichen Lebensform nicht mehr identifizieren) und nicht nur ethisch („Lebensgefühl der Gleichgültigkeit und Indifferenz“) wie bei Jaeggi gedeutet (vgl. Jaeggi, 14/15), sondern als gesellschaftskritische Begrifflichkeit, die ihren Ausgangspunkt in der Organisation kapitalistischer Produktion und ihren Widersprüchen hat, aber auch fortgeführt in gesellschaftlichen wie politischen Dimensionen zu sehen ist, so z.B. in Ohnmachtsgefühlen der Individuen gegenüber politischen Prozessen, so ist die Thematik keineswegs veraltet, sondern sehr aktuell. Wird zudem die weitgehende anthropologische Deutung des Begriffs in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten durch Marx und seine spätere Distanzierung, ebenfalls durch ihn als Entwicklungsschritt von der „Verdinglichung“ zum „Warenfetischismus“ interpretiert und so die entfremdete Arbeit als Kategorie mit der Kategorie der abstrakten Arbeit verbunden, dann zeigt sich hier eine aktuelle gesellschaftskritische Analyse für die Negativität kapitalistischer Gesellschaft.

Literatur
Heinrich, Michael 1999: Die Wissenschaft vom Wert, 2. überarb. und erw. Auflage, Münster.
Henning, Christoph 2015: Theorien der Entfremdung, Hamburg.
Jaeggi, Rahel 2005: Entfremdung, Frankfurt/M.
Marcuse, Herbert 1972: Vernunft und Revolution, Darmstadt und Neuwied.
Marx, Karl 2012: Ökonomisch-philosophische Manuskripte [zuerst 1844], in: MEW Bd. 40, 3. überarb. und erw. Auflage, Berlin, 465-588.
Schmidt, Christian 2005: Entfremdung und die Reproduktion der Unvernunft, in: Marx-Engels Jahrbuch 2005, Berlin, 86-105.

Wolfgang Kastrup ist Mitarbeiter des DISS.