Der Begriff, die Ideologie und zur Geschichte der „Bioethik“
AutorIn: Paul, Jobst
Themenbereiche: Recht, Eugenik
Schlagwörter: Begriffe, Bioethik, Geschichte
Textsorte: Referat
Releaseinfo: Das vorliegende Referat wurde entnommen aus dem Bericht: Bioethik kontra Menschenrechte – Die Bedeutung der Bioethik-Konvention unter besonderer Beachtung von Menschen mit Behinderungen. Enquete, am Dienstag, 18. März 1997 im Parlament, Budgetsaal; Veranstalter: Grüner Parlamentsklub in Wien.
Copyright: © Jobst Paul 1997
Inhaltsverzeichnis
Begriff und Ideologie der „Bioethik“
Geschichte der Konvention
Begriff und Ideologie der „Bioethik“
Beim Begriff Bioethik könnte man an eine Ethik des Lebens denken, etwa im Sinn Albert Schweitzers. Doch darauf nimmt das vorherrschende internationale Verständnis des Begriffs in Politik, Philosophie, ja in Teilen der Theologie längst keine Rücksicht mehr. Dies markiert das erste schlimme Problem. Denn über zwanzig Jahre ist im deutschsprachigen Raum nicht bemerkt worden, daß es die „philosophische“ Grundlegung einer „neuen“ Ethik international überhaupt gibt. Diese Diskussion wurde in Englisch geführt, und bis vor wenigen Jahren ist kein einziger der einschlägigen Texte in Deutsch zugänglich gewesen. Das zweite schlimme Problem ist, daß diese „neue“ Ethik längst zur internationalen politischen Geschäftsgrundlage geworden ist und wir nicht nur der „philosophischen“ Diskussion hinterher rennen, sondern vor allem den politisch längst geschaffenen Fakten. Die jetzige Gegenwehr ist also eine ziemlich ohnmächtige Veranstaltung und daß es sie überhaupt noch geben konnte, verdankt sich nicht der Kontrollfunktion der Politik, sondern privater, staatsbürgerlicher Initiative, für die ich hier stellvertretend spreche.
Mit welchen Geschützen wir es zu tun haben, dazu ein Beispiel: Vor einiger Zeit meinte ein dänisches Mitglied des sogenannten Bioethik-Lenkungsausschusses des Europarats, wo dessen Bioethik-Konvention (der Titel wurde im Juni 1996 allein kosmetisch geändert, und ich behalte ihn deshalb bei) entwickelt wurde – vor fünfzig Jahren hätten die Deutschen sein Land besetzt, nun wollten sie noch einmal fünfzig Jahre den Rest der Welt mit ihrem schlechten Gewissen knebeln.
An der Oberfläche hört man den Ärger über die in Deutschland geführte Bioethik-Debatte heraus, die die Verabschiedung der Bioethik-Konvention verzögerte. Wenn man die Polemik aber abzieht, dann kommt heraus, daß der Sprecher in der sogenannten Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit offenbar eine Bedrohung gewisser heutiger Interessen sieht. Damit verquickt er selbst die verbrecherischen Vorgänge vor fünfzig Jahren mit den Vorhaben der Konvention und stellt einige Maßstäbe auf den Kopf. Wenn die Menschenrechtsdokumente nach dem Krieg internationale Reaktionen auf die NS-Verbrechen waren, wie kann diese internationale Gemeinschaft die Lehren aus dem Nazismus nun wieder zur Privatsache erklären?
Die Auseinandersetzung mit der internationalen ‚Bioethik‘, in der die erwähnte Konvention des Europarats nur das politisch faßbarste Element darstellt, zwingt einen ständig, Argumentationen wie diese zunächst einmal intellektuell zu überleben, um sich dann dem Gemeinten wirklich stellen zu können. Das Gemeinte wäre, daß die globale Durchsetzung gewisser Interessen der Humanforschung und ihre ökonomische Verwertung nur möglich sein werden, wenn die ethischen Maßstäbe, die zur Verurteilung des Nazismus geführt haben, fallen. Dann aber wäre eine Verurteilung des Nazismus in der bisherigen Form nicht mehr möglich. Kurz: Eigentlich müßte man so etwas wie eine Rehabilitation einfädeln.
Damit sind wir mitten im Kern des bioethischen Argumentationsgeflechts, wie es sich seit ca. 20 Jahren weltweit entwickelt, und das man in Struktur und Geschichte kennen muß, um die Bedeutung der besagten Bioethik-Konvention zu erfassen. Vor allem die amerikanische Bioethik hat seit langem versucht, das nazistische Hindernis wegzuräumen. Peter Singers mit Blick auf Euthanasie getätigte Aussage, es sei nicht alles schlecht gewesen, was die Nazis machten, entspricht durchaus dem gängigen Niveau und es wird nicht weiterhelfen, dies als lächerlich abzutun. Vielmehr schält sich aus den Konferenzen, aus der Fülle der bioethischen Literatur seit den 70er Jahren eine strategische Lösung heraus, die die Bioethik-Konvention des Europarats in thematischen Teilbereichen bereits festschreibt.
Diese strategische Lösung, wie man sie in der Originalliteratur nachlesen kann, lautet schlicht, nicht die Ziele, sondern lediglich die Mittel des Nazismus seien falsch gewesen. Euthanasie und Eugenik blieben danach legitime humane Optionen, die – sozusagen diesmal – allerdings nur mit den ‚friedlichen‘ Mitteln des Marktes, auch der Überredung und der Verführung, durchgesetzt werden dürften. Mit anderen Worten, staatliche Propaganda und Gehirnwäsche sind zu ersetzen durch demokratische, sprich privatwirtschaftliche Propaganda und Gehirnwäsche, durch ‚public education‘, wie der Fachbegriff lautet.
Was ich hier referiere, ist Teil eines Gesamtkonzepts, dessen Erarbeitung in die Jahre vor 1970 zurückreicht. Etwa 1967 fanden sich, und zwar in der für die USA typischen, rein privatwirtschaftlichen Weise, aktive Humanforscher und eine Reihe von Philosophen und Theologen zusammen, denen klar geworden war, daß die sich abzeichnende molekularbiologische Revolution und der daraus erhoffte weltweite Markt an den religiösen und menschenrechtlichen Traditionen des christlichen Westens scheitern müßte, erst recht an den Traditionen anderer Kulturkreise.
Kein Problem, so die lösungsorientierten Strategen: Dann müssen all diese Traditionen eben durch einen Verständigungsprozeß überwunden werden zugunsten eines Menschenbilds, welches die sich abzeichnenden Anwendungen zuläßt. Im September 1970 erscheint im Kalifornischen Ärzteblatt ein programmatischer Text der neuen Bewegung unter dem Titel ‚A New Ethic for Medicine and Society‘, der die Grundbausteine der Lehre und die Argumentation bereits enthält, die sich dann bis heute kaum verändern sollte. 1972 setzt sich dafür der Begriff Bioethik durch.
In der bioethischen Literatur der 80er Jahre werden die Durchsetzungsstrategien konkretisiert, vor allem die These, das neue Menschenbild dürfe allein durch die Kräfte des Marktes und ‚public debate‘ durchgesetzt werden. Der politische Bereich hat allein die Aufgabe, die Rahmenbedingungen abzusichern. Staat und Verfassung sollen es dem freien Bürger überlassen, die neuen humantechnologischen Optionen zu konsumieren, auch wenn diese den überkommenen Grundwerten widersprechen. Was ein freier Bürger entscheidet, kann schließlich nicht undemokratisch sein.
Der Markt benötigt allerdings auch zahlende Kunden. Deshalb gehört zum Konzept auch die – am US-System orientierte – weltweite Privatisierung der Gesundheitssysteme vor allem in Schichten, die als Kunden in Frage kommen. Dazu zählt die Umlenkung von unproduktiven Aufwendungen, Stichwort Alte (Alterspyramide) und schwerbehinderter Neugeborener (bevorzugt: Kinder mit Down-Syndrom und mit Spina bifida). Diskutiert wird die Etablierung von Euthanasie-Praktiken (auch Früheuthanasie) zuerst – zum Angewöhnen sozusagen – auf freiwilliger Basis, dann als gesellschaftlicher Norm. Wir wissen, daß etwa die Niederlande seit vielen Jahren diesem Konzept folgen. Der kürzlich bekannt gewordene Versuch der europäischen Patentierung einer ’sauberen‘ Euthanasiepille durch eine amerikanische Hoechst-Tochter gehört hierher. Für die Umerziehung der Menschheit hin zu dieser neuen Ethik veranschlagte James Callahan, eine der großen Gestalten der US-Bioethik, in den 80er Jahren den Zeitraum von ein bis zwei Generationen.
Ein protestantischer Theologe, Joseph Fletcher, der in den 70er Jahren auch im deutschen Protestantismus ein großes Echo fand, steuert etwa 1968 die benötigte Doktrin, das neue Menschenbild bei. Er wird damit u.a. zum geistigen Orientierungspunkt eines gewissen Peter Singer, der sich in seiner US-Zeit auf Gedeih und Verderb dieser Doktrin anschließt und ihr bis heute treu bleibt. Fletchers Personen-Doktrin unterscheidet zwischen geistgesteuerten Personen und animalischen, bzw. vegetabilen Nicht-Personen, die verminderte oder keine Rechte mehr haben. Sein Ausruf von 1968 ‚a Down is not a person‘ wird zur Grundlage einer ausufernden bioethischen Auftragsliteratur bis in unsere Tage. Verzögert zwar, aber immerhin fanden sich auch deutsche Abnehmer.
1990 griff der verstorbene Dortmunder Behindertenpädagoge Christoph Anstötz die Frage eines amerikanischen Philosophen von 1981 auf, warum man Geistigbehinderte eigentlich nicht ‚essen‘ dürfe. Anstötz bedauerte, daß „die in der angloamerikanischen Literatur seit zwei Jahrzehnten geführte einschlägige Debatte an der Heil- und Geistigbehindertenpädagogik unseres Landes bisher so gut wie spurlos vorübergegangen“ sei und man solche ‚provokanten‘ Fragen in Deutschland immer noch nicht stellen dürfe. Der Widerwille, einen Schwerstgeistigbehinderten zu essen, sei analog zum Widerwillen, die eigenen Haustiere zu essen, womit gezeigt werden könne, daß Schwergeistigbehinderte so viele Schutzrechte zuständen wie Haustiere, und das sei doch ein Fortschritt. Dies bedeutet für Anstötz danach das Aus für alle menschlichen Wesen, die nichts oder nichts mehr empfinden.
Sie vegetieren nun im pflanzlichen Bereich, und im US-bioethischen Jargon spricht man daher vom ‚menschlichen Gemüse‘. Natürlich hat das Modell auch darüber seine automatischen Produkte, nämlich die „Personen“, denen allein die vollen Menschenrechte zukommen und die sich über die bloße Empfindungsfähigkeit der „Nicht-Personen“ erheben.
Soweit – ein deutscher Adept der US-Bioethik. Hinzu kommt der organisatorische Aufbau der Bioethik. 1969 entsteht das Hastings Center in New York, 1970 das Kennedy Institute of Ethics in Washington. Die Welle der weltweiten Institutsgründungen geht bis in unsere Tage. Osteuropa, Südamerika, der Nahe Osten, Asien sind heute abgedeckt, Afrika ist im Aufbau. Das erste deutsche Bioethik-Institut wurde 1994 in Bonn gegründet. 1995 wurden bioethische Großinstitute in Santiago de Chile als südamerikanische Zentrale und in Peking gegründet. Mitte 1996 beschloß die OAU, die Organisation für Afrikanische Einheit, in Kamerun die bioethische Vernetzung ihrer Organisation.
Über eine nun 25 Jahre betriebene internationale Konferenzkultur, über Forschungs- und Beratungsaufträge, über transnationale Ethik-Kommittees und Nationale Ethikkommittees ist – kurz gesagt – heute tatsächlich jene weltweite gemeinsame Diskursbasis geschaffen, die den Pionieren von 1969 vorschwebte, auch wenn sie dies allein selbstverständlich nicht hätten schaffen können.
In den 80er Jahren stellten wichtige Akteure ihren weltweiten Apparat zur Verfügung, die WHO und die UNESCO. WHO, UNESCO und nicht zuletzt der Straßburger Europarat bilden seit Jahren eine der Haupttriebfedern des bioethischen Prozesses. Den Durchbruch brachten die Jahre zwischen 1985 bis 1989, denn zwei Ebenen machten das ursprünglich privatwirtschaftliche Projekt einer globalen Harmonisierung der gen- und humantechnologischen Potentiale mit den bestehenden Menschenrechts- und Menschenwürdetraditionen zur staatspolitischen Sache. Die G7-Staaten beschlossen, parallel zu den Treffen der Staatschefs einen Bioethik-Gipfel ins Leben zu rufen, der in höchstem politischen Auftrag um die Menschenwürde verhandelte. Und 1988 vollzog die Europäische Kommission unter Jacques Delors einen entschiedenen Schwenk hin zur bioethischen Begleitung ihrer Forschungsprogramme. Erst vor wenigen Wochen publizierte die Kommission die Unterlagen einer Konferenz des Euthanasieforschungsprogramms der EU von 1994, dessen Ziel es ist, einen ‚Mittelweg‘ zwischen der legalen Tötungspraxis in den Niederlanden und einem strikten Verbot zu finden. EU-Forschungsprogramme laufen zur Frage, ob man Koma- und Wachkomapatienten verhungern und verdursten lassen dürfe, so im Dezember 1994 in Bonn und im Oktober 1996 in Maastricht, und zur Zulassung der ‚Forschung an nicht-einwilligungsfähigen Patienten‘, so 1995 in Berlin.
Wenn sich nun vor diesem Hintergrund ein völkerrechtliches Dokument ausdrücklich als Bioethik-Konvention bezeichnet (erst im Juni 1996 ließ man den Begriff fallen), ist es mit der Unschuld vorbei. Ich kann an dieser Stelle nicht die komplexe Geschichte der Konvention nachzeichnen. Der Text wurde in Straßburg im letzten Oktober verabschiedet und liegt den Parlamenten nun zur Beratung vor. Als Ende 1993 der damals noch geheime Text zugänglich wurde, war es ein Schock, als offenbar wurde, daß der Text des Entwurfs den erwähnten ideologischen Orientierungen folgte. Diese gingen von Beginn an über die einzelnen Artikel hinaus, über die fremdnützige Forschung an nichteinwilligungsfähigen Menschen, die verbrauchende Embryonenforschung, die Keimbahnforschung oder das genetische Screening in großem Maßstab. Die eigentlichen ideologischen Weichenstellungen finden sich in der Präambel und in den Erläuterungen zum Konventionstext, die im September 1996 veröffentlicht wurden (eine geänderte Fassung der Erläuterungen wurde im Februar nachgeschoben, sie lag mir bis heute nicht vor).
Fast in der Art eines Lesebuchs lassen sich die ideologischen Eckwerte der Konvention mit den ideologischen Kernthesen der US-Bioethik vergleichen, die man durch ‚public education‘ durchsetzen will. Es sind dies die bereits genannte Personen-Doktrin, dann die These von der Gleichwertigkeit von Forschungsfreiheit und Menschenwürde und die absonderliche Neudefinition des Begriffs ‚Mensch‘.
1) Die US-bioethische Personen-Doktrin unterscheidet wie gesagt in rassistischer Manier zwischen vollgültigen „Personen“ und anderen Menschen mit aus bioethischer Sicht fehlerhaften Eigenschaften. Ihnen wird in der bioethischen Originalliteratur der Status von Tieren, sogar Labortieren, zugewiesen. Teilweise werden sie mit pflanzlichen Metaphern belegt. Formulierungen wie „human vegetable“ oder die Formulierung „to harvest organs and tissues“ sind Standard. Dies vollzieht die Konvention in raffinierter Form nach.
In Artikel 1 (Zielsetzung und Gegenstand) heißt es, die Konvention wolle „die Würde und die Integrität aller Menschen“ schützen und „jedermann – ohne Unterschied“ die Wahrung seiner Integrität garantieren. In den Erläuterungen zu diesem Artikel wird klargestellt: „Die Begriffe „jedermann“ bzw. „alle Menschen“ werden durch die Konvention nicht definiert. Da ein Konsens für die Definition dieser Begriffe unter den Mitgliedsstaaten des Europarates nicht zu erreichen war, wurde beschlossen, die Definition dem jeweiligen nationalen Recht zu überlassen.“
Die Konvention geht also grundsätzlich von einer Definition des Begriffs Mensch aus und schlägt damit allen bisherigen Menschenrechtserklärungen ins Gesicht. Die Bestimmungen der Konvention stellen dann bereits die Umsetzung dar, insofern ohne weitere Begründung menschlichen Embryonen und sogenannten nicht-zustimmungsfähigen Menschen, also Neugeborenen, Kindern, Geistigbehinderten, Demenz- und Alzheimerpatienten, Notfall- und Schlaganfallpatienten, Schutzrechte entzogen werden können.
2) Die bioethische These, daß es keinen die Forschungsfreiheit prinzipiell übersteigenden Wert geben könne, insbesondere die Menschenwürde, mündet in die Forderung, Menschenwürde und Forschungsfreiheit als gleichwertige Rechte zu betrachten und in ‚Übereinstimmung‘ zu bringen. Der bisherige Primat der Menschenwürde wird einer irrationalen ‚jüdisch-christlichen‘ Religiosität zugeschrieben. Ein Bewußtseinswandel soll durch eine entsprechende ‚Erziehung‘ des öffentlichen Bewußtseins erreicht werden, das dann die forschungsseitige Verletzung der Menschenwürde im Einzelfall toleriert.
Die Vorstellung einer ‚Harmonisierbarkeit‘ von Menschenwürde und Forschungsfreiheit hat eine schwerwiegende Konsequenz. Wird die Würde des Menschen zu einem Wert ‚unter anderen‘, könnte sie, etwa mit der Forschungsfreiheit, nur über ein neues Medium, einen quanitifizierbaren Nutzen verrechenbar werden. Dann läßt sich zum Beispiel ausrechnen, ob sich die Behandlung von Patienten gemessen an ihrem Gewinn an Lebensqualität noch lohnt. Vor kurzem ist bekanntgeworden, daß solche Rechenprogramme in deutschen Universitätskrankenhäusern ausprobiert werden.
In den Erläuterungen zum Konventionstext heißt es nun, „daß sich Fortschritt [das sind die Interessen der Forscher], Nutzen für den Menschen [das sind die Interessen der Menschheit] und Schutz des Menschen [das erst sind die individuellen Schutzrechte aus Verfassungen und Menschenrechtsdeklarationen] miteinander in Einklang bringen lassen, wenn das Bewußtsein der Öffentlichkeit mit Hilfe eines vom Europarat entsprechend seiner Bestimmung geschaffenen Dokuments geschärft wird.“ [Hinzufügungen J.P.]
3) Die US-bioethische Doktrin manipuliert den Begriff der Menschenwürde noch in einer dritten Weise. Danach soll unter ‚Mensch‘ nicht mehr primär der individuelle Mensch verstanden werden, sondern ‚der‘ Mensch als Vertreter der Spezies. Danach soll Forschung zum voraussichtlichen Nutzen für die menschliche Spezies, z.B. für künftige Generationen, als Menschenrecht betrachtet werden, dem sich das individuelle Menschenrecht unterordnen muß. Wann und zu welchen Zwecken, bestimmt selbstverständlich die aktuelle Forschung.
Die Präambel der Konvention spricht entsprechend „von der Notwendigkeit der Achtung des Menschen sowohl als Individuum als auch als Teil der menschlichen Spezies“. In den Erläuterungen vom September 1996 entpuppt sich diese Bestimmung nun wie erwartet als die eugenische Hauptsache der gesamten Konvention. Sie will zwar Genom-Eingriffe verhindern, die das Idealbild vom Homo sapiens gefährden, nicht aber solche, die dieses Idealbild seiner Verwirklichung näherbringen. Keimbahneingriffe werden deshalb schon als normale medizinische Technik bezeichnet. Kurz: Die Konvention erklärt das Programm der aktiven wie passiven Eugenik, die wir für vergessen und vergangen hielten, zur edelsten Menschheitsaufgabe.
Diese ideologische Weichenstellung findet sich ganz entsprechend in der geplanten UNESCO-Deklaration zum menschlichen Genom. So schrieb der zuständige UNESCO-Jurist Gros Espiell 1995, das neue ‚kollektive‘ Menschenrecht werde die Entwicklung des internationalen Rechts fördern, und zwar „in Richtung auf neue Horizonte, bei denen die Rechte und Interessen der Menschheit angemessene Aufnahme finden werden hinsichtlich der Anerkennung und Verteidigung der kollektiven Interessen, die die ganze Menschengattung angehen“. Im kürzlichen Newsletter des International Bioethics Committee (IBC) der UNESCO brachte er die Formel noch einmal auf den Punkt: Er trennt zwischen „private morality“, also der Ethik, „which must predominate in individual ethics“, und der „collective ethics“ von „groups and societies“, also der Ethik, wie man hinzufügen muß, die Eingriffe am Individuum zuläßt, die mit der Individualethik unvereinbar wären. Gros Espiell vergiß auch nicht die Formel von der „Harmonisierung“ beider Ethiken, die durch Bioethik geleistet werde. In diesem Sinn der höheren Interessen, so ergänze ich wiederum, hat die Menschheit ein Menschenrecht am Genom von Individuen, das – wie sonst nur Materie – durch die Deklaration – wörtlich – zum „Menschheitserbe“ erklärt wird. Das UNESCO-Blatt steht nicht an, an anderer Stelle genau dies als die entscheidende „Innovation“ der Deklaration zu bezeichnen.
Ich muß es damit aus Zeitgründen bewenden lassen, auch wenn ich Ihnen nur eine sehr knappe Skizze bieten konnte. Aber eine Wertung will ich anschließen. Ich muß gestehen, daß mir nicht allein die Tragweite dieser sogenannten Innovation schlichtweg unfaßlich ist, sondern fast noch mehr die Tatsache, daß sie von internationalem politischen Willen getragen ist und auf keinen Widerstand von dort trifft, wo die Wähler ihre Vertreter haben, nämlich aus den Parlamenten. Schließlich werden damit über 200 Jahre Menschenrechtsgeschichte mit einem Federstrich definitiv beendet. Diese Geschichte kennt in all ihren Dokumenten allein den Impetus derindividuellen Menschenrechte als Bollwerk gerade gegen kollektive Macht. Nazismus und Holocaust scheint es nicht gegeben zu haben, keine Folgerungen, keine Konsequenzen in feierlichen Menschenrechtsdokumenten.
Eine Regression wie die jetzige hat es freilich bereits einmal gegeben. Auch die sogenannte ‚Realpolitik‘ des 19. Jahrhunderts verwies die Individualethik an Haus und Herd, um bei der Aufteilung der kolonialen Kuchens freie Hand zu haben. Die Analogie zur heutigen Entwicklung ist tatsächlich bis hinein in Sprache und Argumentation überwältigend. Was sich allein verändert hat, ist die Sorte des Kuchens und die Flexibilität der zugehörigen Ausgrenzungsdoktrin, mit der nun jeder zur Zielgruppe erklärt werden kann.
Die Forderung von Forschung und Wissenschaft nach einem ’neuen Menschenbild‘ sprengt die Grenzen der Forschung und verlangt die Unterwerfung von Kultur, Politik und schließlich der Verfassungen. Dies ist ein totalitärer Machtanspruch, und den Parlamenten muß klarwerden, daß ihre Untätigkeit der ideologischen Dynamik eines globalen Regimes zuarbeitet, das nicht nur die überkommenen Menschenrechte, sondern auch Parlamente für entbehrlich halten wird.
JOBST PAUL:Autor und Philologe von zahlreichen Artikeln zum Thema Bioethik
Quelle:
Paul Jobst: Der Begriff, die Ideologie und zur Geschichte der „Bioethik“
Das vorliegende Referat wurde entnommen aus dem Bericht: Bioethik kontra Menschenrechte – Die Bedeutung der Bioethik-Konvention unter besonderer Beachtung von Menschen mit Behinderungen; Enquete, am Dienstag, 18. März 1997 im Parlament, Budgetsaal; Veranstalter: Grüner Parlamentsklub
Ursprünglicher Publikationsort im Netz: http://bidok.uibk.ac.at/library/jobst-begriff_bioethik.html