Regierung des Fußballs?

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Ein Interview mit Ulrich Brieler. Erschienen in DISS-Journal 28 (2014)

DISS-Journal: Gibt es eine Regierung des Fußballs?

Ulrich Brieler: Ohne Frage und dies im traditionell souveränen wie postdemokratischen Sinn. Die globale Souveränität repräsentiert die FIFA, eine Art Weltpolitbüro des Fußballs, deren Entscheidungen, etwa die WM-Vergabe 2022 an Katar, jeder sportlichen Vernunft Hohn sprechen, aber sakrosankt sind. Diese außerstaatliche Souveränität setzt sich in den kontinentalen und nationalen Verbänden fort, zumeist männerbündische und sich selbstrekrutierende Hinterzimmerdespotien. Dieser fußball-politische Komplex reicht bis an die Basis, also die in der Regel als Kapitalgesellschaften organisierten Fußballabteilungen der Großvereine. Demokratie ist hier ausdrücklich nicht erwünscht, da es die Sponsoren vergrätzt und nur Chaos schafft. Wer mit den dicksten Schecks wedelt, wie jüngst beim Hamburger SV, wird prompt durchgewunken.
Handfeste Interessensverbünde mit der Wirtschaft, den Medien und der Politik sind ausdrücklich erwünscht. Gewaltenteilung ist diesem fußball-industriellen Komplex eher hinderlich, vielfältige Verbindungen sollen ein reibungsloses Geschäft ermöglichen. Gefälligkeiten und Eine-Hand-wäscht-die-andere-Mentalitäten sind an der Tagesordnung. Die Korruptionshistorie des globalen Fußballs, die etwa Thomas Kistner in seinen Büchern und Artikeln in der Süddeutschen Zeitung entwirft, schreibt sich täglich fort. Die Regierung des Fußballs besitzt also eine souveräne Seite, die gleichwohl mit einer Vielzahl von Akteuren abzustimmen ist.

Dies alles glaubt man zu kennen. Gibt es aber nicht auch handfeste politische Indienstnahmen des Fußballs?

Ja und nein. Gerade von kritischen Geistern wird der Fußball oft nur als eine Brot-und-Spiele-Veranstaltung wahrgenommen, als die ultimative Ablenkung. Aber so einfach sind die Dinge nicht. Sicherlich, die Fußball-Geschichte erzählt ungezählte Beispiele derartiger Instrumentalisierungen. Man denke nur an Mussolini und den Triumph der italienischen Mannschaft bei der WM 1934, an Pelé und die brasilianische Militärdiktatur bei der WM 1970, an Argentinien und die Junta 1978, an Maradona und die neapolitanische Camorra.

In jüngster Zeit, Platinis Geschäftsbeziehungen zu Katar oder Putin und die WM 2018, häufen sich strategische Instrumentalisierungen. Historisch hat sich dieser fußballerische Mehrwert aber eher zufällig ergeben. Der erste deutsche WM-Titel 1954 und seine Bedeutung für die junge Bundesrepublik oder die sehr späte Indienstnahme von Real Madrid durch den spanischen Franquismus sind eher Mitnahmeeffekten zu verdanken. Da war nichts geplant.

Die heutige Fußballphilie und seine Verwertung ist ein recht junges Phänomen. Bis weit in die 1970er Jahre hinein war der Fußball kein Thema für die besseren Kreise. Selbst in der Linken musste man sich entschuldigen, wenn man am Samstagnachmittag ins Stadion ging. Man vergisst dies heute all zu schnell.

Der hegemoniale Durchbruch hat mit einem grundlegenden Wandel zu tun, dem der Fußball seit den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts unterworfen wurde. Ich meine die Transformation einer plebejischen Kulturpraxis in ein, wenn nicht „das“ Feld der globalen Kulturindustrie. Seitdem ist vieles, fast alles im Fußball anders geworden.

Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um eine Romantisierung des guten alten Fußballs von vorgestern oder die moralinsaure Klage über das böse Geld. Tatsächlich hat erst der Profifußball die Bedingungen für den plebejischen Fußballsport geschaffen. Vorher war er ein Betätigungsfeld für gelangweilte Gentlemen.

Nein, es geht um ein Verständnis, wie der heutige Fußball entstanden ist und warum er als letzter Fluchtpunkt gesellschaftlicher Integration funktioniert. Und an diesem Punkt werden die postdemokratischen Regierungstechnologien interessant, für den individuellen Körper der Athleten wie für die Regierung der Massen.

Das heißt, man muss den heutigen Fußball zunächst als eine bestimmte Figur der zeitgenössischen Arbeit sehen?

Ja, der Fußball ist eine besonders interessante Gestalt der Regierung des lebendigen Arbeitsvermögens. „Regierung“ im Sinne Foucaults ist die stets fragile Verbindung von Fremd- und Selbst-Führung. Und gerade beim Sportler, speziell beim Fußballer, schlägt diese Anforderung exemplarisch durch.

Fußballer werden heute nicht mehr auf der Straße geboren, sondern in Internaten großgezogen, sie werden weltweit gehandelt und vermarktet, unterliegen einer unerbittlichen Ausbildung und Auslese. Wobei zumeist nur von der Spitze des Eisbergs, den Superstars und Sternchen der oberen Ligen, geredet wird. Über das riesige Fußballprekariat in Afrika und Südamerika, aber auch in den unteren Ligen Europas, verliert man kaum ein Wort.

Fußball ist zunächst harte Arbeit am Körper. Es gibt heute keine zweite Arbeitsgestalt, die so intensiv gedrillt und kontrolliert, so permanent sanktioniert und optimiert wird. Im Verborgenen der Trainingsfelder und Gesundheitscenter und im Auge der Öffentlichkeit, der große Bruder der Fernsehkamera in Nahaufnahmen und Zeitlupe ist live dabei, wird das Fehlerhafte und Unvollkommene protokolliert, in Videositzungen und Vier-Augen-Gesprächen wird es nachbereitet, analysiert und korrigiert.

Am gesellschaftlichen Individuum des Fußballspielers vollzieht sich das Schicksal der Machtlosen: Spielball von Mächten zu sein, die er nicht beherrscht, obwohl er doch scheinbar das Subjekt ist, das alles bestimmt und „das Spiel macht“. Die als Stars umgarnten Spieler sind letztlich Marionetten eines Spielbetriebs, nur im medialen Schein Heroen. Keine Entscheidung, die das Spiel wirklich betrifft, wird auch nur im Ansatz von den Akteuren auf dem Rasen oder den Rängen bestimmt. Orte, Regeln, Standards werden von „Kommissionen“ erarbeitet und dekretiert.

Bestens honoriert zahlen die Profis aber auch den Preis. Fußball ist heute mehr denn je harte körperliche Fron, eine Arbeit, der man auf höchstem Niveau bestenfalls 10 Jahre nachgehen kann. Jüngst ergab eine Untersuchung der französischen Zeitschrift „France Football“, dass die durchschnittliche Verweildauer eines Spielers der ersten Liga aktuell sieben Jahre beträgt, vor 30 Jahren waren es noch 14 Jahre. Die Folgekosten sind entsprechend. Nach 10 Jahren ist der Körper vor dem Lebensalter ausgelaugt. Jede Treppe wird zur Herausforderung. An Sport ist gar nicht mehr zu denken.

Es existieren also Grenzen des Raubbaus und der körperlichen Auszehrung, auch wenn alle Tricks neoliberaler Menschenführung vom Mentaltraining bis zur stets griffbreiten Biomedizin im Spiel sind. Der Fußballer ist das Wunschbild des zeitgenössischen Arbeiters: Immer in Topform, immer das Optimum anstreben, „immer weiter, weiter, immer weiter“ (Oliver Kahn). Das perfekte Spiel erfordert den perfekten Athleten. Christoph Biermann hat diese Ambition in seinem Buch „Die Fußball-Matrix“ mit all ihren Widersprüchen und Paradoxien anschaulich beschrieben.

Aber bei aller Disziplin, die den sehr jungen Menschen für „den schönsten Beruf, den man ausüben kann“, auferlegt wird: Der Sportler muss es selbst wollen und tun. Er hat es selbst in der Hand. Er muss eine auf den Beruf zugeschnittene asketische Arbeitsethik entwickeln. Tagesablauf, Nahrung, Schlaf, Sexualität, Kleidung usw. sind letztlich Aufgaben der Selbstführung.

So etwas schlägt aufs Bewusstsein. Die hoch bezahlten Fußballer bilden eine Berufsgruppe, die sich als Ware versteht und selbstbewusst so verhält. Ich bin das, was ich koste. Der Fußballer ist zu einer Ware gemacht worden und er will es sein, weil er nicht anders kann. Der Fußballer ist ein neoliberaler Arbeitskraftunternehmer par excellence.

Und die andere Seite der postdemokratischen Regierungstechnologien, die Verwaltung der Zuschauermassen?

Hier wird es noch interessanter. Denn der Fußballer ist nicht nur ein biopolitischer Arbeitskörper, er ist zugleich ein affektiver Arbeiter. Denn was ist das eigentliche Ziel des Fußballbetriebs? Doch nicht ein Tor mehr als der Gegner zu schießen!

Der eigentliche Zweck ist die Produktion von Gefühlen: Begeisterung, Anteilnahme, Identifikation, Spannung und Erlösung. In einer Welt, in der es anscheinend keine gemeinsamen Ziele, keinen Sinn mehr gibt, ist der Fußball für viele etwas, an das man glauben kann und glauben will, etwas, das die Leute wirklich berührt und umtreibt. Zumal man als Fan selbst Akteur der Affektproduktion werden kann.

Ist das nicht bloße Ablenkung?

Auch hier wieder: Ja und nein. Natürlich kann man sich fragen, ob in Duisburg nicht wichtigere Probleme zu erledigen sind als das Überleben des MSV. Man kann sich fragen, ob die Leute in Gelsenkirchen nicht dringendere Sorgen haben als das Schicksal von Schalke 04. Aber nicht der städtische Haushalt oder die kriminellen Finanzmärkte treiben Tausende in Duisburg auf die Straße, sondern die Rettung des MSV. Spontane Menschenketten artikulieren immer ein wirkliches Bedürfnis.

Ohne Wenn und Aber: Dieses Bedürfnis ist nicht besserwisserisch madig zu machen, sondern anzuerkennen! In den Gesellschaften des Spektakels existiert ein riesengroßer Wunsch nach Verbindendem und Verbindlichem, nach etwas, das größer ist als die eigene kärgliche Existenz, nach etwas, von dem man ein wichtiger Teil sein kann.

Wo jeder zu funktionieren hat oder ausgesondert wird, wächst die Sehnsucht nach Anerkennung und dem Unerhörten ins Unermessliche. Was früher die Partei, ist heute der Fanclub; was früher die Erscheinung, ist heute der Hakentrick; was früher die Prophezeiung, ist heute die Internetwette; was früher die Wallfahrt, ist heute das Auswärtsspiel.

Der heutige Fußball ist eine gigantische Wunschmaschine. Er ist vielleicht der einzige soziale Ort, wo die Massen zum ihrem Ausdruck kommen. Und er gibt dem Alltag Struktur, in einer prekären Welt kein unwichtiges Detail.

Worauf basiert diese Wunschpolitik, die ja eigentlich im Gegensatz zu dem steht, was Du den fußball-industriellen Komplex genannt hast?

Zwei Momente scheinen mir ganz entscheidend zu sein. Zum einen ist der Fußball für viele Leute Teil der eigenen Lebensgeschichte. Jeder hat selber gespielt und kann es ohne große Hindernisse allerorten in seiner Freizeit tun. Jeder ist daher Experte, es gibt keine Wissensbarrieren. Zum anderen leben die Spiele von der Beteiligung der Zuschauer, die berühmte „Stimmung“. Die Zuschauer sind also die aktiven Produzenten der Gefühle, an denen sie sich begeistern.

Und hier enthüllt sich das Geheimnis der Attraktion des Fußballs. Der Fußball ist Ort des affektiven Ereignisses und der Erinnerung daran. In der verwalteten Welt wird das Ereignis immer unwahrscheinlicher. Vieles, was geschieht, kommt über einen, man muss es erdulden. Es ist eben so. Im Fußball kann es immer anders kommen. Es ist alles andere als zufällig, dass die letzten Jahre eine Flut von Vereinsgeschichten und Spielerbiographien hervorgebracht haben. Natürlich spielt hier Nostalgie eine Rolle, aber eben in der Form einer angenehmen Erinnerung.

Der Fußball schafft Ereignisse, die der Erinnerung gefallen. Und das ist wirklich interessant: Je disziplinierter die Fußballarbeiter ihrer zunehmend monotonen Arbeit nachgehen, je mehr digitalisierte Aufzeichnungssysteme Spiel, Spieler und Publikum kontrollieren, je mehr die immer gleichen globalen Fußballkonzerne den Erfolg unter sich aufteilen, desto mehr wächst bei den Fans die Sehnsucht nach den guten alten Zeiten. Im Übrigen auch bei denen, die sie nie erlebt haben.

Da das Leben aber auch im Fußball niemals gänzlich beherrschbar ist, ereignen sich stets unglaubliche Dinge. Das 7:1 der deutschen Mannschaft über Brasilien bei der letzten WM kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es schafft Erinnerung für die kommenden Jahrzehnte. Dies ist mindestens so wichtig, nein wichtiger als der WM-Erfolg.

Wie erklärst Du aber die ständige Unruhe um den Fußball, die dauernden Diskussionen um Polizeieinsätze, Sicherheitskonzepte und die sogenannte Gewalt der Ultras?

Aus einem einfachen Grunde: Die Regierung des Massenpublikums ist das entscheidende Problem des fußball-industriellen Komplexes. Diese Form der Regierung weist weit über die Fußballstadien mit ihren avancierten Überwachungstechnologien hinaus.

Die Massen als Akteure der Geschichte sind heute weitgehend verschwunden. Noch in den 1970er Jahren waren sie der Bezugspunkt jeder Emanzipationstheorie. Occupy und der arabische Frühling haben daran jüngst erinnert. Aber ist dies als Tragödie oder als Farce zu lesen? Wie auch immer: Heutige Massen treten in kulturindustriellem Gewand auf. Ob der Papst oder die Love-Parade vorbeischaut, Madonna oder der FC Barcelona: Das Massenpublikum will unterhalten und kontrolliert sein, inklusive der Kollateralschäden, für die niemand verantwortlich ist.

Im heutigen Fußball ist die Masse als Akteur des Spektakels unendlich wichtig. Je mehr das Spielgeschehen verplant wird, umso mehr braucht der heutige Fußball das anarchische Moment von außen, den überschäumenden Enthusiasmus, den gelungenen Affekt. Aber das Spektakel selber kann nicht geplant werden. Dafür sind die Fans zuständig. Deshalb kommen die Leute ins Stadion, sie wollen feiern und leiden, sich freuen und trauern.

Dies ist der erste große Widerspruch, der zwischen Kontrolle und Ereignis, eine fast unlösbare Aufgabe. Der fußball-industriellen Komplex verlangt Planung und Effizienz bis in die Spielsysteme hinein, das Fußball-Ereignis den Exzess und die Überschreitung.

Es existiert eine unentrinnbare Dialektik von Entzauberung und Verzauberung. Während der fußball-industrielle Komplex alles marktförmig macht, bleibt seine Geschäftsgrundlage das Unwahrscheinliche: dass der Kleine den Größten besiegt, die beste Taktik nicht aufgeht, der todsicherste Transfer scheitert. Der heutige Fußball ist der unmögliche Versuch, das Ereignis gleichzeitig zu bannen und seiner zu bedürfen. Vielleicht zeigt der Fußball die Grenzen der Verdinglichung auf. Auch die beste Organisation kann das Ereignis nicht töten.

Welche Rolle spielen dabei die neuen Spielstätten?

Das Stadion wird zum zerbrechlichsten Glied im fußball-industriellen Komplex. Man braucht die Fans und ihre Choreographien, ihre Gesänge, die Aufschreie, das Stöhnen. Man braucht sie umso mehr, als das Spiel selbst die Überraschung, das Ereignis zu beherrschen versucht. Das Drumherum wird also immer essentieller.

Die neuen Stadien sind exemplarische Orte der postdemokratischen Regierung der Massen. Sie sind moderne Panoptiken, eben Multifunktions-Arenen. Zu reden ist von den Technologien der Eingangskontrolle und der Rundumüberwachung, die jeden Einzelnen identifizieren und damit „die Masse töten“. Niemand kann sich mehr verstecken, deshalb auch das Vermummungsverbot. Die Stadien sind längst keine öffentlichen Orte mehr, die der Citoyen bevölkert. Gefragt ist der Kunde, der zu überhöhten Preisen konsumiert und brav applaudiert.

Schon gar nicht mehr fungieren die Stadien als soziale Schmelztiegel. Es sind Orte strikt separierter Gated Communities, in denen sich von den Stehplätzen bis zu den Logen die Ränge der zerklüfteten Klassengesellschaft exakt ablesen lassen. Hier haben die Stadien tatsächlich viel vom Kolosseum. Die Besserverdienenden ergötzen sich am Spektakel, das die Unten veranstalten.

Aber genau hier liegt eine weitere unlösbare Krux des fußball-industriellen Komplexes. Er tendiert so ausschließlich zum Geschäft, dass er verliert, was ihn auszeichnet, das Antiökonomische. Der Fußball will den Kunden, aber braucht den Fan. Er will die Ordnung, aber er braucht die Unordnung.

Dies erklärt die sehr labile Balance zwischen dem fußball-industriellen Komplex und seinen Kritikern in Gestalt der Ultras, die alles andere als marktförmig denken. Sie ziehen gegen die Kommerzialisierung zu Feld, pflegen die Traditionen und sozialen Verwurzelungen und beäugen sehr kritisch die Geschäftspraktiken der Vereine. Die Ultras liefern aktuell den enthusiastischen Untergrund, ohne den der Fußball nicht existieren kann.

Man könnte allerdings fragen: Kann der Fußball, mit Hilfe des Fernsehens und des Internets, ohne Fans auskommen? Ein momentan noch schwer vorstellbarer Gedanke. Aber die zunehmenden „Geisterspiele“ deuten eine solche Möglichkeit zumindest an.

Aktuell muss ein rebellischer Rest bleiben, der die Leidenschaften mobilisiert, das Herzklopfen und die schwitzigen Hände ab 15.30 Uhr. Authentisches Betroffensein lässt sich nicht simulieren. Die Abneigung, die Werksvereine wie Bayer Leverkusen oder den VW Wolfsburg trifft, sind beredtes Zeugnis.

Bisher sind alle Versuche der Amerikanisierung gescheitert. Das Publikum ließ sich nicht zu braven Budweiser- und Burgerkäufern erziehen, vielleicht noch nicht. Denn nach Hoffenheim geht es ja weiter. Das reine Marketingprodukt Red Bull Leipzig ist der jüngste und kenntlichste Versuch dieser Art.

Also eher Ordnung und Unruhe, statt Brot und Spiele?

Ja, das scheint mir treffender. Im Moment sehe ich nicht, dass sich die Fans, d.h. die „Enthusiasten“ im Sinne Kants, zähmen, kaufen und politisch entmündigen lassen. Eher beobachte ich bei starken Minoritäten das Gegenteil. Die Proteste in Brasilien sind noch gut in Erinnerung. Und vergessen wir nicht die Fans der türkischen Großvereine auf dem Gezi-Platz oder die Rolle der Ultras beim arabischen Frühling in Kairo.

Der fußball-industrielle Komplex ist der erklärte Gegner der Ultra-Bewegung und vieler älterer Nostalgiker. Merkwürdig, dass kritische Geister diese Bruchlinie kaum wahrnehmen. Dabei geht die kulturelle Subversion stets der politischen voraus.

Ja, vielleicht gibt es hier sogar so etwas wie Klassenbewusstsein. Jüngst las ich in der Süddeutschen Zeitung vom 2.5.2014 einen Artikel über Analphabeten in Deutschland. Ein solcher kauft sich regelmäßig den Kicker, „um sich über seine Lieblingsvereine zu informieren.“ Wer das ist? „Alle außer Bayern München!“ Es geht doch.

Prof. Dr. Ulrich Brieler lebt, lehrt und arbeitet in Leipzig und zuweilen in Bochum.
Die Fragen stellte Siegfried Jäger.