Ein kurzer Essay zu Albert Camus, Friedrich Nietzsche, Michel Foucault und Co., einige Bemerkungen zum orthodoxen Marxismus sowie ein Seitenblick zu den Grünen von 2014. Von Siegfried Jäger.
Erschienen in DISS-Journal 27 (2014)
Ich fange an bei Albert Camus. 2013 erschien bei Knaus ein knapp 600 Seiten dickes Buch des französischen Philosophen Michel Onfray zu Leben und Philosophie des Albert Camus. (Im Namen der Freiheit. Leben und Philosophie des Albert Camus, München: Knaus, 573 S., 29,99 €) Das Buch bietet eine liebevolle Darstellung von Camus‘ kurzem Leben, seiner Philosophie („Der Mensch in der Revolte“, „Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde“) und seiner interessanten Belletristik („Der Fremde“, Literatur-Nobelpreis 1957 für „Der Fall“, Dramen wie „Caligula“, „Die Gerechten“). Onfray zeigt auf, dass und inwiefern Camus Nietzscheaner ist, Sozialist jenseits der verschlafenen Sozialdemokratie, Kommunist jenseits aller Orthodoxie, Freund und Gegner von Sartre (der zumindest ein Stück weit mit den Nazis kollaborierte). Vor allem aber sei Camus ein Mensch aus den ärmsten Schichten Algeriens gewesen, der das Leben, die Frauen, die Menschen und die Natur liebte, die Düfte, das Mittelmeer und das Salz und die Sonne.
Ähnlich wie Foucault war Camus einige Zeit Mitglied der kommunistischen Partei Frankreichs, die er als nicht orthodoxer linker Anarcho-Marxist alsbald wieder verließ. Onfray charakterisiert ihn als jemanden. „der sich nicht nur mit Meer, Sonne und Licht vereinen wollte, sondern auch mit der strahlenden Zukunft des Proletariats“ (129), der also nicht orthodoxer Nietzscheaner war, der sich weigerte, irgendeinen Philosophen nachzubeten oder gar anzubeten, der selbst denken wollte und konnte und dessen Denken von Nietzsches Erkenntnis „Gott ist tot!“ fasziniert war.
Fahren wir mit Nietzsche fort, dem deutschen Philosophen, der sich nicht in erster Linie als Mensch sah, sondern als Dynamit, der das gesamte abendländische Denken ansteckte, dem begeistert zugestimmt wurde, der aber auch wütend abgelehnt wurde. Denn fast alle abendländischen Intellektuellen nach ihm bezogen sich auf Nietzsches Werke, seine philosophischen („Die Fröhliche Wissenschaft“, „Jenseits von Gut und Böse“) und seine literarischen Arbeiten („Also sprach Zarathustra“) sowie Aphorismen. Gleichviel ob sie sturzkonservative BürgerInnen waren, Völkische Nationalisten (Arthur Möller van den Bruck, Georges Sorel), Faschisten/Nationalsozialisten (Bennito Mussolini, Adolf Hitler, Alfred Rosenberg, Martin Heidegger, Ernst Bertram, Ernst Jünger), Anthroposophen (Georg Steiner), Anarchisten (Gustav Landauer, Michael Bakunin, Peter Kropotkin, John Moore) Marxisten (Hegelianer) (Walter Benjamin, Jürgen Habermas, Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Georg Lukacs, Ernst Bloch), Literaten (wie Thomas Mann, Gottfried Benn, Stefan George), freie Linke (wie etwa Jacques Derrida, Michel Foucault, Gilles Deleuze, Felix Guattari, u.a.) oder Bratkartoffel Philosophen (Peter Sloterdijk) oder Feministinnen (Lily Braun) und Künstler (Tommaso Marinettis futuristisches Manifest), sie alle wurden von Nietzsche angestoßen. Und dies in unterschiedlichster und oft in ambivalenter oder gar gegensätzlichster Weise. ((Eine sehr dichte und sachliche Darstellung dazu ist Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart, Metzler 1996. Auf diese stützen sich die Angaben zu Nietzsche und seiner Rezeption. Die ideengeschichtliche Abhandlung sollte allerdings um genealogische Befragungen erweitert werden. So ließe sich vielleicht der Zusammenhang zwischen den Denksystemen Nietzsches und Marx´ besser verstehen. Zu Foucault und Nietzsche vgl. die Artikel in DE 2, S. 166-191 sowie DE 1, S. 727-743.))
Den Hintergrund für diesen Boom bildete natürlich die europäische Aufklärung, die man allerdings nicht auf das Ereignis von 1789 reduzieren sollte, sondern die bereits einige Jahrhunderte davor als sich langsam strukturierender Prozess begann und natürlich auch im 19. Jahrhundert und bis in die Gegenwart andauert. Nietzsche wurde so etwas wie das Sprachrohr sich verdichtender Aufklärung, und seine Rezeption war deshalb so breit und widersprüchlich gestreut, weil Nietzsches Ideen so vielseitig und vielschichtig waren und oft so punktgenau Säkularisierung einforderten, dass sie sich den herrschenden Denksystemen oftmals leicht amalgamieren lassen konnten. Gegen Nietzsches „Tod Gottes“ und die Säkularisierung allgemein erhob sich jedoch ein riesiger Widerstand, der selbst noch in solchen Denksystemen zu hausen begann, die sich gegen die alten Werte des Christentums und gegen die sie vertretenden BürgerInnen wandten, was sogar auch noch bei Nietzsche selbst zu beobachten ist: Sein Tod Gottes hat auch ihm Angst gemacht und seine Akzeptanz dieser Einsicht hat ihn möglicherweise in den Wahnsinn getrieben. Dafür spricht, dass Nietzsche in einer orthodox protestantischen Pfarrersfamilie aufgewachsen war, in der das Wort Gottes Gesetz und die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod Gewissheit waren. Der Philosoph Oliver Flügel-Martinsen hat meines Erachtens zutreffend nachgewiesen, wie selbst bei philosophischen Heroen wie Kant und Hegel der Abschied vom Metaphysischen trotz allen Bemühens scheiterte und ihre Schriften im Kern Zuflucht dazu suchten und diese zu begründen versuchten. Nietzsche und Derrida dagegen gingen von der Ungewissheit des Wissens aus und halten daran auch fest, doch sie befassen sich mit der Frage, wie damit umzugehen sei. Die Antwort lautet: mit vorsichtigem Philosophieren und, verbunden damit: behutsamen Befragungen. ((Vgl. dazu Oliver Flügel-Martinsen:: Jenseits von Glauben und Wissen. Philosophischer Versuch über das Leben in der Moderne, transcript Bielefeld 2011 und meine Besprechung in DISS-Journal Nr.21)) Michel Foucault steuert in eine ähnliche Richtung, indem er die absolute Erkenntnis (Wahrheit) zwar bestreitet, aber nicht die Wahrheiten, die er allerdings als historisch kontingent und nur als jeweilig und in ständiger historischer und räumlicher Veränderung begriffen sieht. ((S. z.B. Foucault: Dispositive der Macht.. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin: Merve 1978, sowie Foucault: Freiheit und Selbstsorge, Frankfurt/M. 1985.))
Das hat dramatische Folgen: Natürlich kann man weiterhin versuchen, in den Glauben zu springen (Kierkegaard); aber Zweifel sind auch dann angebracht, wie zumindest fortschrittliche Kenner der heiligen Schriften wissen. Aber sicher ist: Alle Orthodoxien stehen auf tönernen Füßen, die christliche und die anderer Glaubensrichtungen, also auch die marxistische. Keine(r) kann sicher sein.
Da nimmt man doch erfreut zur Kenntnis, dass es auch noch einige Optimisten gibt, solche zum Beispiel, die sich auf Albert Camus beziehen, wie dies zwei studierte Grüne in der Mai-Ausgabe des Cicero tun. Dort schlagen Franziska Brantner und Robert Habeck unter der Überschrift: Salz, Sonne und Meer „ein ganz neues Freiheitskonzept“ vor. Sich von den sogenannten Liberalen der FDP absetzend formulieren sie: „Vielleicht ist der Liberalismus ja tatsächlich bei uns zu Hause. Aber wir müssen einsehen, dass ein liberaler Zungenschlag kein Beweis ist und noch lange keine Strategie. Die Grünen haben bisher die Frage nicht beantwortet, ob sich bei ihnen etwas ändern sollte und wenn ja, was.
Dabei birgt der Freiheitsdiskurs tatsächlich eine große Chance für die Partei, […] sich nochmals neu zu erfinden. Damit können wir der Gesellschaft im Merkel-müden Deutschland einen Impuls geben, die Republik wacher, kreativer, freier zu machen. Dazu müssen sich die Grünen die Freiheit nehmen, Freiheit neu zu denken. Erstmal muss die Partei ein Sensorium gegen obligatorische Ismen und gegen Bevormundung entwickeln.
So eine Haltung finden wir in ausgeprägt politischer Form im Werk von Albert Camus […] Camus hat genau das, was die Grünen jetzt brauchen: Aus einem tief gegründeten Humanismus speisen sich seine Lebensbejahung und Bevormundungsverneinung: […] Wertgeleitete Haltung ohne Ideologieklappe, das wäre die grüne Freiheit. ‚Programmatische Schärfe‘ und ‚radikales Augenmaß‘. Genau so sollten die Grünen sein.“
Einverstanden! Aber nur jenseits von Glauben und Wissen. Und nicht im abgrundtief konservativ schickimickihaften Cicero.