Helmut Kellershohn: AfD-Sondierungen

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Sondierungen im Feld der AfD (Teil 1)

Marc Jongens AfD-Manifest und die jungkonservative Neue Rechte

Helmut Kellershohn

Man darf sich nicht vorstellen, dass die Repräsentanten der AfD „alle shopkeeper sind oder für dieselben schwärmen. Sie können ihrer Bildung und ihrer individuellen Lage nach himmelweit von ihnen getrennt sein. Was sie zu Vertretern des Kleinbürgers macht, ist, dass sie im Kopf nicht über die Schranken hinauskommen, worüber jener nicht im Leben hinauskommt, dass sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jenen das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten.“
(Karl Marx über die AfD)

Einleitung

Im Vorfeld des Europaparteitags der AfD Ende Januar griff ihr Mitgründer und stellvertretender Sprecher Alexander Gauland zur Feder und veröffentlichte in der FAZ v. 24.01.2014 einen Artikel. Die FAZ versah ihn mit der Überschrift „Die AfD in der Krise“. Gauland skizzierte darin die beiden Flügel in der Partei. Auf der einen Seite stünden die „volkswirtschaftlich gebildeten Wirtschaftsliberalen“, die sich hauptsächlich gegen die Einheitswährung und die „Brüsseler Eurokratie“ engagierten, „ungerechtfertigte staatliche Eingriffe“ beklagten, die „Europa-Ideologie“ der Eliten mit ihrer „Nie-wieder-Krieg“-Rhetorik kritisierten und den damit begründeten europäischen Bundesstaat ablehnten. Auf der anderen Seite gäbe es in der AfD, Gauland formuliert dies unter Vorbehalt, ein Lager von „Protestwählern“ nationalkonservativer oder nationalliberaler Provenienz oder auch schlicht Populisten. Das seien Menschen, „denen das Laissez-faire der modernen Gesellschaft viel zu weit“ gehe, die „Werte, Strukturen und Haltungen“ vermissten, „die bei Eltern und Großeltern noch selbstverständlich“ gewesen seien. Zu den mentalen Beständen zählten das traditionelle Familienbild, die häusliche Erziehung und die ablehnende Sicht auf die multikulturelle Gesellschaft oder die „Torheiten des modernen Feminismus“ (z.B. Gender Mainstreaming). Man fühle sich in diesem Lager von der „öffentlichen Debatte“ ausgeschlossen, stehe „mit Zorn und Ablehnung“ der eigenen „Marginalisierung“ gegenüber und suche „nach einem konservativen Gegenpol zu allzu viel Selbstverwirklichung“.

Gauland gibt sich diplomatisch, relativiert die Gegensätze und plädiert für ein Zusammenwirken aller Kräfte. Diesbezüglich ist er nicht der Einzige. Die Suche nach einer Synthese treibt die Vordenker der Partei an. Darunter auch ein Newcomer namens Marc Jongen. Im Gegensatz zu Gauland ist er in Parteidingen noch recht unerfahren, auch wenn er Beisitzer im Landesvorstand der AfD in Baden-Württemberg ist und jetzt auf Platz acht der Europawahlliste der AfD steht. Er stammt aus Südtirol, hat sich gewisse Meriten auf philosophischem Gebiet erworben und nennt sich seit 2003 „wissenschaftlicher Assistent des Rektors an der HfG Karlsruhe“. Das ist nun doch bemerkenswert, denn der Rektor ist kein anderer als Peter Sloterdijk, das enfant terrible der deutschen Philosophenzunft. Wir erinnern uns: In einer Serie von Artikel in den Jahren 2009/10 ‚bombardierte’ Sloterdijk die mediale Öffentlichkeit mit seiner Sicht von Staat und Gesellschaft, darunter ein Manifest genannter Text zum „Aufbruch der Leistungsträger“, der im November 2009 in der Zeitschrift Cicero erschien (zum Kontext vgl. Rehmann/Wagner [Hg.] 2010).

In derselben Zeitschrift, welch ein Zufall, veröffentlicht Marc Jongen, zwei Tage vor dem Artikel Gaulands, ganz unbescheiden einen Text, der als AfD-Manifest für Aufsehen erregen sollte, obwohl im Text selbst nur davon die Rede ist, dass Jongen einige „politische Grundsätze und Leitlinien“ formulieren möchte, die in einem „Manifest der Partei“ (!) „unbedingt beachtet werden“ sollten. Es handelt sich also kurioserweise um ein persönliches, von niemandem beauftragtes Manifest für ein zukünftiges Partei-Manifest. Der Titel lautet. „Das Märchen vom Gespenst der AfD“, und schon der erste Satz greift in die Vollen: „Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst der AfD.“ Das ist pfiffig. Da kommt ein relativ unbekannter Autor und hebt seine Ausführungen auf die Höhen des Kommunistischen Manifests, um der „historische Mission“ der AfD, gewissermaßen auf Weltniveau, das entsprechende rhetorische Kostüm zu verleihen. An sich erstaunlich, gilt doch die „historische Mission“ des Kommunismus dem bürgerlichen Alltagsverstand zufolge als gescheitert. Aber Jongen ist Optimist, versteht sich als Visionär.

Wir unterziehen den Text einer symptomatischen Lektüre. Der Text ist zwar rhetorisch, nicht aber in den Aussagen originell. Er enthält eine Reihe von Anspielungen auf Quellen, die nicht offengelegt werden. Sie führen den Leser zu Denkfiguren, die seit mehr als zwanzig Jahren von der jungkonservativen Neuen Rechten publizistisch verbreitet werden, allen voran von der Jungen Freiheit. Die JF gibt sich konservativ, okkupiert aber den Konservatismusbegriff aus dem Geiste der Konservativen Revolution bzw. in der Tradition des Weimarer Jungkonservatismus, theoretisch unterstützt, wenn auch nicht ohne Vorbehalte, vom Institut für Staatspolitik.

Ein zweites Augenmerk liegt auf der Logik der Argumentation. Wie denkt Jongen über Staat und Gesellschaft, wie sieht er die Rolle der AfD, von der er glaubt, sie verfolge eine „historische Mission“?

Die Präambel

In der Präambel des Textes, die dem Duktus des Kommunistischen Manifests (KM) folgt, schneidert Jongen zunächst die wuchtigen Sätze von Marx und Engels auf AfD-Belange zurecht. Den Kommunismus ersetzt er durch AfD, Europa durch Deutschland, den Vorwurf des Kommunismus durch den Vorwurf des Rechtspopulismus und listet dann die Feinde auf, gegen die sich sein Manifest richtet und von denen Marx und Engels zu ihrem Leidwesen noch nichts ahnen konnten: „Alle Mächte der Bundesrepublik haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dies Gespenst verbündet: die Kanzlerin und der Bundespräsident, Bischof Zollitsch und Claudia Roth, die Antifa und die Mainstream-Medien.“ Wortwörtliche Anleihen bei Marx/Engels (hier kursiv) liegen auch der Schlussfolgerung zugrunde: „Zweierlei geht aus dieser Tatsache hervor: Die AfD wird bereits von allen Mächten in Deutschland als eine Macht anerkannt.“ Und: „Es ist hohe Zeit, dass die Alternative für Deutschland ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der ganzen Welt offen darlegt […].“

Soweit die Präambel. Der weitere Aufbau des Textes folgt ebenfalls der Vorlage. Als erstes ein knappe Lageanalyse mit einer Beschreibung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse (vergleichbar dem Abschnitt „Bourgeoisie und Proletariat“ im KM), dann ein Abschnitt über die Rolle der AfD als „konservative Avantgarde“ (entspricht dem Abschnitt über die „Proletarier und Kommunisten“).

Zur Lage lässt sich Jongen einiges einfallen, was keineswegs originell ist, aber in eine Pointe mündet. Klassenkampf und Klassenantagonismus im Sinne des KM seien passé, das 20. Jahrhundert habe die damit verbundenen Ansichten „grandios Lügen gestraft“, es sei zu einer „Verbürgerlichung des Proletariats“ gekommen: „Eigenheime und Fernreisen für Arbeiter und Sekretärinnen – gegen dieses Argument des Kapitals war alle Klassenkampfrhetorik Schall und Rauch.“

Was eine Lüge ist, sollte einem Philosophen geläufig sein. Marx und Engels haben sich demnach nicht bloß geirrt, sondern sie haben, moralisch verwerflich, wissentlich die Unwahrheit gesagt, als sie 1847/48 ein geschichtsteleologisches Konstrukt entwickelten, das in der Tat so nicht mit dem tatsächlichen Geschichtsverlauf übereinstimmen sollte. Das hat die verschiedensten Gründe, die hier abzuhandeln, zu weit führen würde. Der Grund freilich, den Jongen ins Feld führt, entbehrt insofern nicht des Zynismus, als dass Hauserwerb und Italienurlaub kein „Argument des Kapitals“ sind, sondern Verausgabung von angesparten Bestandteilen des Lohnes, der Arbeitern und Arbeiterinnen (die es bei Jongen nicht gibt) zusteht und kein Geschenk des Kapitals ist. Auch Kredite für den Hausbau sind keine Geschenke, sondern Mittel, an denen Banken kräftig verdienen. Über die Lohnhöhe wird im Übrigen durchaus gekämpft, ebenso wie um Urlaub und dessen Länge jahrzehntelang in zum Teil blutigen Arbeitskämpfen gerungen wurde. Es gibt also nicht ein Ende des Kampfes, wohl einen Wandel der Formen, in denen er ausgetragen wird, z.B. durch dessen Verrechtlichung und Ritualisierung in den Tarifauseinandersetzungen. Dass dies von vielen Arbeitern und Arbeiterinnen nicht als Klassenkampf wahrgenommen wird, ist dann in der Tat Ausdruck einer „Verbürgerlichung“, aber nicht in dem Sinne, wie Jongen das meint. Vielmehr handelt es sich, wie Hermann Bausinger aufgezeigt hat, um ein diskursiv erzeugtes Interpretament, das wie eine Art „self-fulfilling prophecy“ wirkt – als eine „Ankündigung, die sich mindestens zum Teil aufgrund dieser Ankündigung erfüllt“, dort aber an Grenzen stößt, wo Subalternität wesentliche Bedingung der Reproduktion des Kapitalverhältnisses ist und bleibt. Das Einzelindividuum mag sich davon emanzipieren können, nicht aber die Arbeiterklasse als Ganzes im Rahmen des kapitalistischen Systems. Der Umstand, dass gerade die ‚gehobenen’ Mittelklassen, die sich selbst als Leistungsträger mystifizieren, ihr Bildungsprivileg mit Händen und Füßen verteidigen (z.B. über den Ansturm auf Privatschulen), während der Nachwuchs der Arbeiterklasse an den Hürden des hierarchischen Bildungssystems allzu oft scheitert, mag hier als Hinweis dienen.

Das führt aber zu der eigentlichen Pointe des Jongenschen Manifests. Denn während er auf der einen Seite die „Verbürgerlichung des Proletariats“ diagnostiziert, ohne dessen fortbestehende Subalternität zur Kenntnis zu nehmen, beklagt er auf der anderen Seite die „Proletarisierung der bürgerlichen Mittelschicht“. Eine absurde These, weil er erstens die sog. Mittelklassen als einheitlichen Block behandelt, d.h. den Abteilungsleiter bei der Sparkasse mit dem verbeamteten Streifenpolizisten in einen Topf wirft; und zum zweiten den Verlust von Hausbesitz und Italienurlaub zum generellen Schicksal der „bürgerlichen Mittelschicht“ stilisiert, während die verbürgerlichten ‚Proleten’ sich im eigenen Heim und an der Riviera vergnügen. Im Übrigen ist die These nicht neu, sondern wurde vor dem Hintergrund von Inflation und Weltwirtschaftskrise Ende der 20er Jahre von Soziologen diskutiert, damals – bezogen auf Teile der Mittelklassen – mit einer weitaus größeren Berechtigung. Man denke beispielsweise an Siegfried Kracauer, an die Debatten in der Monatszeitschrift Die Arbeit, ((Die Zeitschrift ist im Internet zugänglich. Möglicherweise hat sich Jongen hier bedient – vgl. Max Victor: Verbürgerlichung des Proletariats und Proletarisierung des Mittelstandes. Eine Analyse der Einkommensumschichtung nach dem Kriege, in: Die Arbeit 8 (1931), 17-31.)) dem theoretischen Organ des ADGB, oder in der jungkonservativen Zeitschrift Die Tat, auf die wir später noch zu sprechen kommen werden. Tatsächlich aber will Jongen auf etwas Bestimmtes hinaus, das an seinen Herrn und Meister Peter Sloterdijk erinnert. Schuld ist nämlich nicht der ökonomische Konkurrenzkampf, den Marx/Engels im KM ansprechen, sondern Schuld sind der Staat und die Politik.

Sloterdijk über die „Staats-Kleptokratie“

Sloterdijk begreift die Kritik der politischen Ökonomie (zum Folgenden Sloterdijk 2009), ausgehend von Rousseau über Proudhon bis hin zur Marxschen „klug konfusen Werttheorie“, als eine „Lehre von der Kleptokratie der Wohlhabenden“. Eigentum sei Diebstahl, so Proudhon, und Marx begründe die Klassenverhältnisse auf einer Lehre vom „Mehrwertdiebstahl“. Die Bourgeoisie sei nichts anderes als ein „kleptokratisches Kollektiv“ und die Revolution ein „sittlich berechtigter Gegendiebstahl“.

Als Gegenmodell zur Kritik der politischen Ökonomie bietet Sloterdijk eine obskure Kredittheorie an, die auf den ehemaligen Bremer Professor Gunnar Heinsohn zurückgeht. „Das Movens der modernen Wirtschaftsweise“ verberge sich „in der antagonistischen Liaison von Gläubigern und Schuldnern. Es ist die Sorge um die Rückzahlung von Krediten, die das Wirtschaften von Anfang an vorantreibt“. Das Profitstreben sei „ein Epiphänomen des Schuldendienstes, und die faustische Unruhe des ewig getriebenen Unternehmers ist der psychische Reflex des Zinsenstresses.“ Also: die leidgeplagten Unternehmer müssen Gewinne machen, um ihre Kredite zurückzahlen zu können. Gewinne sind nichts anderes als der Überschuss, der übrig bleibt, wenn die Kredite zurückgezahlt worden sind. Die Löhne würden auch mit geliehenem Geld bezahlt – „und nur bei Erfolg auch aus den Gewinnen“.

Diese Theorie erklärt nicht die Herkunft der Gewinne, darauf verwendet Marx ziemlich viel Gehirnschmalz, um zu begründen, warum sie gerade nicht aus einem Diebstahl resultieren, sondern aus der Eigenschaft der Ware Arbeitskraft, mehr Wert zu produzieren als sie selber Wert hat. Zweitens ergibt sich aus dieser Theorie der schöne Umstand, dass „Kapital und Arbeit auf derselben Seite stehen“, weil ja beide dasselbe Interesse haben müssen, die Gläubiger (sprich: die Banken) zu bedienen. Drittens – und das ist der Punkt, auf den Sloterdijk eigentlich hinaus will – verändert sich damit auch der Blick auf den Staat, der keineswegs ein „Syndikat zum Schutz der allzu bekannten ‚herrschenden Interessen’“ sei. Im Gegenteil: die „größte Nehmermacht der modernen Welt“ sei seit dem 20. Jahrhunderte der Steuer- und Schuldenstaat, der sich zu einem „geldsaugenden und geldspeienden Ungeheuer“ entwickelt habe. Der Staat bediene sie dabei insbesondere des Instruments der progressiven Einkommenssteuer, deren Opfer die „Leistungsträger“ seien.

Sloterdijk entwickelt hier eine eigenartige „Klassentheorie“. Ohne auf solche Kleinigkeiten wie die verschiedenen Steuerarten, die diversen Abgaben und Gebühren einzugehen oder sich mit der Frage der Vermögensverteilung zu befassen, teilt er die Bevölkerung in zwei „Klassen“ ein: den „produktiven“ Teil, der dadurch definiert ist, dass er Einkommenssteuern zahlt, und den „unproduktiven“ Teil, der vermittelt über die sozialstaatlichen Leistungen (über andere Ausgaben des Staates will Sloterdijk nicht reden) „auf Kosten der Produktiven“ lebt, mag er nun arbeiten oder nicht. Sloterdijk nennt das „Ausbeutungsumkehrung“ um des lieben sozialen Friedens willen – und landet damit seinerseits bei einer Theorie des Diebstahls, die er zuvor den Frühsozialisten und Marx angekreidet hatte. Der größte Dieb aber sind der kleptokratische Staat und ein System, das er nach Vorbild der US-amerikanischen Tea-Party „Semi-Sozialismus auf eigentumswirtschaftlicher Grundlage“ nennt.

Was ist für Sloterdijk die Alternative? Der gutdotierte Professor bedauert, dass es noch keinen „antifiskalischen Bürgerkrieg“ gibt, das wäre in seinen Augen die „plausibelste Reaktion“. Steuerflucht und Steuervermeidung hielten sich „in mäßigen Grenzen“. Sloterdijk schlägt einen anderen Weg vor, der ihm als Philosophen eher zusagt. Er plädiert für eine „sozialpsychologische Neuerfindung der ‚Gesellschaft’“ durch eine veränderte Haltung der Leistungsträger gegenüber dem Staat, die sog. „thymotische Umwälzung“. Sie beruhe auf Regungen der menschlichen Seele, so wird Sloterdijk in seinem „Manifest“ weiter ausführen, die im Gegensatz zu einem Affekt wie Gier durch Stolz, Ehre, Großzügigkeit, Haben und Schenken ausgezeichnet seien. Eine „Stolzkultur“ sei gefragt, in der es dem es dem Einzelnen gewissermaßen eine Freude sei, dem Staat etwas zu geben. Die Zwangssteuern würden dadurch in (freiwillige) „Geschenke an die Allgemeinheit“ ersetzt. Die „Revolution der gebenden Hand“, lautet denn auch der Titel seines Essays.

Jongen: Die bürgerliche Mitte als revolutionäre Klasse

Jongen folgt seinem Mentor. Wie Sloterdijk schlägt er die Arbeiterklasse auf die die sie beschäftigende Kapitalseite und wie Sloterdijk sieht er die „steuerzahlende Bevölkerung“, mystifiziert als „bürgerliche Mitte“, in den Fängen von Staat und Banken, nimmt zudem die EU ins Visier.

Die Vorwürfe richten sich im Wesentlichen gegen die finanzielle Unterstützung von Staaten durch das ESM-Programm („institutionalisierte Insolvenzverschleppung“) und die EZB („Bad-Bank für Anleihen von Pleitestaaten“), gegen die Rettung der Banken mit „einem gigantischen Umwandlungsprogramm privater Bankschulden in öffentliche Schulden“ und gegen die „Parlamente und Regierungen Europas“, die diese Maßnahmen abgesegnet hätten. Die Steuerzahler seien „in einem beispiellosen Akt der Enteignung […] für die Fehler einer teils irregeleiteten, teils kriminellen Spekulantenkaste in Haftung genommen worden“. Die Politik sei strukturell korrupt, der Europäische Rat habe „unter Führung Deutschlands“ die Marktgesetze suspendiert. Insgesamt sei durch die Maßnahmen eine „neue ökonomische Ordnung“ entstanden, deren Charakter Jongen, wie in rechten Kreise üblich, durch semantische Anklänge an das Sowjetsystem als quasi-totalitär denunziert („Politbüro der EU“, „Rache der Planwirtschaft“, „Bankensozialismus“, „negatives ‚Volkseigentum’“, „winzige Finanznomenklatura“).

Der damit konstruierte Gegensatz zwischen Staat, Finanzkapital und EU auf der einen und den steuerzahlenden Bürgern auf der anderen Seite bildet den Hintergrund, vor dem dann Jongen seine Alternative ins Spiel bringt. Hatte Sloterdijk in seinem Manifest von einem „Aufbruch der Leistungsträger“ gesprochen, bemüht Jongen eine doppelte Anspielung: Zum einen erklärt er, in Anlehnung an das KM und zugleich ihm widersprechend, die „bürgerliche Mitte“ zur „eigentlich revolutionäre(n) Klasse“; zum anderen verweist genau dieser Widerspruch auf das Vorbild des bereits erwähnten Tat-Kreises.

Der Tat-Kreis, im Kern eine Redaktionsgemeinschaft um die Zeitschrift Die Tat, war in der Auflösungsphase der Weimarer Republik einer der wichtigsten Intellektuellenzirkel der Konservativen Revolution. Armin Mohler ordnet ihn dem jungkonservativen Flügel der Konservativen Revolution zu. Die Zeitschrift war mit ihrer Auflage von über 30.000 Exemplaren (1932) einer der einflussreichsten Organe auf die nationalistische Intelligenz. Die wichtigsten Autoren waren Hans Zehrer (seit Okt. 29 Redaktionsleiter), Ferdinand Fried (i.e. Friedrich Zimmermann), Ernst Wilhelm Eschmann, Giselher Wirsing und Horst Grueneberg.

Der Tat-Kreis versuchte, das Links-Rechts-Modell der politischen Symbolsprache zu überwinden, linke und rechte Positionen zu synthetisieren und den nationalen Sozialismus für die zukünftige Volksgemeinschaft zu propagieren (was bis 1933 nicht bedeutete, die NSDAP zu unterstützen). Als sozialen Träger für dieses Konzept avisierte man die durch Proletarisierung bedrohten Mittelschichten und speziell die Intelligenz. Zehrer sprach von der Krise der „bürgerlichen Mitte“ und forderte den „Zusammenschluss der Mitte“. Horst Grueneberg empfahl Hans Freyer, seine Programmschrift „Revolution von rechts“ doch besser in „Revolution der Mitte“ umzubenennen. „Denn die Mitte ist die Trägerin der echten revolutionären Parole: ‚Wir sind nichts, und wir müssten alles sein.’“

Soweit der Tat-Kreis. Natürlich: Historische Rückbezüge hinken, das Planwirtschaftliche Wirtschaftsprogramm etwa des Tat-Kreises wäre sicherlich nicht nach Geschmack des Steuerrebells Jongen. Aber die Mystifizierung der „bürgerlichen Mitte“ und der Zuspruch revolutionärer Qualitäten finden sich damals wie heute.

Die AfD als „konservative Avantgarde“

Der letzte Abschnitt des Manifests ist der AfD, ihrer „historischen Mission“ gewidmet. Wir erinnern uns: Marx und Engels hatten die Rolle der Kommunisten nicht als der einer „besondere[n] Partei“ definiert, sondern sie als den „entschiedenste[n], immer weiter treibende[n] Teil der Arbeiterparteien aller Länder“ bezeichnet. Ihr Zweck sei die „Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisieherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat“. Jongen sieht dagegen die AfD, vergleichsweise konventionell, durchaus als Partei, deren Existenz sich einem Bewusstwerdungsprozess der „bürgerlichen Mitte“ verdanke. Damit habe der Widerstand begonnen.

Offen bekennt Jongen, dass das Ziel nicht die „klassenlose Gesellschaft“ sei, sondern die „Wiederherstellung der sozialen Marktwirtschaft und der Souveränität des Volkes gegenüber dem Lobbyismus“, im Einzelnen die Rückkehr zu den Maastrichter Verträgen, „zu den im Grundgesetz formulierten Prinzipien“ (wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie) und „wenn nötig, zur nationalen Währung“. Die AfD verfolge also zunächst restaurative Ziele, dürfe dabei aber nicht stehenbleiben. Eine „positive Zukunftsvision für Deutschland und für Europa“ sei notwendig, um „dauerhaft“ erfolgreich zu sein. Jongen schlägt folgende fünf Bausteine vor, mit der sich die AfD als „konservative Avantgarde“ profilieren könne:

1. Im Anschluss an das KM charakterisiert Jongen die Moderne als eine Zeit, in der alles „Ständische und Stehende verdampft“ (KM). Der Entheiligungsthese, mit der Marx und Engels bereits Max Webers „Entzauberung der Welt“ vorwegnehmen, wird also zunächst zugestimmt. Während Marx und Engels aber diesem Zug der „Bourgeoisepoche“ durchaus etwas Positives abgewinnen können, insofern die Menschen nunmehr gezwungen seien, „ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen, sucht Jongen nach Haltepunkten („Bewahrenswertes“) im „Amoklauf der Moderne“, die der „ewige[n] Unsicherheit und Bewegung“ (KM) standhalten könnten. Wenn aber das „Zerstörungswerk“ der Moderne bereits vollendet sei, müsse es darum gehen, „tradierungswürdige Zustände“ neu zu schaffen.

Jongen bedient sich hier einer Denkfigur, die nicht auf das KM, sondern auf einen anderen ‚Revolutionär’ zurückgeht, nämlich auf den ‚konservativen Revolutionär’ Moeller van den Bruck. Diesem Vordenker des Weimarer Jungkonservatismus und dessen Werk „Das dritte Reich“ entleiht er sinngemäß die Sentenz, wonach konservativ sei, „Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt“. Welche „Dinge“ aber sind erhaltenswert, tradierungswürdig? Jongen sieht vor allem zwei „essenzielle Bausteine der Kulturtradierung“, nämlich die Landessprache und die Familie. Paradoxerweise hält er diese Bausteine für unverzichtbar für den „Wirtschaftsstandort Deutschland“, appelliert also an den nationalökonomischen Sachverstand, für den das Bestehen in der Weltmarktkonkurrenz der Maßstab aller Dinge ist und dessen Beitrag zum „Amoklauf der Moderne“ ihm offensichtlich entgangen ist.

2. Ein Zweites liegt Jongen sehr am Herzen: die „bürgerliche Liberalität“. Die AfD möge sich doch bitte für das „freie Denken und das freie Leben“ einsetzen. Kosmopolitismus und freie Liebe sind damit wohl nicht gemeint, untergraben sie doch die von Jongen beschworene Kulturtradition. Vielmehr bewegt sich das Plädoyer im Rahmen seiner Apologie der bürgerlichen Mitte, und dazu gehört nun mal die obligatorische Kritik an Political Correctness, die durch „dreiste Ideologen in der Presse und in den Ministerien“ propagiert werde. Als Beispiel wird die „Gleichstellungs“- Politik erwähnt, die Jongen, ganz im Sinne seiner Political Correctness, mit dem NS-Begriff „Gleichschaltung“ in einen vermeintlich naheliegenden Zusammenhang bringt. Als Pointe schließt Jongen an, dass „liberal zu sein“, heute bedeute, „konservativ zu sein“, „[z]uweilen sogar reaktionär“.

3. Das Gesellschaftsmodell der „bürgerlichen Mitte“, das Jongen für Deutschland als Vision vorschwebt, beruht auf zwei einfachen Prinzipien, die vor ihm bereits Sloterdijk patentiert hatte: „echter Bürgersinn“ (Sloterdijks „Stolzkultur“) und Meritokratie. Voraussetzung sei, dass die „produktive, kulturtragende Schicht sich aus dem Zangengriff von ausufernder Sozialindustrie sowie asozialen Finanzeliten oben“ befreie. Gegen die Herrschaft der Unproduktiven und Asozialen stellt Jongen das Modell des Arbeitseigentums. Eigentum beruht demnach auf eigenständiger Arbeit und den dafür notwendigen Erwerb von Bildungszertifikaten. Die individuellen Fähigkeiten und Leistungen entscheiden über die Positionierung im sozialen Raum und rechtfertigen Ungleichheiten in Form von Bildungstiteln, beruflichem Status und Einkommen bzw. Vermögen. Das ist das meritokratische Prinzip, das, seine perfekte Realisierung unterstellt, das Ende des „Wirtschaftsstandorts Deutschlands“ bedeuten würde. Denn der funktioniert immer noch nach kapitalistischen Prinzipien, die Jongen ja nicht in Frage stellen möchte. Kapitalismus basiert weder auf Arbeitseigentum (setzt vielmehr die ökonomisch unselbstständige Klasse der Lohnarbeiter voraus), noch kann der Kapitalismus auf den unproduktiven Finanzsektor verzichten, unabhängig davon, ob einem die Boni der Banker gefallen oder nicht. Der Utopismus, mit dem hier Jongen kapitalistische Gesellschaft betrachtet und dessen Fundament, das darf nicht vergessen werden, tagtäglich in den Institutionen des bürgerlichen Bildungssystems reproduziert wird, ist die Kehrseite seiner Mystifizierung der „bürgerlichen Mitte“.

4. Schlussendlich wendet sich der Visionär Jongen der Nation und der Einstellung der Deutschen zur Nation zu. Das hier einiges im Argen zu liegen scheint, verdankt Jongen den jahrzehntelangen Debatten über die nationale Identität der Deutschen. Und hier insbesondere dem Wirken der Neuen Rechten, die in dem mangelnden Nationalbewusstsein ein Zeichen der Dekadenz zu erkennen glaubte. In den 90erJahren reüssierte der Jungkonservatismus mit dem Sammelband „Die selbstbewusste Nation“ (hg. von Heimo Schwilk und Ulrich Schacht). Seitdem reißt die Klage über das, wie Jongen es nennt, „verdruckste schlechte Gewissen“, verursacht durch den sog. Schuldkult, nicht ab. Jongen ist also keineswegs originell, wenn seine Vision „einem gesundeten Selbstbewusstsein“ der Deutschen gilt und diesem gleich zwei Vorzüge zuweist: Zum einen ermögliche es eine gewisse „Weltoffenheit“ und eine „echte[ ] Wertschätzung des Fremden, womit er, nüchtern betrachtet, den nationalökonomischen Nutzen ins Auge fasst, den „Zuwanderer“ dem „Wirtschaftsstandort Deutschland“ bringen könnten, vorausgesetzt, sie seien „zur Integration willens und fähig“. Diese sarrazineske Formulierung ist mittlerweile Standard im jungkonservativen Lager. Dieter Stein, Chefredakteur der Jungen Freiheit, mühte sich dafür eigens um einen „modernisierten Volkstumsbegriff“, um nationalökonomische Nützlichkeitserwägungen mit dem völkischen Nationalismus in Einklang zu bringen.

Der zweite Vorteil, den Jongen sieht, liegt darin, dass ein selbstbewusstes Deutschland den „europäischen Nachbarn“ gegenüber anders auftreten könne. Es brauche seine ohnehin vorhandene Führungsrolle nicht dazu zu missbrauchen, „seine tatsächlichen und vermeintlichen Tugenden anderen souveränen Staaten aufzuoktroyieren“. Diese verklausulierte Anspielung auf das deutsche Krisenmanagement in der Euro-Krise ist nur scheinbar kritisch, weil Jongen erwartet, dass eine „selbstbewusste“ deutsche Führungsrolle auch gegenüber souveränen Staaten in Europa von diesen respektiert werde.

5. Das Stichwort Souveränität führt zum letzten Baustein: Die Europäische Union – „Zentralmonster der strukturellen Korruption im politischen System Europas“ – müsse „einer tiefgreifenden Reform unterzogen werden“. Wie diese Reform im Einzelnen aussehen soll, wird, sieht man einmal von den Invektiven gegen den Euro ab, nicht genauer aufgeschlüsselt. Oberste Priorität hat aber die Verhinderung eines europäischen Bundesstaates. Und mit Blick auf die Europawahlen schreibt Jongen, dass „die AfD ihre Erweiterung folgerichtig in einer ‚Alternative für Europa’ finden.“

Fazit: utopisch und reaktionär zugleich

Jongen betrachtet das gesellschaftliche und politische Geschehen vom Standpunkt eines bildungsbürgerlichen Philosophenhirns, ohne freilich, wie andere Geistesgrößen vor ihm, die jungkonservativen Quellen seines Elaborats offenzulegen. Als selbsternannter Repräsentant einer fiktiven „bürgerlichen Mitte“ verwickelt er sich in Widersprüche, die seiner bornierten Existenzweise geschuldet sind. Marx und Engels hatten dafür nur ein müdes Lächeln übrig. Ihr damaliges Urteil über die kleinbürgerlichen Sozialisten lässt sich sinngemäß auch auf Jongen übertragen. Der Apologet eines meritokratischen Gesellschaftsmodells, zentriert um die Idee des Arbeitseigentums, will „entweder die alten Produktions- und Verkehrsmittel wiederherstellen und mit ihnen die alten Eigentumsverhältnisse und die alte Gesellschaft, oder er will die modernen Produktions- und Verkehrsmittel in den Rahmen der Eigentumsverhältnisse, die von ihnen gesprengt wurden, gesprengt werden mussten, gewaltsam wieder einsperren. In beiden Fällen ist er reaktionär und utopistisch zugleich.“ Wobei anzumerken bleibt, dass Jongen auch noch stolz darauf ist, wenn er sich zugleich als Visionär und Reaktionär präsentiert. Beides Mal geriert er sich als Rebell.

Folgt man Jongen und betrachtet man die ideologische Phraseologie mit nüchternen Augen, so will die AfD ein renationalisiertes kapitalistisches Gesellschaftssystem in Deutschland, das in der Weltmarktkonkurrenz gleichwohl bestehen soll, nur nicht auf Kosten der „bürgerlichen Mittelschicht“, deren steuerlichen Beitrag sie begrenzt sehen möchte. Der nationale Wettbewerbsstaat, an dem man nichts auszusetzen hat, soll sich stattdessen die finanziellen Mittel, die es bedarf, um die nationale Ökonomie weltweit in Stellung zu bringen, bei den „unproduktiven Schichten“ holen durch den Abbau der „ausufernden Sozialindustrie“, was er sowieso schon tut und was, nebenbei gesagt, durchaus auch erhebliche Teil der Mittelklassen trifft. Sie schimpft auf die „asozialen Finanzeliten“, ohne die Funktion der Banken für das kapitalistische System infrage zu stellen. Sie schimpft auf das „Zentralmonster“ EU, will aber die Vorteile des europäischen Binnenmarktes erhalten wissen, wohl in der Erwartung, dass die Dominanz der Exportnation Deutschland noch uneingeschränkter als bislang zur Geltung kommen könnte. Die Kritik am „Amoklauf der Moderne“ reduziert sich auf den Wunsch, die heilige Dreifaltigkeit von Familie, Besitz und Bildung möge auch im 21. Jahrhundert als symbolisches Kapital des Bürgertums erhalten bleiben.

Jongen sieht die AfD als „konservative Avantgarde“, eine Formulierung, die dem jungkonservativen Selbstverständnis entspricht, das seit Jahren von Seiten des Instituts füt Staatspolitik propagiert wird – dort freilich mit einem Unterton versehen, der sich gegen Parteien richtet und eine elitäre intellektuelle Widerstandsbewegung meint.. Die Junge Freiheit ist da pragmatischer und versteht sich mittlerweile als ein publizistisches Forum für die AfD.

 

Literaturangaben

Rehmann, Jan/Wagner, Thomas (Hg.) 2010: Angriff der Leistungsträger. Das Buch zur Sloterdijk-Debatte, Hamburg: Argument Verlag.

Sloterdijk, Peter 2009: Die Revolution der gebenden Hand, in: FAZ v. 13. Juni 2009 (http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/kapitalismus/die-zukunft-des-kapitalismus-8-die-revolution-der-gebenden-hand-1812362.html)