Dynamische Grenzen

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Migrantische Strategien am Rande von Europa. Von Gerda Heck. Erschienen in DISS-Journal 16 (2007) ((Vgl. auch das Buch von Gerda Heck: ‚Illegale Einwanderung‘. Eine umkämpfte Konstruktion in Deutschland und den USA, edition DISS Band 17, Münster: Unrast))

 „In Tanger verwandelt sich das Café Hafa im Winter in ein Observatorium der Träume und ihrer Folgen,“ schreibt der marokkanisch-französische Autor Tahar Ben Jelloun zu Beginn seines Romans „Verlassen“. Vom Café Hafa aus kann man mit Einbruch der Dunkelheit die Lichter des auf der anderen Seite der Meerenge liegenden Tarifa in Spanien sehen. Nur einen Katzensprung entfernt scheint an diesem Ort Europa von Afrika zu sein; gleichzeitig unendlich weit. 14 Kilometer trennen Afrika und Europa hier voneinander. Mit seiner besonderen geografischen Lage ist Marokko ein politisches und wirtschaftliches Bindeglied zwischen Afrika und Europa. Das traditionelle Auswanderungsland hat sich in den vergangenen 15 Jahren zu einem wichtigen Transitland für Migrantinnen auf dem Weg nach Europa entwickelt.

In der öffentlichen Diskussion über die Migration von Afrika nach Europa werden die Migrantinnen meist als Opfer oder Bedrohung porträtiert. Fast allabendlich im Fernsehen, in Zeitungen oder Zeitschriften werden Bilder von überfüllten Flüchtlingsbooten, die an europäischen Küsten stranden, gezeigt. In diesem Beitrag möchte ich einen Perspektivwechsel vorschlagen und einen Blick auf die Strategien der Transmigrantinnen in Marokko werfen: Wie organisieren sie sich und welche Wege suchen sie, um ihren Traum von der Migration nach Europa zu verwirklichen, trotz einer sich ständig ändernden und verschärfenden Migrationspolitik und Grenzaufrüstung? ((Ich beziehe mich in diesem Text auf Interviews und Gespräche, die ich mit Menschenrechtsaktivistinnen und Transitmigrantinnen auf diversen Recherchereisen im Herbst 2006, im Januar und im September 2007 zusammen mit Franziska Freilinghaus, Petra Barz und Miriam Edding durchgeführt habe. Die Namen der Migrantinnen sind auf ihren Wunsch hin geändert.))

Transit

Jährlich durchqueren mehrere tausend subsahariische Migrantinnen Marokko auf ihrem Weg nach Europa. Sie kommen aus Sierra Leone, Liberia und der Elfenbeinküste; seit der Jahrtausendwende unter anderem auch verstärkt aus Nigeria, Ghana, Sudan und Kamerun. In jüngster Zeit passieren auch Migrantinnen aus asiatischen Ländern wie Indien, Pakistan oder Bangladesh Marokko auf ihrem Weg nach Europa. Offiziellen Angaben zufolge leben derzeit zehntausend Migrantinnen aus der Subsahara im Land. Viele von ihnen haben bereits eine von mehreren Monaten bis zu ein bis zwei Jahren andauernde Reise hinter sich, bevor sie Marokko erreichen. Auf ihren Reisen müssen sie regelmäßig Aufenthalte einlegen um das Geld für die nächste Etappe zu verdienen, oder um auf Geldsendungen von Verwandten, aus dem Heimatland oder aus Europa, zu warten. Auch wenn die meisten Migrantinnen Marokko als ein Transitland auf ihrem Weg nach Europa ansehen, wächst die Zahl derer, die sich – da ihre Weiterreise nicht gelingt – für mehrere Jahre in Marokko aufhalten. Viele von ihnen leben in den Städten Casablanca, Rabat und Tanger.

Abwehr „illegaler“ Migration

Seit Mitte der 1990er Jahre gibt es regelmäßig Verhandlungen und Abkommen über die Abwehr von „illegaler“ Migration zwischen der Europäischen Union und Marokko, die in den ersten Jahren jedoch eher folgenlos in punkto Transitmigration blieben. Seit dem die Europäische Union die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Marokko intensiviert hat, geht die marokkanische Polizei allerdings stärker gegen Migrantinnen vor. Im November 2003 wurde ein Gesetz über Einreise und Aufenthalt von Ausländerinnen auf marokkanischem Territorium erlassen, das auch die Strafverfolgung von Personen vorsieht, die Ausländerinnen ohne Aufenthaltsgenehmigung bei sich aufnehmen oder ihnen bei der Durchreise behilflich sind. Seit 2005 werden von der Polizei aufgegriffene afrikanische Migrantinnen regelmäßig ins algerische Grenzgebiet – ins Niemandsland unweit der Grenzstadt Oujda deportiert. Die Mehrzahl der Abgeschobenen macht sich im Anschluss auf den Weg zurück: unter Umständen bedeutet das einen Fußmarsch von über sechshundert Kilometern. Viele haben den Weg bereits mehrere Male auf sich genommen. Dies erzählt uns auch Jeffrey, ein Nigerianer, der in Tanger seit mehr als zwei Jahren auf eine Reisemöglichkeit nach Europa wartet. Im August letzten Jahres verabschiedete eine europäisch-afrikanische Migrationskonferenz in Rabat einen umfassenden Aktionsplan gegen „illegale“ Migration von Afrika nach Europa. In diesem Zusammenhang garantierte die EU Marokko weitere 67 Millionen Euro für den Kampf gegen Einwandererinnen. Mit dem Geld sollen die Grenzkontrollen verschärft sowie Polizei und Justiz besser ausgestattet werden. ((EU zahlt 67 Millionen. In: TAZ vom  25.08.2006))

Veränderte Routen und Strategien

Noch bis vor zwei Jahren strebten die meisten Transmigrantinnen die Städte und Orte an der Nordküste Marokkos an. Entweder um von hier aus auf einer „Patera“ über die Meerenge von Gibraltar aufs spanische Festland überzusetzen, oder um in selbst errichteten Camps in den Wäldern vor den spanischen Exklaven Melilla oder Ceuta den Sprung über den Zaun auf den spanischen Boden zu planen. Doch nachdem die spanischen Behörden seit Sommer 2002 das radargestützte Grenzüberwachungssystem SIVE (Integriertes System zur Außenüberwachung) an der Küste Andalusiens kontinuerlich ausgebaut haben, ist die Überfahrt auf dem Seeweg schwieriger und vor allem kostenintensiver geworden. ((EU: Reaktionen auf das Flüchtlingsdrama in Ceuta / Melilla. In: Migration und Bevölkerung. Newsletter. Ausgabe 9. November 2005. Online unter: migrationinfo.de)) Seitdem seit Herbst 2005 die Zäune der beiden Exklaven militärisch aufgerüstet worden sind, ist auch der Sprung über den Zaun fast unmöglich geworden. ((EU: Reaktionen auf das Flüchtlingsdrama in Ceuta / Melilla. In: Migration und Bevölkerung. Newsletter. Ausgabe 9. November 2005. Online unter: migrationinfo.de)) Eine „Schleusung“ mit gefälschten Papieren in eine der Exklaven ist teuer: 1.800 Euro pro Person. ((Interview mit der Menschenrechtsaktivistin Paula Domingo, September 2006 in Ceuta (Spanien).)) Auch sind die Camps der Migrantinnen auf marokkanischer Seite vom marokkanischen Militär zerstört worden. Seitdem verlagerten viele ihre Reiserouten nach Süden und steuern nun im „Cayuco“, wie die ausgedienten Fischerboote genannt werden, von den Stränden der Westsahara, Mauretaniens und des Senegals aus die Kanarischen Inseln an. ((Interview mit Jean Marie, Rabat, Januar 2007 in Rabat (Marokko).)) Dennoch wurde der Weg über Marokko nie aufgegeben. ((Interview mit Jean Marie, Rabat, Januar 2007 in Rabat (Marokko).))

Ort des Transits

Die an der Grenze zu Algerien gelegene Universitätsstadt Oujda ist seit 1999 Durchgangsstation für Migrantinnen aus der Subsahara, die zuvor meist die algerische Wüste durchquert haben. In Oujda angekommen gingen die Migrantinnen in der Regel zur dortigen Universität und warteten hier auf eine Möglichkeit zur Weiterreise. Der Campus war als Zwischenstation bei den Reisenden bekannt. In der Regel campierten fünfzig bis hundert Migrantinnen auf dem Gelände. Seit Beginn diesen Jahres hat sich die Situation in der Grenzstadt allerdings zugespitzt. Seither wurden mehrmals in Großrazzien in marokkanischen Städten mehrere hundert Frauen, Kinder und Männer festgenommen, an die algerische Grenze deportiert und vom marokkanischen Militär gezwungen diese zu überqueren. Im Anschluss daran wanderten die Migrantinnen meist entlang der stillgelegten Bahnstrecke zurück über die Gren- ze nach Oujda. Aufgrund der verschärften Kontrollen von Bussen und Bahnen, die die Stadt verlassen, wurde die Rückkehr der Migrantinnen beispielsweise nach Rabat oder Laayoune extrem erschwert. Von Januar bis Juli diesen Jahres existierte auf dem Gelände der Universität von Oujda das größte selbstorganisierte Migrantinnen- Camp Marokkos. Zeitweise lebten dort um die siebenhundert Migrantinnen. Seit auch dieses Camp von Polizei und Militär Ende Juli geräumt und zerstört wurde, halten sich die Migrantinnen in kleinen Gruppen in Minicamps, so genannten Tranquilos, in den Außenbezirken der Stadt und in den Wäldern nahe der Grenze auf. ((Die lokale NGO ABCDS (Association Beni Znassen pour la Culture, le Développemment et la Solidarité) schätzt die Zahl der Migrantinnen, die sich derzeit in Oujda aufhalten auf 1.500. (Interview mit Hicham Baracka und Mohammaed Talbi von der NGO ABCDS, September 2007 in Oujda (Marokko).)) Manche dieser Tranquilos sind mobil, das heißt sie können innerhalb von Minuten ab- und anderswo wieder aufgebaut werden um so der permanenten Verfolgung durch Behörden und Militär zu entgehen. Dies erzählt uns der Liberianer Moses Janneh. ((Interview Moses Janneh, September 2007 in Oujda (Marokko).)) Fast täglich suchen die marokkanischen Behörden ein Tranquilo in der Region auf, zerstören es und deportieren alle Bewohnerinnen über die algerische Grenze. Die Abschiebestrategie der Polizei erscheint sinnlos, denn die Abtransportierten tauchen nach ein paar Tagen wieder in Oujda auf um von dort aus erneut zu versuchen, die Küsten oder die Großstädte Rabat und Casablanca zu erreichen. Viele wurden, wie Moses Janneh, schon mehrere Male nach Oujda zurück gebracht. Seit vier Jahren lebt er bereits in Marokko. Drei Mal hat er versucht, in die spanische Exklave Melilla zu kommen, drei Mal endete sein Versuch in der Grenzregion zwischen Marokko und Algerien. „Aber ich werde die Hoffnung nie verlieren, ich werde es wieder versuchen bis Gott mir Migration vielleicht hilft, nach Europa zu kommen.“

Leben im Transit

Auch Jean-Marie hat schon verschiedene Migrationsversuche und Routen hinter sich. Der Kameruner hat sich vor ungefähr drei Jahren auf den Weg nach Europa gemacht. Die ersten 18 Monate in Marokko verbrachte er im Camp Gourougou, in den Wäldern vor Melilla. Im Anschluss daran versuchte er sein Glück in den Wäldern von Ben Younech vor Ceuta und blieb dort fünf Monate. Er ist zufällig nach Marokko gekommen. Eigentlich war sein Vorhaben über Libyen den Norden zu erreichen. Da er die libysche Gesellschaft als zu strikt empfand, wanderte er durch Algerien nach Marokko. Die drei, die mit ihm unterwegs waren, sind in Europa angekommen. Der Kontakt wird über das Mobiltelefon gehalten, Informationen werden ausgetauscht und man informiert sich gegenseitig über das Wohlbefinden.

Momentan lebt er in Rabat und arbeitet dort für eine kleine NGO. Deshalb hat er es nach eigenen Aussagen gerade „nicht so eilig“ nach Europa zu migrieren. ((Interview mit Jean Marie, Januar 2007 in Rabat (Marokko).)) Im Gespräch weist er uns auf die Wichtigkeit des Mobiltelefons für Migrantinnen hin. Mit dem Mobiltelefon wird der Kontakt zur Familie, zu Mitreisenden und für die Reise wichtigen Kontaktpersonen gehalten. Ein enormer Wissenstransfer findet über das Handy statt. Reisende erfahren sowohl die neusten Möglichkeiten und auch Preise für die Weiterreise, Adressen von Freunden und Bekannten sowie Anlaufstellen in ihren Zielorten. Migrantinnen organisieren sich selbst und andere auf ihrer Reise. Sie errichten Strukturen und Netzwerke geben Wissen über Hilfsmittel, Werkzeuge, Wohnungen, bereits länger bestehende Communities, etc. weiter. Meist wissen die Migrantinnen bereits vor Ankunft an einem Ort um Kontakte und Wohnmöglichkeiten. Grenzen sind nicht statisch, sie sind dynamisch. Mit veränderten Grenzsituationen gibt es einen flexiblen Umgang. Auf die jeweilige Aufrüstung und Verstärkung der Grenzen wird mit anderen Wegen und Strategien reagiert. Der Traum von Europa, der Wunsch nach einem besseren Leben, durchläuft und durchkreuzt somit das Migrationsregime. Neue Fluchtrouten werden gefunden, neue Wege begangen, manchmal auch um den Preis des eigenen Lebens. Dennoch möchte ich diesen Beitrag mit einen Zitat von Jean- Marie beenden: „Das Spiel funktioniert wie dieses Katz-und-Maus- Spiel. Kennt ihr das? Die Katze jagt die Maus und die Maus ist immer schneller. Und so ist es auch mit uns. Machen sie den einen Weg zu, nehmen wir eben einen anderen. Migration gab es schon immer, seit es Menschen gibt und warum sollte das jetzt aufhören? In Afrika ändert sich momentan nichts. Also werden wir von unseren Familien losgeschickt auf die Reise, die uns so verändert, dass wir nicht mehr zurück können. Ich bin durch Zufall hierher gekommen. Und der Trip war eine meiner besten Erfahrungen. Es war die beste Reise meines Lebens!“