„Diskurslinguistik“ ohne Diskurstheorie

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Die Rezeption Michel Foucaults in der Sprachwissenschaft. Von Siegfried Jäger. Erschienen in DISS-Journal 14 (2005)

Bekanntlich orientiert sich das Duisburger Konzept von Diskursanalyse an den Schriften Michel Foucaults, der selbst zwar keine explizite Methode der Diskursanalyse entwickelt hat und sich zudem vornehmlich (aber nicht nur) mit Diskursen der Wissenschaften befasst hat, während wir im DISS versucht haben, ein Verfahren zu entwickeln, das sich für die Analyse von Diskursen auf allen diskursiven Ebenen eignet, also für Wissenschaft, Medien, Politik, Alltag und auch für fiktionale Diskurse. Dabei haben wir auch die Rezeption Foucaults in angrenzenden (Sozial-)Wissenschaften ((Vgl. dazu etwa Keller/Hirseland/Schneider/Viehöver (Hg.) 2001, 2003, 2005. Diese Bände, besonders der aus 2005, zeigen, wie vehement und kontrovers diskutiert wird, wobei die Überwindung einmal gelernter wissenschaftlicher „Sprachspiele“ der Einzeldisziplinen offensichtlich nicht immer leicht fällt oder gelungene Versuche dazu nicht erkannt werden. (Wenn also Jürgen Link und dem DISS der Vorwurf gemacht wird, die Diskussion der Diskursproblematik auf europäischer Ebene nicht zur Kenntnis genommen zu haben (Ruth Wodak, van Dijk, Norman Fairclough), so erstaunt dies schon (so Johannes Angermüller auf S. 24).)) und in der germanistischen Sprachwissenschaft zur Kenntnis genommen und berücksichtigt.

Letztere beschränkte sich lange Zeit auf die historische Semantik. ((Vgl. dazu Busse/Hermanns/Teubert (Hg.) 1994.)) Die Sprachwissenschaftler Dietrich Busse und Wolfgang Teubert diskutierten bereits 1994 in einem grundlegenden Aufsatz die Frage, ob der Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt sei und unterstrichen die Notwendigkeit der Beachtung der Inhalte von Texten. ((Ihnen geht es jedoch um die Untersuchung größerer semantischer Beziehungsnetze bzw. um Diskursgeschichte und historische Semantik. Vgl. dazu auch die Artikel in Busse/Hermanns/ Teubert (Hg.) 1994.)) Eine diskursanalytisch begründete Textlinguistik bzw. Diskurslinguistik, die sich auf Michel Foucault bezieht, stellt Ingo Warnke (2000, 2002a und b, 2004) vor. ((Vgl. auch Adamzik 2001 sowie Bluhm et al. 2000.)) Auch Matthias Jung (2001) beruft sich (etwas vage) auf Foucault. ((Vgl. dazu kritisch Diaz-Bone 2003.))

Diese insgesamt begrüßenswerten Versuche scheuen jedoch offenbar letztlich (noch) davor zurück, die Grenzen traditioneller (Text-)Linguistik zu überschreiten. Denn dies würde bedeuten, dass sie sich in Richtung einer transdisziplinär oder mindestens doch interdisziplinär aufgestellten Kulturwissenschaft öffnen müssten, indem sie sich auf Inhalte und Themen bezögen, die Gegenstand (aller) anderen wissenschaftlichen Disziplinen sind. Mit anderen Worten: Sie müssten Diskurse als Träger von „Wissen“ untersuchen. Da mit Wissen auch immer Macht (und oftmals Herrschaft) verbunden ist, wäre es zusätzlich erforderlich, Macht- und Wissenskritik zu betreiben, wovor die erwähnte Diskurslinguistik aber offensichtlich zurückschreckt.

So schreibt der Kasseler Sprachwissenschaftler Ingo Warnke in seinem Artikel „Poststrukturalistischer Diskursbegriff und Textlinguistik“ in aller wünschenswerten Deutlichkeit:

„Ich möchte behaupten, dass dieser machtkritische Ansatz der Foucault´schen Diskursanalyse für die textlinguistische Rezeption des Diskursbegriffs marginalisiert werden kann.“ ((Warnke 2002: 9.))

Klammert man auf diese Weise die Analyse der Machtbeziehungen aus, klammert man damit zugleich den gesamten Foucault aus der Sprachwissenschaft aus und reduziert die neue „Diskurslinguistik“ auf eine überholte Textlinguistik, die sich allenfalls einiger Instrumente der Foucaultschen „Werkzeugkiste“ bedient. Damit meidet sie die m.E. notwendige Öffnung der Sprachwissenschaft in die Kulturwissenschaften hinein und zementiert die schädliche Trennung zwischen einer an Foucault orientierten Literaturwissenschaft, die sich längst kulturwissenschaftlich geöffnet hat, und der Sprachwissenschaft.

Zu fragen ist natürlich, weshalb sie das tut. Darauf gibt Warnke in dem selben Artikel eine eindeutige Antwort, wenn er schreibt:

„Zu den diskursanalytischen Aufgaben der Sprachwissenschaft wird in Zukunft die konsequente Ausarbeitung der empirischen Dimensionen gehören. Versuche dazu liegen vor (…), jedoch kann von einer Etablierung des diskursanalytischen Ansatzes kaum gesprochen werden. Im Vordergrund muss dabei keineswegs der kritische Impetus einer politisch verpflichteten Diskursanalyse stehen (vgl. etwa Jäger 1993).“(Hervorhebung, S.J.) (( Gemeint ist die „Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung“, deren überarbeitete und erweiterte Fassung von 1999 offensichtlich noch nicht zur Kenntnis genommen werden konnte.))

Nun ist Foucaults Analyse der Machtbeziehungen untrennbar mit einer höchst differenzierten Kritik an Macht und Herrschaft verbunden, wobei sich sein Verständnis von Kritik an ethischen Konzepten orientiert. Lässt man dies außer Acht, ist die Berufung auf Foucault eigentlich gar nicht berechtigt.

Doch weshalb diese Angst vor einem „kritischen Impetus“? Das hat sicherlich auch etwas mit dem Zustand und der spezifischen scientific community der germanistischen Sprachwissenschaft zu tun. In seinem abschließenden Statement beteuert Warnke:

„Zu bedenken ist …, dass das linguistische Interesse am Diskurs auf die sprachlichen Mittel der Diskursetablierung konzentriert ist, so dass ein Identitätsverlust der Sprachwissenschaft selbst nicht zu fürchten ist. Die Erweiterung der Erkenntnisinteressen ist bei Rückbindung an die philologischen Traditionen des Faches nicht als Verlust der traditionellen Gegenstände der Sprachwissenschaft zu verstehen. Folglich läuft die Argumentation pro Diskurslinguistik auf ein Plädoyer für die kulturwissenschaftliche Ausweitung der Sprachwissenschaft zu, die ihre nationalphilologische Tradition nicht negiert, sondern in konkrete Sprachanalysen sinnvoll einbringt. Die Rezeption des philosophischen Poststrukturalismus verbindet sich dann in fruchtbarerer Weise mit den Entscheidungen zur Zukunft der Nationalphilologien.“ (ebd. 15f.)

Dieser Kotau vor den Altvorderen, mit denen man es sich ja nicht verderben möchte, und vor der immer noch verbreiteten konservativen Verbundenheit großer Teile insbesondere der germanistischen Sprachwissenschaft ist schon etwas peinlich und auch völlig überflüssig und schädlich, will man den Anschluss der Sprachwissenschaft an die kritische Diskurstheorie Foucaults und damit auch an einen wichtigen Zweig der Kulturwissenschaften wirklich erreichen.

Ingo Warnke ist natürlich nicht der einzige Sprachwissenschaftler auf deutschsprachigem Terrain, der sich um eine Rezeption Foucaults bemüht. Zu erwähnen sind auch Kirsten Adamzik, Claudia Bluhm, Ulla Fix, Claudia Fraas, Michael Klemm und andere, besonders aber auch die eher kritischen Geister Adi Grewenig, Klaus Gloy und Franz Januschek. Hinzuweisen ist auch auf den von Claudia Fraas und Michael Klemm herausgegebenen Sammelband mit dem Titel „Mediendiskurse“ (2005), der eine Vielzahl interessanter und brisanter Themen behandelt und betont, dass „die an Foucault orientierte Diskursforschung ihren Kinderschuhen inzwischen entwachsen ist.“ Problematisch erscheint mir aber der Versuch, Foucaultsche Diskurstheorie und das Konzept „Gesprächsanalyse“ zu verknüpfen, was man deshalb bewerkstelligen zu können glaubt, weil deren Diskursbegriffe sich beide auf Interaktionshandlungen bezögen „im Rahmen der Gesprächsanalyse auf der interpersonalen, im Rahmen der Foucault verpflichteten auf gesellschaftlicher Ebene.“ Die scharfe Trennung beider Diskursbegriffe werde zudem durch die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Online-Medien aufgehoben. ((Die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten der Analyse von Internet-Texten und der Rolle des Internets als Medium ist jedoch sehr interessant und dürfte geeignet sein, weitere Diskussionen anzuregen. Vgl. dazu insbesondere die Aufsätze von Faas und Wagner in diesem Band.)) Diskurs als Interaktionshandlungen zu verstehen, widerspricht jedoch dem Foucaultschen Diskursbegriff diametral, denn dabei geht es ja um „Aussagen“ und deren inhaltliche Kerne, und diese lassen sich sowohl in Gesprächen als auch in Texten aller Art, also in den unterschiedlichsten Textsorten ausmachen. Der Methode der Gesprächsanalyse geht es, wie der Name schon sagt, um die Analyse von Gesprächen, die ja auch nicht uninteressant ist, aber als sprachwissenschaftlicher Ansatz mit der Foucaultschen Diskursanalyse nicht im entferntesten vereinbar ist.

Dass zudem ein ansonsten überaus interessanter kognitivistischer Ansatz wie der von Teun A. van Dijk umstandslos der Foucaultschen Diskurstheorie subsumiert wird, verweist darauf, dass die Kinderschuhe doch noch nicht ganz abgestreift sind und weiterhin ein großer Diskussionsbedarf besteht. Die Theorie- und Methodenkapitel sowie auch „Fallstudien“ zu Krieg und Terrorismus, zum 11. September in Geschäftsberichten, zum Irakkrieg u.a. sind lesenswert und teilweise sogar spannend, beziehen sich jedoch ausnahmslos (fast) nicht auf Foucault. Das ist ja nicht unbedingt schlimm, kann aber die Erwartungen derjenigen, die das Vorwort gelesen haben, kaum erfüllen. Immerhin wird aber (im Vorwort) dem Foucaultschen Diskursbegriff attestiert, dass er „intertextuelle Beziehungen auf einer gesellschaftlichen Ebene und damit gesellschaftlich relevante kollektive Wissenskonstitutionsprozesse betrifft.“ Das ist aber ohne Kritik der Machtbeziehungen nicht zu haben. Insofern bleibt die berechtigte Hoffnung, dass Kleinmut überwunden wird und auch der Sprachwissenschaft eine Öffnung gelingt und ihre verkrusteten Strukturen aufgebrochen werden können.

Literatur

Adamzik, Kirsten (2001): Die Zukunft der Text(sorten)- linguistik. Textsortennetze, Textsortenfelder, Textsorten im Verbund, in: Fix, U. Habscheid, St./Klein, J. (Hg.), S. 15-30.

Adamzik, Kirsten (Hg.) (2002): Texte . Diskurse . Interaktionsrollen: Analysen zur Kommunikation im öffentlichen Raum, Tübingen.

Bluhm, Claudia/Deissler, Dirk/Scharloth, Joachim/ Stukenbrock, Anja (2000): Linguistische Diskursanalyse: Überblick, Probleme, Perspektiven. In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht 86, S. 3-19.

Busse, Dietrich/Teubert, Wolfgang (1999): Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt. Zur Methodenfrage der Historischen Semantik. In: Busse/Hermanns/Teubert (Hg.), S. 10-28.

Busse, Dietrich/Hermanns, Fritz/Teubert, Wolfgang (Hg.) (1994): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik, Opladen.

Fix, Ulla/Habscheid, Stephan/Klein, Josef (Hg.) (2001): Zur Kulturspezifik von Textsorten, Tübingen.

Fix, Ulla/Adamzik, Kerstin/Antos, Gerd./Klemm, Michael (2002): Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antworten auf eine Preisfrage, Frankfurt/M./Berlin/ Bern.

Fraas, Claudia/Klemm, Michael (Hg.) (2005) : Mediendiskurse. Bestandsaufnahme und Perspektiven, Frankfurt/M. (Lang)

Grewenig, Adi (2000): Die Wehrmachtsausstellung als „Tatort“ – Hybride Formen der Vermittlung zeitgeschichtlicher Diskurse, in: Grewenig/M. Jäger (Hg.), S. 69-93.

Grewenig, Adi/Jäger, Margret (Hg.) 2000: Medien in Konflikten. Holocaust, Krieg, Ausgrenzung, Duisburg.

Jäger, Siegfried (2004): Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, 4., gegenüber der 2., überarbeiteten und erweiterten Auflage Duisburg 1999, unveränderte Auflage, Münster (zuerst Duisburg 1993).

Jäger, Siegfried/Januschek, Franz (Hg.) (1992): Der Diskurs des Rassismus, Oldenburg (= OBST Nr. 46).

Januschek, Franz (1994): J. Haider und der rechtspopulistische Diskurs in Österreich, in: Trubitsch (Hg.), S. 284-335.

Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/ Viehöver, Willy (Hg.) (2001, 2003): Handbuch sozialwissenschaftliche Diskursanalyse, Band 1 2001, Band 2 (2003).

Keller, Reiner/Hirseland, Andreas/Schneider, Werner/ Viehöver, Willy (Hg.) (2005): Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit, Konstanz (UVK).

Trubitsch, Gudmund (Hg.) (1994): Schlagwort Haider. Ein politisches Lexikon seiner Aussprüche von 1986 bis heute, hg. von Gudmund Trubitsch. Mit einem Essay von Franz Januschek, Wien.

Warnke, Ingo (2002a): Texte in Texten – Poststrukturalistischer Diskursbegriff und Textlinguistik,. in: Adamzik, K.(Hg.) 2002, S. 1-17.

Warnke, Ingo (2002b): Adieu Text – bienvenue Diskurs? Über Sinn und Zweck einer poststrukturalistischen Entgrenzung des Textbegriffs, in: Fix/Adamzik/Antos/ Klemm (Hg.), S. 125-141.

Warnke, Ingo (2004): Diskurslinguistik als Kulturwissenschaft, In: Erhart, Walter (Hg.): Grenzen der Germanistik, Stuttgart, S. 302-324.