Die Stunde der wahrgewordenen Gespenster. Von Jürgen Link. Erschienen in DISS-Journal 14 (2005)
Vor Tische las man´s anders: Da war die Große Koalition auf nationaler Ebene das, was sie seit 1969 kontinuierlich gewesen war, das aus der guten demokratischen Stube unbedingt fernzuhaltene Gespenst. Jedenfalls in normalen Zeiten, solange nicht Not am Mann ist. Ein 1968 hatte schließlich gereicht, und die Demokraten hatten ihre Lektion gelernt: Große Koalition stärkt die Extreme. Gerade die hegemonialen Medien hatten uns diese Lektion geradezu als „demokratisches Grundwissen“ eingebläut.
Und nun behandeln die gleichen hegemonialen Medien das Gespenst als normalstes „Stück Normalität“. Dabei wäre doch die entscheidende Frage: Ist nun Not am Mann oder nicht? Um davon abzulenken, reden sie von Not an der Frau: Ob Angela ihren Mann stehen kann oder nicht. Und auch über das zweite Gespenst herrscht bis auf weiteres Schweigegebot: Über das simple Faktum, dass es eine Große Koalition einzig und allein deshalb gibt, weil es die „Linkspartei“ gibt und weil sie den beiden hegemonialen „Blöcken“, dem linken wie dem rechten, ihre Mehrheiten genommen hat. Während noch am Wahlabend der designierte Vizekanzler Müntefering von „PDS/ML“ faselte (seine alten Traumata) und alle versicherten, eine Koalition käme „nur mit Demokraten, also nicht mit der Linkspartei“ infrage, hat man inzwischen auf Totschweigen „umgestellt“, wie Luhmann sagen würde, also „umgestellt“ auf Normalisierung der Gespenster. Wessen Gehirn nicht glatt hegemonial funktionieren kann, dem oder der wird das gespenstisch vorkommen. Vor 18 Jahren schrieb ich für das damalige „Grün-alternative Jahrbuch“ einen Essay mit dem Titel „Warum die Große Angst vor der Großen Koalition?“ Es ging damals um die ersten rot-grünen Koalitionen auf Länderebene, zu deren stärksten Katalysatoren die wirkliche oder vorgeschobene Angst der Grünen, vor allem der Realos, aber bereits auch der Linken, vor dem Gespenst der Großen Koalition zählte. Ich versuchte, den strukturellen und funktionalen Ort der Großen Koalition im hegemonialen System des westdeutschen binären Regierbarkeitsparlamentarismus (Rechts- Links-Mitte-Extreme-System) zu bestimmen. Ich zitiere einige Ausschnitte [vgl. Erwin Jurtschitsch u.a. (Hg.), Grünes & Alternatives Jahrbuch 1988, Köln (Kölner Volksblatt Verlag) 1988, 231-244 (Zitate 231, 234)]:
„Mit schöner Regelmäßigkeit taucht in den Medien seit dem Aufstieg der Grünen das Gespenst der Großen Koalition auf. Hier eine (unvollständige Chronik – [von der ich jetzt nur den ersten Beleg zitiere]): „Loderer (IG Metall): Noch leben wir nicht in Weimarer Verhältnissen. Noch haben wir absolut stabile demokratische Mehrheiten. Ob sich das ändert – ich hoffe es nicht. Noch regieren wir nicht mit Notverordnungen. Zum Glück haben wir noch keine 7 Millionen Arbeitslose. Und selbst dann, aber auch nur dann, haben wir die Möglichkeit der Großen Koalition für den Fall, daß alle Stricke reißen.“ (WAZ v. 12.8.1982)
Aus diesem wie aus vielen ähnlichen Belegen ergab sich als Funktion der Großen Koalition (auf Bundesebene) eben die einer „Notbremse“, eines Notstandsregimes. Ich erläuterte dann den Hegemonie-Begriff von Antonio Gramsci, der seinerzeit von Peter Glotz gehijackt und total unkenntlich gemacht worden war, indem er Hegemonie mit parlamentarischer Mehrheit gleichsetzte. Als ob nicht gerade der „Grundkonsens“ einer linken und einer rechten „Mitte“ und ihr binärer Wechsel den Kern der Hegemonie unserer Mini-Demokratie ausmachen würde. Ich schrieb:
„Nicht bloß die jeweilige Partei an der Regierung, sondern immer beide Großparteien, gerade auch die faire Opposition, tragen die Hegemonie mit. […] Man kann es auch so sagen: Egal welche der beiden Großparteien an der Macht in Bonn ist – tiefenstrukturell gesehen besteht stets eine Große Koalition in Fragen hegemonialer Essentials [wozu ich insbesondere das Akkumulationsregime mit Privateigentum an Großunternehmen, die institutionelle Sozialpartnerschaft sowie die G7-Rolle und das militärische Bündnis der NATO rechnete].“
Auch diese These ließ sich durch hegemoniale Äußerungen belegen – ich zitierte den Chefredakteur der „Zeit“, Robert Leicht, der von einer „Großen Koalition der Mentalitäten“ gesprochen hatte, die kontinuierlich auch ohne formelle Große Koalition bestehe. Diese tiefenstrukturelle Große Koalition, auch „Grundkonsens“ genannt und seither teils „Große Sach-Koalition“, teils „Große Verantwortungs- Koalition“ getauft, erwies sich seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten als noch viel stärker und flexibler, als ich es damals für möglich gehalten hätte. Allerdings bedeutete der Kollaps des Ostblocks ein historisches Mega-Ereignis, das dem westlichen Typ von Hegemonie das unschätzbare Geschenk der symbolischen Alternativlosigkeit bescherte und seine Flexibilität dadurch ins nahezu Unbegrenzte steigerte.
Meine damalige Analyse war für grüne Leserinnen gedacht, die nach einer nicht-hegemonialen Strategie und Taktik nicht einfach in, sondern gegenüber der „politischen Landschaft“ Links-Rechts-Mitte-Extreme suchten. Seit dem Ja und Amen auch der linken Grünen zum NATO-Krieg von 1999 (bestätigt durch ihre Zustimmung zu den Besatzungsregimen der Bundeswehr im Kosovo und in Afghanistan) sind die Grünen als Partei definitiv hegemonial geworden und also prinzipiell jederzeit für Jamaica oder Schwarzgrün tauglich.
Was nun die Linkspartei betrifft, so gilt für ihren PDS-Flügel etwa das gleiche wie damals für die grünen Realos: Ihre Führer lechzen nach Rot-Rot- Grün und würden auch den Preis (NATO, G7, Hartz-Reformen) dafür zahlen. Demgegenüber ist der WASG-Flügel noch so unübersichtlich wie damals die linken und „alternativen“ Grünen (von denen nur noch ein allerdings auch inzwischen fragmentierter Christian Ströbele übrig ist). Klar ist ferner, dass die WASG die PDS-Augenhöhe einzig durch Lafontaines Prestige und Medienversiertheit erreicht hat. Lafontaine macht absolut keinen Hehl daraus, dass er sozialpolitisch für ein links-keynesianisches, also klassisch sozialdemokratisches Umverteilungs- und Kompensations- Konzept eintritt. Damit wird er allerdings inzwischen von den bestallten Sprechern der Hegemonie aller anderen Parteien ins symbolische „Abseits“ gestellt. Diese Ausgrenzung erscheint rätselhaft und sachlich unbegründet. Eher schon fällt sein Leitmotiv „gegen die Verteidigung der Bundesrepublik am Hindukusch“ tatsächlich aus der Hegemonie heraus. Dennoch erschiene seine Stigmatisierung als „MLer“ durch den Ex-Kumpel Müntefering als derartig grotesk, dass man sich in einem schlechten Kabarett zu befinden glaubte, falls nicht…
Falls nicht hinter den Kulissen der Präsentation dieser Großen Koalition II doch eine Notstands-Diagnose schwelte. Wie begründete Köhler die Neuwahlen? „Unser Land steht vor gewaltigen Aufgaben. Unsere Zukunft und die unserer Kinder stehen auf dem Spiel. Millionen von Menschen sind arbeitslos, viele seit Jahren. Die Haushalte des Bundes und der Länder sind in einer nie da gewesenen, kritischen Lage. Die bestehende föderale Ordnung ist überholt. Wir haben zu wenig Kinder, und wir werden immer älter. Und wir müssen uns im weltweiten, scharfen Wettbewerb behaupten.“ Robert Leicht („Die Zeit“ 28.7.2005) fand die Berufung einiger Kommentatoren auf den Notstandstheoretiker Carl Schmitt in diesem Kontext lächerlich und schrieb: „Von Notstand keine Spur – auch keine von Notstandsrhetorik.“ Das würde bedeuten, dass sich tatsächlich nur „der Wähler“ frei für ein Gespenst entschieden hätte, das laut Umfragen er selbst und auch sonst niemand will und das massiv gegen die Spielregeln unserer binären Minimal-Demokratie verstößt – jedenfalls in normalen Zeiten. Wie normal unsere Zeiten also wirklich sind, darauf läuft schließlich alles hinaus. Hat Schröder die Neuwahl bloß im besoffenen Kopp (so wie offenbar bei seinem Auftritt am Wahlabend) erzwungen? Hat auch Lafontaine seinen immerhin spektakulären und nicht als „demokratisch“ anerkannten Coup wirklich in eine „normale politische Landschaft“ hineingesetzt? Oder werden wir in einigen Monaten oder spätestens übers Jahr eine ebenso spektakuläre Änderung der bei ihrem Start tatsächlich peinlich in der Normalität gehaltenen Tonart dieser Großen Koalition II erleben?
Es sieht so aus, als ob Lafontaine genau damit rechnen würde und für diesen Fall als Alternative zur NPD & Co. ein linkes Auffangbecken für verzweifelte Massenproliferationen parat halten möchte. Für die Möglichkeit eines „normalen“ Managements der Krise spricht allerdings die ungebrochene Stärke des binären Links- Rechts-Spiels, wie sie sich im Wahlergebnis gezeigt hat: Dass die Linkspartei nach den Umfragen von 12 auf 8 Prozent einbrach, zeigt die Stärke des hegemonialen Reflexes vom „kleineren Übel“. Diesmal wählten die in der Hegemonie verfangenen Schlaumeier sogar das jeweils „kleinere Übel im kleineren Übel“ (also rechts FDP und links Grüne), also das „kleinere Übel hoch zwei“. Die Große Koalition sollte allerdings gerade für diese Schlaumeier eine herbe narzißtische Kränkung bedeuten.
Fazit: Ob diese Koalition sich noch an ihre systemisch vergesehene Notstandsfunktion annähert oder nicht – dringend ist in jedem Fall die breitere Information über die Spielregeln unserer normalistischen, binären Minimal- und Regierbarkeits-Demokratie in ihren beiden möglichen Aggregatzuständen – und dringend ist so etwas wie eine neue APO, um die Linkspartei wenigstens die erste Zeit als ein nicht-hegemoniales politisches Instrument zu bewahren, falls doch noch „Not am Mann“ erklärt werden sollte.