Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung

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Jobst Paul

 

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Zwei Projekte zur jüdischen Publizistik des 19. Jahrhunderts

Statement anlässlich der 20-Jahres-Feier des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung

Von Jobst Paul

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich möchte nur kurz noch einmal aufgreifen, wovon nun schon mehrfach die Rede war. Seit nunmehr fast drei Jahren hat sich am DISS in einer außerordentlich fruchtbaren, innovativen Kooperation mit dem Steinheim-Institut ein sehr umfassender Arbeitsschwerpunkt entwickelt: Wir sind dabei, die breite, reichhaltige Debattenliteratur aufarbeiten, wiederzuentdecken, zu analysieren und auch neu herauszugeben, mit der sich die deutschen Juden seit der Aufklärung und danach über fast 150 Jahre zur Thematik Staat, Gesellschaft, Nation zu Wort gemeldet haben.

Damit fügen wir der Analyse von Rassismus und Antisemitismus nun mit Nachdruck die jüdischen Stimmen und Perspektiven hinzu, denen seit 1800 Jahrzehnt um Jahrzehnt und Generation um Generation die Anerkennung, vor allem die Achtung versagt wurde - erfolgreich, wie man heute nur zynisch hinzufügen möchte: In der Tat ist es letztlich nur wenigen der vielen Hundert jüdischen Wissenschaftler und Literaten, über die wir hier reden, vergönnt gewesen, mit ihren Werken Zugang zum deutschen kulturellen Gedächtnis zu erhalten.

Aber ist es tatsächlich möglich, diesen breiten Strom der kulturellen Beiträge einfach verschwinden zu lassen? Kann man die kollektive Erinnerung – selbst noch nach der Ermordung des europäischen Judentums – in diesem Ausmaß manipulieren? Oder schleppt unsere Kultur das Wissen um das Gelöschte und Verdrängte auch heute nicht unmerklich mit, als Phantomschmerz, wie es Moshe Zuckermann genannt hat? Auch die Diskurs-Theorie Michel Foucaults, und von ihr inspiriert, Sigi Jägers Kritische Diskursanalyse, gehen davon aus, dass Diskurse im Gang der Historie nicht ‚verschwinden’, sondern dass sie sich wieder melden, indem sie erneut nach Ausdruck drängen.

Zwischen 2005 und 2006 ist es einem sehr emsigen Arbeitsteam in der Tat gelungen, den deutsch-jüdischen Diskurs zur Thematik Staat, Gesellschaft, Nation aus Hunderten von publizistischen Schriften – und zwar repräsentativ für das 19. Jahrhundert insgesamt – zu rekonstruieren. Letztlich alle Teammitglieder haben dabei einen Lernprozess durchlebt, sie haben sich dem Judentum genähert, ebenso aber den Menschen, die Jahr um Jahr und Generation um Generation den bitteren Kampf gegen Judenfeindschaft, Herabsetzung und Entrechtung schildern.

Niemandem von uns war bekannt, was sich im Verhältnis der deutschen Juden zur christlichen Mehrheitsgesellschaft weit über ein Jahrhundert lang in Deutschland abgespielt hat, aber auch, wie kraftvoll und souverän und in welcher Breite die deutschen Juden einen Gegendiskurs dazu führten, in dem sie Werte und Konzeptionen hochhielten, die heute den Kern unserer Verfassung bilden. Niemandem von uns waren die Utopien bekannt, die Reformchristen und Reformjuden zu formulieren wagten, nämlich die Vision einer kirchlichen Vereinigung, angelehnt an ein bürgerrechtlich-protestantisches Ethos – und vieles und anderes mehr.

Ein beachtliches Text-Archiv in einer spezifischen Zusammensetzung ist entstanden, das danach ruft, weiter erschlossen zu werden. Seit Beginn des Jahres sind wir dabei, diese Aufgabe anzugehen. Im Rahmen eines auf vier Jahre angelegten Editionsprojekts wollen wir herausragende Werke deutscher Juden neu edieren, die sich mit jüdischer Ethik und Sozialethik, aber auch mit dem christlich-jüdischen Verhältnis auseinandersetzen.

Wir wollen Werkeditionen wichtiger Autoren hinzufügen und Schritt für Schritt eine Online-Volltext-Dokumentation der von jüdischer Seite breit geführten Emanzipations- und Rechtsdebatte aufbauen. In einem eigenen Projektteil wird derzeit eine christlich-jüdische Kirchenzeitung aus dem Jahr 1837 in Volltext übertragen. Schließlich hatten wir Gelegenheit, im Vorfeld der kommenden Steinheim-Konferenz zum Pariser Sanhedrin der Jahre 1806/07 eine Reihe wichtiger und seltener Schriften in Volltext-Fassungen zur Verfügung zu stellen.

Wir wünschen uns natürlich, dass wir den Ansprüchen gerecht werden können, die ‚der Stoff’ vor uns an uns richtet. Noch viel mehr wünschen wir, dass es uns gelingen wird, die kulturelle Öffentlichkeit in Deutschland dafür zu interessieren.

 

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