Andreas Foitzik, Rudolf Leiprecht, Athanasios Marvakis, Uwe Seid (Hrsg.):

 

"Ein Herrenvolk von Untertanen"

Rassismus - Nationalismus - Sexismus

 

 

 

 

Helma Lutz

Rassismus und Sexismus, Unterschiede und Gemeinsamkeiten

"Eine Frau wird nicht als Frau geboren, sondern dazu gemacht." (Simone de Beauvoir)

Ein Schwarzer wird nicht als Schwarzer geboren, sondern zum "Neger" gemacht.

Eine Türkin wird nicht als Türkin geboren, sondern zur Orientalin gemacht.

 

Einleitung

"Nach fast zwanzig Jahren Frauenforschung und Frauenbewegung in der Bundesrepublik ist zumindest eine ihrer Einsichten weithin akzeptiert: Geschlecht ist (wie Klasse oder Rasse) ein sozialer Platzanweiser, der Frauen und Männern ihren Ort in der Gesellschaft, ihren Status, ihre Funktionen und Lebenschancen zuweist. Diese Verortung nach Geschlechtszugehörigkeit ist kein einfacher Akt unmittelbaren Zwangs, sondern ein aufwendiges und konfliktträchtiges Zusammenspiel von Zwängen und Motiven, von Gewalt und ihrer Akzeptanz, von materiellen Bedingungen, ökonomischen Nötigungen und subjektiven Bedürfnissen, von kulturellen Bedeutungssystemen, normativen Vorschriften, Selbstbildern und Selbstinszenierungen." (Knapp 1988, S. 12)

Das schrieb Gudrun-Axeli Knapp 1988 in der Einleitung zu einem Übersichtsartikel über den Stand der neuen Frauenbewegung und Frauenforschung unter dem Titel "Die vergessene Differenz".

Sie unterstellt also, daß auch in den Sozialwissenschaften mittlerweile ein Konsens darüber besteht, daß das soziale Geschlecht, der soziale Status und die ethnische Zugehörigkeit eines Menschen Resultate von Zuweisungsprozessen sind. Die Analogien, die sie zwischen diesen Platzanweisern sieht, scheinen auf den ersten Blick zu überzeugen. Einerseits kann ich ihrer Analyse zustimmen. Es gibt sicherlich wichtige Analogien in der Form, der Entwicklung und der Identifikationsbasis der Emanzipationsbewegungen von Minderheiten und Frauen. Aber es gibt auch Unterschiede, die sowohl in der Bewegung als auch in der Wissenschaft nicht vernachlässigt werden sollten. Mit letzterem, mit den Unterschieden, wird sich dieser Beitrag vor allem beschäftigen. Ausgangs- und Bezugspunkte sind für mich in erster Linie die Diskussionen in der Rassismus- und Frauenforschung. Ich beziehe mich dabei eher auf englischsprachige Literatur, da in der Bundesrepublik eine breite wissenschaftliche Diskussion zu diesem Thema noch nicht stattgefunden hat. Auch der gerade zitierte Artikel von Knapp geht auf diese Diskussion kaum ein.

Das Fehlen einer wissenschaftlichen Diskussion bedeutet jedoch nicht, daß das Problem als solches, die Existenz von rassistischen und sexistischen Ausschliessungsideologien und -praxen nicht gegeben wäre. Es bedeutet auch nicht, daß die Medien im allgemeinen und die feministischen Medien im besonderen sich nicht mit Sexismus und Rassismus beschäftigen würden. Ganz im Gegenteil, diesen Themen wird sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. Das geschieht sowohl implizit als auch explizit wie z.B. im "Emma"-Heft zum Krieg oder auch in dem zum absoluten Publikumserfolg gewordenen Buch (und dem gleichnamigen Film) "Nicht ohne meine Tochter". Die deutsche Öffentlichkeit beschäftigt sich also mit diesen Fragen. Sie tut dies allerdings in einer besonderen Weise. Um die Kritik an dieser besonderen Art der Darstellung, um die Diskurse und ihre manifesten Stereotype wird es in diesem Artikel gehen.

1. Unterdrückung

"Denn im Golfkrieg fließen die beiden großen Ströme der Menschenverachtung zusammen: Rassismus und Sexismus. Beide haben dieselbe Quelle, beide funktionieren nach denselben Mustern."

So Alice Schwarzer im Vorwort des bereits erwähnten "Emma"-Heftes. Sexismus und Rassismus, das können wir diesem Zitat entnehmen, gehören irgendwie zusammen; insbesondere dann, wenn es um Frauen aus oder in sogenannten islamischen Ländern geht.

Aber ist es wirklich möglich, die Funktionsfähigkeit von Rassismus und Sexismus auf ein einheitliches "Muster" zu reduzieren? Schwarzer, wie übrigens viele andere mit ihr, sieht letztendlich im weltweiten Patriarchat das Unterdrückungssystem in Reinform, welches Frauen und Schwarze zu Untermenschen macht. Nun haben ja beide Begriffe, Sexismus und Rassismus, etwas mit Unterdrückung zu tun; beides sind sowohl Ideologien als auch handlungsrelevante Ausschlußkonzepte im Alltagsleben. Bei Sexismus ist die Tatsache, daß eine Person als Frau identifiziert wird, die Grundlage für die Legitimation ihrer Unterdrückung. Bei Rassismus bilden die Hautfarbe oder andere physiologische Kennzeichen oder die ethnische Zugehörigkeit die Elemente, die die rassistische Ausschließung und Unterdrückung von Menschen legitimieren. In beiden Fällen geht es um Unterdrückung als Ausdruck asymmetrischer gesellschaftlicher Machtverhältnisse.

Die feministische Philosophin Iris Marion Young unterscheidet fünf verschiedene Kategorien von Unterdrückung: Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit, kulturellen Imperialismus und Gewalt.

Sie geht davon aus, daß Unterdrückung eine strukturelle Erscheinung unserer pluralistischen modernen Gesellschaft ist. Nun werden Menschen zwar als Individuen unterdrückt, jedoch dienen die Eigenschaften, die der sozialen Gruppe, der sie angehören, zugeschrieben werden, als Grundlage der individuellen Unterdrückung. Da Gesellschaften sich als soziale Gruppen strukturieren, werden Menschen identifiziert als Gruppen, die immer schon gekennzeichnet waren durch spezifische Attribute, Stereotype und Normen (vgl. etwa Heidegger 1926 / 1986). Individuen werden also identifizierbar über die Eigenschaften, die ihren sozialen Gruppen zugeschrieben werden. Es sind die Gruppenidentitäten, die im Vergleich zu anderen Gruppenidentitäten zur Normalität oder zur Abweichung erklärt werden. Auf Grund identifizierbarer und als negativ bewerteter Abweichungen wird unterdrückten Gruppen ihr sozialer Ort zugewiesen. Young identifiziert im kulturellen Imperialismus eine Form von Unterdrückung, die sich ableitet aus dem gesellschaftlichen Recht zur Definition "Anderer". Indem die dominanten Gruppen der Gesellschaft die Interpretation dieser "Anderen", das heißt auch die Form und den Inhalt der Kommunikation über diese "Anderen" weitgehend bestimmen, sozusagen sich selbst und den "Anderen" einen Platz zuweisen, schaffen sie gleichzeitig normative Richtlinien und messen die "Anderen" an diesen Projektionen. Kulturell unterdrückte Gruppen werden dadurch einem paradoxen Prozeß unterzogen: sie werden als Stereotype gekennzeichnet und gleichzeitig bleiben sie unsichtbar. Die Differenzierung der verschiedenen Aspekte von Unterdrückung, die sich auch gegenseitig verstärken und überschneiden können, versucht vor allem die verschiedenen Erscheinungsformen von Unterdrückung in der Gesellschaft zu verdeutlichen. Manche Formen sind auf den ersten Blick nicht einfach identifizierbar; ich werde später darauf zurückkommen und verdeutlichen, inwiefern dies auch für schwarze Frauen und Migrantinnen gilt.

Der Vorteil dieser durch Young vorgenommenen Differenzierungen von Unterdrückung liegt meines Erachtens darin, daß sie die Eingeschränktheit bisheriger Analysen übersteigt. Wir haben - vor allem in der jüngeren Diskussion - erlebt, daß unterdrückte Gruppen sich gegenseitig das Recht abstritten, jeweils im Namen aller Unterdrückten sprechen zu dürfen. So wurde die "Exklusivität" der Unterdrückung einer bestimmten Gruppe betont. In der grünen bzw. Regenbogenbewegung sind der Partialismus der sich dort versammelnden gesellschaftlich Benachteiligten und die Legitimation ihrer Repräsentanz bis heute eines der größten Probleme. Young dagegen weist darauf hin, daß die Erfahrung mit verschiedenen Unterdrückungsformen sich individuell und kollektiv verändern kann. So können beispielsweise Frauen sich oft erst im individuellen Alterungsprozeß bewußt werden, daß auch alte Menschen in dieser Gesellschaft benachteiligt sind, und daß in unserer Gesellschaft Jugendlichkeit als positiv bewerteter Maßstab gilt. Heterosexuelle Frauen können erst in dem Moment das gesamte Ausmaß struktureller Ausgrenzung von Lesben wahrnehmen, in dem sie sich selbst als lesbisch zu erkennen geben. Gleichzeitig steht aber auch keine dieser kollektiven Identitäten fest, sondern kann sich durch die aktive Beeinflussung einzelner oder in Auseinandersetzung mit der jeweiligen Umwelt verändern.

Statt also von einer festumrissenen unveränderlichen Identität jedes Menschen auszugehen, sollten wir uns besser darüber klar werden, daß jeder Mensch gleichzeitig verschiedene Subjektpositionen besitzt und daß sich auch seine kollektive Identität verändern kann (siehe dazu auch Hall 1991; Spivak 1986; Weeks 1987). Damit soll keineswegs geleugnet werden, daß eine kollektive Identität in fast allen sozialen Bewegungen notwendige Voraussetzung der Mobilisierung von Widerstand (gewesen) ist. Nicht selten wurden und werden dabei die zugeschriebenen negativen Merkmale als positive Gegenidentitäten aufgegriffen und umgesetzt als Basis aktiver Angriffe, wie z.B. bei der schwarzen Bürgerrechtsbewegung der Satz "Black is beautiful". Dennoch hat sich im Laufe dieser Bewegungen immer wieder gezeigt, daß die positive gemeinsame Klammer den Unterschieden zwischen den Individuen und Kollektiven innerhalb der unterdrückten Gruppe nicht gerecht werden kann. Befreiungsidentitäten können oft zu Unterdrückungsidentitäten werden. So haben z.B. schwarze Homosexuelle die heterosexuelle Identität der Bürgerrechtsbewegung kritisiert und haben diese Kritik nicht selten mit ihrem Ausschluß aus der Bewegung bezahlen müssen. Jeoffrey Weeks weist auf dieses Identitätsdilemma hin wenn er sagt, daß schwarze Homosexuelle es oft vorziehen, sich eher als "schwarz" denn als "homosexuell" zu identifizieren; sie begründen diese "Wahl" damit, daß eine solche Aussage aus Gründen der politischen Klarheit und Effizienz getroffen werden muß (siehe Weeks 1987, S. 43).

Meiner Ansicht nach ermöglicht nun eine solche flexible Analyseform, wie wir sie hier mit der Unterscheidung der Unterdrückungsformen und der Differenzierung der Subjektposition vorfinden, eine wissenschaftlich sehr viel fruchtbarere Form der Diskussion, als die Festlegung auf eine konstante und einheitliche Identitätsform. Auf diese Frage der politischen Funktionalität von kollektiver Identität werde ich später noch einmal zurückkommen.

Um deutlich zu machen, welche Vorteile darin liegen, den Identitätsbegriff in seiner Entstehungsgeschichte und im Kontext von Unterdrückung, Macht und Widerstand zu betrachten, anstatt ihn sozusagen als eine "natürliche" Erscheinung zu sehen, will ich noch einmal kurz verschiedene Positionen in der Diskussion um die "Frauenunterdrückung" Revue passieren lassen.

2. Frauenunterdrückung

Die Feministinnen der ersten und der zweiten feministischen Bewegung in Europa sind angetreten, die gesellschaftlich fixierten Bilder und die gesellschaftliche Verortung von Männlichkeit und Weiblichkeit zu hinterfragen, zu kritisieren und zu verändern. Schwerpunkt der Diskussionen war lange Zeit die Frage, was Frauen sind, bzw. was sie nicht sind. Simone de Beauvoirs Kernsatz, daß Frauen nicht als Frauen geboren werden, bildete die Grundlage vieler Arbeiten, vor allem in der Sozialisationsforschung (siehe Belotti 1975; Scheu 1977). Dieser Ansatz ging davon aus, daß die typischen weiblichen Eigenschaften anerzogen seien und die Veränderung der Sozialisationsinstanzen bereits die Veränderung der Eigenschaftsentwicklung und -zuschreibungen bewirken könne. Das Ziel dieser Veränderung bestand nicht so sehr darin, die als durchaus positiv bewerteten weiblichen Eigenschaften abzuwerten, sondern sie als menschlich wünschenswerte Eigenschaften zweigeschlechtlich zu verteilen. Die Annahme, daß es möglich sei, männlichen Kindern eine positive Haltung zur Versorgung von Kindern zu vermitteln, indem man / frau sie mit Puppen spielen läßt, ist dafür nur ein kleines Beispiel. Carol Hagemann-White hat diesen Ansatz nachhaltig kritisiert. Sie bemängelt nicht nur, daß er offensichtlich bislang von so wenig Erfolg gekrönt ist (siehe die Untersuchungen von Pross 1984 und Metz-Göckel / Müller 1986 über die Geschlechterbilder von Männern, die nachweisen, daß die klassischen Zuschreibungen, die festlegen, was männlich und was weiblich ist, nach wie vor dominant und virulent sind), sondern auch, weil er von falschen Voraussetzungen ausgeht. Die Sozialisationsthese, so Hagemann-White, erlaube es nicht, Kinder als Subjekt ihres Werdens zu denken, sondern sie werden darin zu bloßen Objekten von Konditionierung reduziert (Hagemann-White 1988, S. 227). Die Veränderung der klassischen Sozialisationsinstanzen allein scheint also noch keine Wirkung zu haben auf die Stellung der Geschlechter in unserer Gesellschaft. Es gab in der Frauenbewegung noch eine Reihe anderer Bemühungen, das universelle Unterdrückungssystem des Patriarchats ins Wanken zu bringen. Frauen haben in der Frauenforschung verschiedene Wege beschritten. Einer davon bestand / besteht darin, die als männlich identifizierte Dominanz dadurch einzugrenzen, indem sogenannte männliche Eigenschaften als essentiell schlecht zurückgewiesen wurden. Den negativen, zerstörerischen männlichen Eigenschaften wurden nun die positiven Eigenschaften weiblicher Kultur gegenübergestellt. In dieser als "Differenzdenken" typierten Strömung haben sich Feministinnen und feministische Psychoanalytikerinnen vereint, die in ihrer Argumentation die sogenannten natürlichen Eigenschaften von Menschen betonen. Frauen seien, weil sie Kinder gebären können, nun einmal von Natur aus gefühlsstark, einfühlend, pazifistisch, anti-rationalistisch und intuitiv eingestellt. Weil Frauen eben überwiegend die Kinderversorgung auf sich nehmen, besäßen sie eine sogenannte Versorgungsethik, die im Gegensatz zu der von Männern stehe, weil diese sich mit rationaler Ethik vom Leben und Leben schenken entfernen müßten. Während männliche Ethik also auf Beherrschung gerichtet sei, stehe für Frauen die Erhaltung und Versorgung des Lebens im Vordergrund (siehe Gilligan 1982). Auffällig sind sozialbiologische Elemente in den Begründungszusammenhängen vor allem bei feministischen Psychoanalytikerinnen, die davon ausgehen, daß Frauen "von Natur aus" eben "anders" sind und "anders" bleiben. Dabei ergänzen sie die Freudsche Lehre vom Penisneid bei Frauen dadurch, daß sie einen Gebährneid bei den Männern konstatieren. Auf Grund dieses Gebährneides werden Männer zu Unterdrückern, bzw. müssen sie ihre Herrschaft über das Leben, über die Natur als "Kultur" etablieren.

Das Unbehagen, das sich hier bei den Kritikerinnen, zu denen ich mich auch zähle, einstellt, hat Knapp folgendermaßen in Worte gefaßt: "In wichtigen Zügen unterschieden sich diese Entwürfe nicht von den sattsam bekannten männlichen Projektionen über Frauen." (Knapp 1988, S. 13) An solchen Definitionen von Weiblichkeit ist in erster Linie der Essentialismus zu kritisieren, d.h. die Vorstellung, daß eine unter bestimmten Bedingungen entstandene Eigenschaft als essentiell weiblich betrachtet wird und damit gültig ist und bleibt für alle Frauen. Der zweifellos in einer bestimmten Phase politisch sehr hohe Aktivierungswert solcher identitätsschaffenden Gegenentwürfe soll hier nicht abgestritten werden. Ob er uns allerdings analytisch weiterführt, ist wohl sehr fraglich.

Die hier dargestellte "Differenzthese" (die Betonung des Unterschieds zwischen allen Männern und allen Frauen) ist nun in erster Linie von den Gleichheitsfeministinnen angegriffen worden. Viele schlossen sich der Meinung Simone de Beauvoirs an, die sich gegen die Sichtweise wehrte, daß es spezifische feminine Eigenschaften, Werte oder Lebensweisen gibt. "Daran zu glauben hieße, die Existenz einer weiblichen Natur anzuerkennen, mit anderen Worten einem Mythos anzuhängen, der von den Männern eigens erfunden wurde, um die Unterdrückung der Frau aufrechtzuerhalten. Es geht für die Frauen nicht darum, sich als Frauen zu bestätigen, sondern als ganze vollständige menschliche Wesen anerkannt zu werden. Alle 'männlichen' Modelle abzulehnen wäre unsinnig (...). Ich halte es für notwendig, daß wir das Wissen von unserem Standpunkt her revidieren, nicht, daß wir es ablehnen." (de Beauvoir 1974, S. 465). Die Vertreterinnen der Differenzthese, die sich auf ein weibliches "wir Frauen" beriefen, sind aber auch noch von anderer Seite angegriffen worden. So haben die lesbischen Frauen als erste diesen "Wir"-Begriff in Frage gestellt und die heterosexuelle Orientierung dieser Kategorie abgewiesen. Sie wollten sich nicht unter diesem "Wir" subsumieren lassen und wiesen auf die Unterschiede innerhalb der Kategorie Frau hin.

Eine weitaus heftigere Kritik kam und kommt in den letzten zehn Jahren vor allem von "schwarzen" Feministinnen (schwarz ist in dieser Bewegung als politischer Terminus zur Kennzeichnung der Minderheitenposition und nicht der Hautfarbe verwendet worden). Schwarze Frauen wehren sich gegen sogenannte weiße feministische Vereinnahmungen. Sie kritisieren den Universalitätsanspruch der feministischen Bewegung und ihrer wissenschaftlichen Konzepte ebenso wie die Untersuchungsmethoden der feministischen Wissenschaft. Ihre Kritik richtet sich auch darauf, daß es bislang noch wenige Wissenschaftlerinnen gibt, die Angehörige (ethnischer) Minderheiten sind und als solche in diesen Forschungsbereichen aus ihrer besonderen Betroffenheit heraus andere, adäquatere Analysemethoden und - konzepte entwickeln könnten. "Schwarze Frauen" wehren sich also dagegen, zu puren Objekten der Wissenschaft degradiert zu werden. An den Konzepten der feministischen Forschung wird vor allem kritisiert, daß diese von einem "weißen Mittelklassestandard" ausgehen und darin auf Unterdrückungsmomente verweisen, die eigentlich nur für diese Gruppe gültig seien. So lehnen sie z.B. Theorien ab, die davon ausgehen, daß die (Klein-)Familie als zentrale Institution weiblicher Unterdrückung zu betrachten sei, weil Frauen in der Familie sozial, ökonomisch und emotional von Männern abhängig bleiben (siehe M. Barett 1980). Hier, so die Kritikerinnen, werde vollkommen übersehen, daß es fundamentale Unterschiede in der Lebenssituation weißer Frauen einerseits und schwarzer Frauen und Migrantinnen andererseits gebe: die Tatsache, daß letztere auf Grund ihrer Hautfarbe und ihrer ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert, ausgebeutet, unterdrückt und negativ stigmatisiert werden, sei ein mindestens ebenso wichtiger Unterdrückungsfaktor, wie die patriarchale Unterdrückung. So könne zum Beispiel die Familie in einer rassistischen Gesellschaft für Minderheiten eine unterstützende und schützende Funktion haben (Morokvasic 1984, S. 895). Schließlich wurde ja den schwarzen Sklaven damals ähnlich wie bestimmten Migrantengruppen heute noch nicht einmal das Zusammenleben mit einer Familie zugestanden. Solche Tatsachen müßten doch eigentlich auch in der feministischen Forschung zu anderen Analysekategorien führen.

Ähnliche Kritik wurde auch an der Kategorisierung von bestimmten Arbeiten und Berufen als "weiblich" und "männlich" geübt, da diese Einteilung für schwarze Frauen historisch gesehen nicht zutreffe. So weist z.B. Jaqueline Jones in ihrer Analyse darauf hin, daß schwarze Frauen bereits als Sklavinnen körperlich schwere Arbeiten verrichten mußten (beispielsweise die Arbeit im Bergwerk), die weißen Frauen nicht zugemutet wurden, weil sie "Männerarbeiten" seien (Jaqueline Jones 1986). Andere Kritikerinnen stellten fest, daß ja schließlich auch weiße Frauen objektiv gesehen von der Ausbeutung schwarzer Frauen und Migrantinnen profitieren, und damit die Lebenssituation von weißen und schwarzen Frauen grundsätzlich unterschiedlich sei. Die Kritik der schwarzen Frauen richtet sich demnach gegen den Kern der universellen Patriarchatsthese. Nachdrücklich wurden und werden die Unterschiede zwischen Frauen herausgestellt und nicht die Gemeinsamkeiten. Der Gegensatz zur weißen feministischen Analyse liegt also darin, daß der zentrale Maßstab nicht der Mann oder der weiße Mann, sondern die weiße Frau ist.

Als Reaktion auf diese Kritik, die bislang nur sehr ungenügend stattgefunden hat, wurden die feministischen Analysekonzepte in aller Regel nicht grundsätzlich revidiert, sondern die Unterdrückung schwarzer Frauen und Migrantinnen wurde additiv analysiert: sie wurden gesehen als Opfer von rassistischer Diskriminierung und von Sexismus. Eine in der Frauenforschung weit verbreitete Sichtweise konstruiert eine Unterdrückungshierarchie, in der die rassistische Diskriminierung zum Nebenwiderspruch erklärt wird. Weil eben die sexistische Unterdrückung weltweit festzustellen sei, sei sie auch als primäre Kategorie zu analysieren.

Ich werde hier dagegen versuchen, deutlich zu machen, daß diese Analyseform inadäquat ist. Meiner Ansicht nach geht es nicht darum, rassistische Unterdrückungen als zusätzliche Unterdrückungsformen zu analysieren, sondern als solche, die anders auftreten und legitimiert sind. Verschiedene Diskriminierungen können sich dabei gegenseitig verstärken, und verschiedene Ebenen der Erscheinungsformen sind zu unterscheiden.

3. Rassismus

Frauenforscherinnen, die sich mit Rassismus beschäftigen, weisen oftmals auf mannigfache Gemeinsamkeiten in der Legitimation von Sexismus und Rassismus hin (siehe z.B. C. Mansfeld 1987). Die Analogien sind sicher nicht zu unterschätzen. Beides sind, wie gesagt soziale Konstruktionen, in denen Menschen auf Grund ihres Körpers und auf Grund der ihnen zugschriebenen natürlichen Eigenschaften definiert werden. Wahrnehmbaren Äußerlichkeiten werden vermeintliche innerliche Äquivalente zugeschrieben. Um Menschen wegen ihrer geschlechtlichen oder ethnischen oder "rassischen" Gruppenzugehörigkeit zu marginalisieren, zu unterdrücken oder gar auszurotten, werden und wurden oft auch noch andere Legitimationskonstrukte verwendet; oft ergänzten sich, wie im Falle des europäischen Antisemitismus, christliche, kulturalistische, nationalistische, sexistische und rassistische Legitimationen. In Bezug auf die Diskussion um den "neuen Rassismus" will ich lediglich festhalten, daß dieser sich heute eher über Kulturunterschiede als über die Feststellung der Existenz von "Rassen" definiert. Diesen "neuen Rassismus" nennt Etienne Balibar "racisme differentialiste", weil er von der Unterschiedlichkeit und Unveränderlichkeit von Kulturen ausgeht, von einem unveränderlichen und unverrückbaren Bestimmt-Sein der Menschen durch ihren Ursprung. Im differentialistischen Rassismus vermengen sich äußerlich sichtbare ethnische und kulturelle Kategorien und werden als naturgegeben definiert (zu einer genaueren Auseinandersetzung siehe Leiprecht 1991, S. 5-21). Der wichtigste Unterschied zwischen dem "alten" und dem "neuen" Rassismus besteht sicherlich darin, daß keine höherstehenden "Menschenrassen" mehr konstruiert werden, sondern daß man davon ausgeht, daß Menschen aus anderen Kulturen sich von uns unterscheiden, eben "anders" sind. Dabei wird ein deutlicher Unterschied gemacht zwischen "unserem" westlichen Lebensstil und dem Lebensstil der "Anderen". Unser Lebensstil, die aufgeklärte Kultur des westlichen Abendlandes, zeichnet sich angeblich durch ihre Individualität und Rationalität und durch eine starke Neigung zu Homogenität aus. Dagegen wird am Lebensstil der Fremden vor allem deren kollektive Organisationsform betont. Diese dichotomische Gegenüberstellung, hier das Individuum und seine Entwicklungschancen und bei den "Anderen" der Kollektivismus, der sich auszeichnet durch sozialen Gruppendruck, hat gewissermaßen den "Vorteil", daß die Europäer nicht unbedingt auf die Überlegenheit der eigenen Kultur hinzuweisen brauchen. Im Begriff des Anderssein verdeutlicht sich ja schon die Weigerung der "Anderen", sich unserem Lebensstil anzupassen. Die "Vorteile" einer solchen Betrachtungsweise für "unseren" Kulturkreis liegen auf der Hand:

"Als die implizit überlegenen Kulturen gelten diejenigen, die den sozialen und politischen Individualismus fördern, im Gegensatz zu denjenigen Kulturen, die ihn hemmen und einengen. Die überlegenen Kulturen wären demnach diejenigen, deren 'Gemeinschaftsgeist' von nichts anderem als vom Individualismus gebildet wird." (Balibar 1989, S. 77)

In den Auseinandersetzungen über Kulturdifferenzen zeigen sich nun aber auch sehr deutlich die Unterschiede zwischen den sexistischen und rassistischen Konstruktionen. Im Gegensatz zu ethnischen und kulturellen Gruppen können Frauen nicht als eine natürliche kulturelle Gemeinschaft dargestellt werden. Sexismus stützt sich in erster Linie auf genetische Differenzen zwischen Mann und Frau, und konstruiert daraus den sozialen Unterschied. Es geht hierbei nicht um die kollektiven kulturellen Unterschiede zwischen Gruppen. Darum können auch innerhalb der kulturellen Gemeinschaften jeweils wieder die Geschlechterunterschiede betont werden. So entstehen dann vor allem die Theorien, die davon ausgehen, daß "wir", in "unserer" westlichen Kultur eine völlig andere Form und Ausprägung von Männlichkeit und Weiblichkeit entwickelt haben. Darauf werde ich gleich näher eingehen.

Festzuhalten bleibt, daß die pluralistische moderne Gesellschaft, trotz ihres ausdrücklichen Anspruchs, keine sozialen Unterschiede mehr zu machen - zumindest nicht auf der Basis von Geschlechtszugehörigkeit oder der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder sozialen Gruppe (Klasse) - diesen Anspruch nicht einlösen kann. Es ist sogar anzunehmen, daß die sichtbaren Unterschiede, wie zum Beispiel andere soziale Umgangsformen, Essen, Kleidung und Religion, die sogenannten kulturellen Praxen, sowie die Reaktion auf körperliche Unterschiede in der subjektiven Praxis in unserer Gesellschaft eine immer stärkere Rolle spielen werden. Bestimmte äußerliche Merkmale werden vermutlich deshalb immer wichtiger, gerade weil sich parallel dazu der öffentliche Diskurs über Gleichheit und Gerechtigkeit von solchen Äußerlichkeiten distanziert. Ich will kurz versuchen, dies am Beispiel von Körper und Sexualität deutlich zu machen.

Das Aussehen eines Menschen kann Aversionen hervorrufen, es kann auch anziehend wirken, je nachdem mit welchen Vorstellungen und Phantasien es besetzt wird. Ein Körper kann Angst oder Verlangen hervorrufen; Angst und Verlangen können sich vermischen, können sich in Ablehnung oder Neugierde äußern. In jedem Falle bestimmen körperliche Merkmale den Umgang von Menschen miteinander. Frauen und Fremde sind jahrhundertelang über ihren Körper und ihre Sexualität definiert worden. Körper und Sexualität haben die Ethnologen, die auszogen um andere Völker zu erforschen, mehr interessiert als jedes andere sozial relevante Thema. Am Körper und am Geschlechterumgang wurden die Unterschiede zum weißen Mann / zur weißen Frau verdeutlicht. Auch hier gibt es vielerlei Analogien zwischen Sexismus und Rassismus. Fanon hat in seiner klassischen Studie "Schwarze Haut, weiße Masken" an zahlreichen Beispielen verdeutlicht, daß die Erniedrigung der Schwarzen sich ausdrücklich über die Aversion gegen ihr Aussehen, ihren Körper vollzieht. Zahlreiche Studien der Frauenforschung haben darauf hingewiesen, daß die Abwertung des Weiblichen sich ebenfalls sehr stark an der Abwertung des Körpers festmacht. Als Beispiele wären hier zu nennen die Menstruation, körperliche Schwäche u.ä. Aber es gibt nicht nur die Abwertung, die Fanon so betont. In den Diskursen über den schwarzen Körper, die in Europa und Nord Amerika vor allem seit der Kolonialzeit existieren, werden durchaus Unterschiede gemacht. So gibt es zahlreiche afrikanische Stämme, die von den Kolonisatoren als "edle Wilde" bezeichnet wurden: so etwa die nordafrikanischen Berber, die Massai in Ostafrika oder die Tuareg, die als Nomaden im nordafrikanischen Raum verstreut leben. Die berühmt berüchtigte Fotografin Leni Riefenstahl zum Beispiel hatte bereits im deutschen Faschismus, aber auch heute noch viel Erfolg mit ihren Fotografien von jungen Nuba und Massai-Männern. Interessanterweise hat sie diese überwiegend in Posen festgehalten, die identisch sind mit denen verführerisch dargestellter exotischer Frauen. Zu "Objekten der Begierde" werden sie vermutlich genau deshalb, weil sie sich nicht nur in kriegerischer, sondern auch in geschmückter und in unterwürfiger oder verführerischer Pose darstellen lassen (siehe zu einer kritischen Betrachtung über die Darstellung der "edlen Wilden": Sommer 1989).

Bei den freien Wüstenmännern, den Tuareg, geht es dagegen wieder um eine andere Form von Männlichkeit, der sie ihre Attraktivität für den westlichen Leser oder Betrachter verdanken. Bertoluccis Film "Himmel über der Wüste" liefert dafür ein gutes Beispiel. Ihre Kleidung ist im westlichen Sinne eher als weiblich zu identifizieren, ihr Freiheitsdrang und ihre Fähigkeiten, die rauhe Natur zu überwinden, lassen sich wohl eher als Inbegriff von Freiheit und Abenteuer konsumieren; die Begegnung mit diesen "edlen Wilden" unterstreicht schließlich mittlerweile auch die Männlichkeit des Chesterfield-Rauchers. An diesem Beispiel wird vor allem deutlich, daß es eben nicht so sehr um den Körper an sich geht, um die Frage also, ob dieser schwarz oder weiß ist, sondern um die Eigenschaften, die ihm zugeschrieben werden.

Daß die zahlreichen Mythen über die emotionellen und sexuellen Eigenschaften von Schwarzen im Alltagsdiskurs noch weit verbreitet sind, wurde auch in einer Talkshow der ARD wieder deutlich (Lindlauer, April 1991). Dort hatte man sich mit dem Thema "multikulturelle Gesellschaft" beschäftigt und dazu auch eine bekannte Schauspielerin eingeladen, die zu ihren zahlreichen Ex-Ehemännern auch einen "muslimischen" Mann zählte. Gefragt nach ihren Erfahrungen mit einem solchen Mann, von dem auch der Gesprächsleiter nur vermuten konnte, daß er sie entsprechend den Regeln seiner Kultur und Religion unterdrückt und erniedrigt habe, antwortete sie sinngemäß: "Ich bin noch von keinem Ehemann so verwöhnt worden. Er war wirklich ein wunderbar sorgsamer Ehemann. Dabei ist er wirklich sehr streng gläubig. Aber - vielleicht liegt das auch daran, daß er schwarz ist. Er ist Afrikaner. Über türkische Männer kann ich nichts sagen. Die sind vielleicht doch mehr Machos." Wir können dieser Aussage entnehmen, daß es in den Vorstellungen über nicht-westliche Männer noch große Unterschiede gibt. Vermutlich ließe sich aus solchen Aussagen eine Art Macho-Hierarchie ableiten. An der Spitze einer solchen Hierarchie stünde dann der weiße westliche Mann, der zum Maßstab wird, um Aussagen über den Grad des "Machismo" beim fremden Mann zu treffen. Wenn wir uns dagegen der Konstruktion Männlichkeit mit der Frage nach der Kinderfreundlichkeit zuwenden würden, käme vermutlich wieder eine andere Hierarchie zustande.

Mit diesen Beispielen wollte ich deutlich machen, daß die Vorstellungen, die Konstruktionen der sozialen Geschlechter sehr unterschiedlich sind. Innerhalb jeder Ethnie, jeder Kultur und jeder sozialen Klasse gilt es zu unterscheiden, wie Männlichkeit und Weiblichkeit definiert sind, wer den Maßstab zu dieser Definition liefert und wer die Definitionsmacht besitzt. Es ist nicht so, daß alle Unterschiede am weißen westlichen Mann festgemacht werden; sondern es wird ganz im Gegenteil sehr deutlich differenziert zwischen den verschiedenen fremden Kulturen und es werden Unterschiede gemacht zwischen den Männern und den Frauen dieser Kulturen. Selbst verschiedene Formen von sozialem Ausschluß, von Ausbeutung, Marginalisierung, Gewalt oder kultureller Unterdrückung werden wiederum unterschiedlich legitimiert. Fest steht jedoch, daß die Konstruktion und Rekonstruktion von "gender" immer in Dichotomien stattfinden. Eine Eigenschaft oder Erscheinung wird als positiv bewertet, indem eine andere negativ besetzt (belegt) wird. "Unsere" westliche Männlichkeit wird sowohl in der Abgrenzung zu westlicher Weiblichkeit als auch zur Männlichkeit und Weiblichkeit fremder Kulturen (re)konstruiert. Genauso wie "unsere" westliche Weiblichkeit sich auch definiert über die Abgrenzung zur Weiblichkeit der fremden Frau. Das möchte im folgenden am Beispiel der Diskurse über die Türkin verdeutlichen. Diese Rekonstruktion erhebt damit nicht den Anspruch allumfassend zu sein; sie will lediglich einen meiner Meinung nach relevanten Teil des heutigen Umgangs mit diesem Thema darstellen, den wir in der Wissenschaft genauso antreffen wie in den Medien - feministische sind davon keineswegs auszunehmen.

4. Die Konstruktion der Orientalin, damals und heute

Die Orientalin der Romantik

Im 19. Jahrhundert standen die erotischen Qualitäten der orientalischen Frau im Mittelpunkt vieler europäischer literarischer Werke (siehe dazu ausführlicher Lutz 1991, S. 10ff.). Dieses Interesse für eine unbeherrscht ausgelebte "orientalische" Sexualität muß im Kontext der damaligen Sexualitätsnormen Europas gesehen werden.

Im viktorianischen Zeitalter galt die keusche zurückhaltende Frau als Weiblichkeitsideal. Orientalinnen dagegen wurden in der Malerei, in der Literatur und in Märchen (Tausend und eine Nacht) als exotisch und erotisch besonders anziehend beschrieben. So widmete beispielsweise der deutsche Orientforscher Franz Carl Endres in den 11 Kapiteln seines Buches "Türkische Frauen" (erschien 1916 sozusagen als Dessert auf sein Hauptwerk: "Die Türkei") allein fünf Kapitel der Schönheit und Verführungskunst der Frauen, der Rest beschäftigt sich mit der Frage der Mutterschaft; lediglich ein Kapitel behandelt die "gelehrte Frau". Das besondere Interesse der männlichen Orientalisten und Dichter galt dem erotischen Haremsleben, das in zahllosen Reiseerzählungen ausgiebig geschildert wird. Da nun männliche Reisende bis auf sehr wenige Ausnahmen (wie z.B. Ärzte) keinen Zugang zu den Frauengemächern der osmanischen Herrscher erhielten, müssen diese Erzählungen als reine Männerphantasien betrachtet werden. Handlungen, die im puritanischen Zeitalter offiziell verboten waren, konnten auf diese Weise in den Orient verlagert werden. Diese Phantasien, die wir u.a. bereits bei Dichtern wie Goethe und Baudelaire finden, konnten sich ausleben in der Beherrschung des weiblichen Körpers der Orientalin. Die fremde Frau wird so zum Inbegriff des Begehrens. Karl Heinz Kohl analysiert die Funktion dieses Diskurses im Kontext der europäischen Romantik und ihrer Reaktion auf die Gleichheitsideale der Aufklärung. In der Neuordnung der Geschlechter, die in dieser Zeit stattfindet, wird die Frau dem Manne als die "Andere" (oder die Fremde) gegenübergestellt.

Dieses "Anderssein" oder "Fremdsein" wird gemessen an der Normalität des Männlichen. Gleichzeitig wird aber auch ein Unterschied gemacht zwischen der Europäerin als der "nahen Fremden" und der Orientalin als der "fernen Fremden" (siehe Kohl 1989, S. 356ff.). Die nahe Fremde, das Ideal der europäischen Frau wird mit Hilfe dieser doppelten Absetzung konstruiert. Die Europäerin ist zwar gleich, aber doch "anders" als der europäische Mann und sie ist zugleich auch "anders" als die Orientalin: sie ist keuscher, zurückhaltender und ihre Sinne sind nicht gerichtet auf Sexualität. Damit wird gleichzeitig aber auch ihre Keuschheit als moralisch höherstehend gewertet als die der Orientalin.

Diese Weiblichkeitskonstruktion bezog sich allerdings eher auf das Ideal der bürgerlichen Frau und keineswegs auf Frauen der Arbeiterklasse.[1] Dagegen konstruiert sich die Männlichkeitsvorstellung dieser Zeit vor allem über das symbolische Messen männlicher Herrschaft. Deshalb wurde auch die unbeschränkte Gewalt des orientalischen Despoten über Harem und Untertanen herausgestellt. Der orientalische Mann - so Kohl - verkörpere damit zwar einen exotischen, aber doch gleichzeitig männlichen Gegner (Kohl 1989, S. 359).

Es gibt in den Diskursen der Jahrhundertwende bereits ein Thema, das sich bis in unsere Zeit durchzieht: die Feststellung, daß sich die Orientalin in einer hoffnungslos unterdrückten Lage befindet und daß der Westen, in erster Linie aber der westliche Mann, sie aus dieser Situation erlösen müsse. Die "türkische Frauenfrage" zählte seit der Jahrhundertwende zu einem der Lieblingsthemen der Deutschen (Akkent / Franger 1987, S. 155). Orientzeitschriften, Boulevardzeitschriften oder deutsche Frauenzeitschriften äußerten sich zu der Frage, wie die türkische Frau sich aus ihrer Lage emanzipieren könne. Daß wir ähnliche Argumentationsmuster noch heute, anno 1991, z.B. in der Zeitschrift "Emma" finden können, werde ich gleich noch verdeutlichen. Seit der Jahrhundertwende jedenfalls gehört zu den unumstößlichen Wahrheiten über die Orientalin auch die symbolische Veräußerung ihrer Unterdrückung durch das Kopftuch oder den Schleier (siehe zu diesem Thema das besonders empfehlenswerte Buch von Akkent / Franger 1987). Gerade zu diesem Thema finden wir in der "Emma" und auch in dem Buch "Nicht ohne meine Tochter" vielerlei Hinweise.

Orientalismus in der Konstruktion westlicher und türkischer Weiblichkeit heute

In der wissenschaftlichen Literatur über türkische Migrantinnen der letzten 20 Jahre läßt sich deutlich erkennen, daß das Orientalismusparadigma des 19. Jahrhunderts weitergeführt wird. Natürlich gibt es Verschiebungen und Veränderungen. Aber dennoch wird immer wieder von der fundamentellen Andersartigkeit des Orients und seiner Kultur ausgegangen. Orientalismus[2] betrachte ich deshalb als eine besondere Form der kulturellen Unterdrückung, die gerade in unseren Tagen eine Wiederbelebung ungekannten Ausmaßes erlebt. In der Darstellung der türkischen Migrantin lassen sich verschiedene Themen unterscheiden, die einander ergänzend oder kumulativ auftauchen, als da sind: Frauenunterdrückung, das Patriarchat, getrennte Lebenswelten und soziale Räume von Männern und Frauen. Abgeleitet werden alle diese Themen aus dem Islam, belegt werden sie mit den Suren des Koran. Der Islam wird zu einem dominanten Erklärungsprinzip für die Unterdrückung der Frau erhoben, wobei implizit und explizit die christliche, westliche Kultur den Maßstab bildet. Vieles weist darauf hin, daß sich die Vorstellungen und Bilder von "unserer" westlichen Weiblichkeit geradezu konstituieren über die Abgrenzung der westlichen Frau gegenüber der Orientalin. Bilder und Selbstbilder über "unsere" Emanzipation benötigen sozusagen die tägliche Rekonstruktion der Unterdrückung und Rückständigkeit islamischer Frauen. Nicht nur für die Konstruktion der europäischen Weiblichkeit ist die Türkin eine willkommene Negativfolie, sondern auch für die europäische Männlichkeit. Kann sie sich doch über die Abgrenzung gegen den türkischen despotischen Patriarchen ihrer eigenen Fortschrittlichkeit im emanzipativen Sinne vergewissern.

Das beharrliche Festhalten an dieser Dichotomie erfüllt damit sowohl für unsere Vorstellung von Weiblichkeit als auch für die der Männlichkeit ihre Funktion auf der Ebene von Ideologie, Symbolik und Praxis. Auch daraus erklärt sich seine Attraktivität bis zum heutigen Tage. Die Verfasser von Mediendiskursen, z.B. JournalistInnen, die heute einen Artikel über türkische Frauen schreiben wollen, müssen die Begründungsmuster nicht erfinden; denn die wissenschaftliche Literatur, die den Markt beherrscht, gibt genug Unterstützung (siehe hierzu auch die Analyse der Migrantinnenliteratur bei Lutz 1991). Der Spiegel-Artikel von Herbst 1990 beispielsweise - "Knüppel im Kreuz, Kind im Bauch" - stützt sich vorrangig auf wissenschaftliche Untersuchungen, wie z.B. die der Soziologin Karin König (1990). König unterbaut ihre Aussagen vor allem mit Beispielen aus der eigenen Praxis; diese gibt ihr auch das Recht zu sprechen und darüber zu schreiben. Schließlich hat sie 15 Jahre lang das "stille Martyrium im Verborgenen" im Frankfurter Frauenzentrum miterlebt. Ihre direkte Involviertheit und ihre Perspektive als helfende Sozialarbeiterin geben ihr das Recht, die Wahrheit über das Elend der türkischen Frauen ans Licht zu bringen. Nun kann König und vielen anderen mit ihr ja gar nicht abgesprochen werden, daß sie in ihrer Arbeit täglich konfrontiert war mit grausamen Formen von Frauenunterdrückung. Daß sie allerdings damit den Anspruch erhebt, die Wahrheit über die türkischen Frauen zu kennen und darzustellen, macht ihr Buch so gefährlich. In den neueren Büchern über die türkische Migrantin wird nun seit einiger Zeit keineswegs vergessen, daß Türkinnen und Türken in unserem Lande auch Opfer von Rassismus sind, meistens als "Ausländerfeindlichkeit" bezeichnet. Bei der Betrachtung der Art und Weise, wie dieses Thema bearbeitet wird zeigt sich jedoch immer wieder, daß "Ausländerfeindlichkeit" als eine zusätzliche Komponente gesehen wird, die das ursprüngliche Elend der Frauen, welches angeblich mit ihrer kulturellen Herkunft zu tun hat, nur noch verstärkt. Bis heute läßt sich dagegen nur in einem sehr geringen Teil der Literatur die Analyse von Rassismus in der deutschen Gesellschaft als konstituierendes Element für die Unterdrückung der türkischen Frauen finden.

Doch es gibt auch ausdrückliche Bemühungen, eurozentristische Reduzierungen zu vermeiden. So beginnt die feministische Wissenschaftlerin Bennholdt-Thomsen die Einleitung zu einer Untersuchung über Türkinnen in der Bundesrepublik mit der Feststellung, das Patriarchat herrsche überall, sowohl in dem Land, aus dem die Frauen stammen, als auch dort, wohin sie gewandert sind. Die Türkei bezeichnet sie als eine patriarchal traditionelle Gesellschaft, die Bundesrepublik als eine sexistische. In beiden Ländern herrsche die "Gleichheit aller Männer im Anspruch auf die Frau" (Bennholdt-Thomsen 1989, S. 16-18). Der Unterschied zwischen den Patriarchaten bestehe darin, daß die Gewaltanwendung in der Türkei und bei türkischen Migranten direkt aus der väterlichen Autorität abgeleitet werde, wogegen sie in der Bundesrepublik indirekt legitimiert werde: "Hier leiten die Männer und Väter ihre Geschlechtsherrschaft vom Geld her und versuchen damit recht erfolgreich, ihre reale Basis der einfachen Gewaltausübung zu verschleiern" (Bennholdt-Thomsen 1989, S. 25).

Von der Übersiedlung in die sexistische Gesellschaft profitieren dann konsequenterweise nur die türkischen Männer. "Türkische Männer sind den deutschen nicht unähnlich, notorische Flüchtlinge vor der emotionalen, ökonomischen und sozialen Verpflichtung gegenüber der Familie. Im Gegensatz zu Frauen haben sie völlige Bewegungsfreiheit. Sie nutzen das eigene Geld und häufig auch das der Frauen, die Erwerbsarbeit und die Männerzusammenhänge dazu, möglichst viel oder völlig abwesend zu sein. Der Anspruch auf den Platz in der Familie und auf den Körper der Frau wird dabei als Hintergrundversicherung aufrechterhalten und, wenn nötig, auch mit Gewalt, vor allem durch Vergewaltigung eingelöst" (Bennholdt-Thomsen 1989, S. 28). Womit Bennholdt Thomsen das Bild des grausamen islamischen Patriarchen wieder zurechtgerückt hätte, denn so grausam ist das "moderne, westliche" Patriarchat in seiner Unterdrückung nicht mehr.

In neueren Untersuchungen über Rassismus und auch über Rechtsextremismus findet man übrigens ähnliche Argumentationsmuster wie sie hier vorgelegt werden. Deutsche autochthone Jugendliche weisen darauf hin, daß für sie die Frauen und Mädchen der Türken als Freundinnen gar nicht in Betracht kommen, also zur Verfügung stehen, weil sie in der Familie festgehalten würden; und autochthone Mädchen äußern ihre Angst vor Gewalt und Vergewaltigung durch türkische Männer (vgl. Leiprecht 1990, S. 249ff.).

Auffällig ist hier wiederum, daß dieser Diskurs über türkische Weiblichkeit und Männlichkeit von beiden Geschlechtern genutzt wird, um die eigenen Praxen als positiv oder den anderen überlegen darzustellen: deutsche autochthone Mädchen können ihre Freunde selbst auswählen und unterstehen keinen familiären Sanktionen, sie sind freier, weil ihnen angeblich mehr Freiraum zugestanden wird, und emanzipierter; der positiven Konstruktion westlicher Männlichkeit kommt zu Gute, daß türkische Männer als potentielle Vergewaltiger gelten.

Ein anderes Thema, welches die westlichen Gemüter (männliche und weibliche) nachhaltig zu bewegen scheint, ist das Kopftuch / der Schleier. Meral Akkent und Gabi Franger haben in einer kulturvergleichenden Studie über dieses Stückchen Stoff versucht deutlich zu machen, welche verschiedenen Motive die Trägerinnen von Kopfbedeckungen damit verbinden. Auch in den ländlichen Gebieten der Bundesrepublik ist es bis heute durchaus üblich, bei der Arbeit ein Kopftuch zu tragen und beim Kirchgang einen Hut. Es gab Zeiten, in denen die Mode das Kopftuchtragen vorschrieb. Heutzutage gilt das Kopftuch- / Schleier-Tragen als wichtigstes Kennzeichen für eine traditionelle Muslimin. In der Regel wird daraus die selbstgewählte Isolation der Trägerin abgeleitet; und es wird daraus die Unterdrückung durch Ehemänner und Väter gefolgert. Regelmäßig wird der Koran, in dem diese Vorschrift übrigens an keiner Stelle wörtlich ausgeführt ist, zur Legitimation angeführt. Nun will ich gar nicht bestreiten, daß die Annahme, der Koran schreibe diese Bekleidung vor, als solche auch unter türkischen Immigrantinnen existiert, und daß sie vor allem von den Geistlichen in der Migrantengemeinde so interpretiert wird. Dennoch gibt es auch die Möglichkeit, wie wir sie gegenwärtig in den westeuropäischen Migrantengemeinden und auch bei jungen Frauen der islamischen Frauenbewegung in der Türkei immer stärker sehen, daß die Trägerinnen auch sehr bewußt diese Kleidung als Zeichen von Autonomie und Widerstand wählen können. Als eine ernstzunehmende Wahl wird sie aber kaum dargestellt, weder in der Migrantinnenforschung (eine Ausnahme sind die Arbeiten von Mihciyagan 1990 und Kalpaka / Räthzel 1990) noch in den Medien. In dem bereits erwähnten "Emma"-Heft zum Golf-Krieg beschäftigen sich von 20 Artikeln 14 ausdrücklich mit der Frage des Kopftuchs / Schleiers. Alle westlichen Frauen bzw. westlich orientierten Frauen werden ohne Kopfbedeckung dargestellt, die unterdrückten Musliminnen, selbstverständlich oft in der Masse gezeigt, hingegen mit schweren Körperschleiern bedeckt. Eine moderne Frau dieses Kulturkreises, die marokkanische Feministin Fatima Mernissi z.B. wird den "Emma"-Leserinnen folgendermaßen vorgestellt: "Ihre Mutter war Analphabetin und ging verschleiert. Die Tochter hat nie einen Schleier getragen und in all ihren Büchern dagegen gekämpft. In ihrer Wohnung in Rabat stehen ein Computer und ein Fax (...)." (S. 11)

Eine moderne Frau, so können wir diesen Zeilen entnehmen, erkennen wir an den modernen Apparaten in ihrer Wohnung und an ihren unbedeckten Haaren. Sicher hat Fatima Mernissi auch gegen den Zwang zum Kopftuchtragen gekämpft; doch ihre Bücher handeln wohl in erster Linie vom Kampf gegen soziale Ungleichheit, die u.a. der französische Kolonialismus in diesem Teil der Welt hinterlassen hat. Beim Lesen der "Emma"-Artikel, ob sich diese mit der Situation der Frauen im Iran, in Algerien, in der Türkei oder mit türkischen Migrantinnen hier beschäftigen, bekommt man allerdings den Eindruck, daß der Kolonialismus den Frauen doch eher Vorteile gebracht hatte und sie erst im unabhängigen Nationalstaat die Opfer des nationalen islamischen Patriarchats geworden sind. Kolonialismus und Rassismus werden nur sehr marginal problematisiert, beziehungsweise als ein "uns Deutschen" fremdes Phänomen bezeichnet. So etwa Schwarzer, wenn sie an Fatima Mernissi die Frage stellt: "Wissen Sie, wir Deutschen hatten kaum Kolonien. Es fällt uns schwer, die Verletztheit und Erniedrigung der Ex-Kolonialvölker zu begreifen."

Sie, wie viele mit ihr (schlimmes Beispiel im gleichen Heft: Elisabeth Badinter), sind sich vermutlich der Tatsache nicht einmal bewußt, daß sie ihre eigene gesellschaftliche Situation symbolisch verbessern, indem sie die Unterdrückung der Frauen in diesen Kulturkreis verlegen. Die westliche Frau, oder besser das konstruierte Ideal der westlichen Frau, wird damit stets zum Maßstab aller Dinge. Die westeuropäische Frau wird sozusagen erst zur fortschrittlichen, emanzipierten, autonomen Person, indem sie Frauen des islamischen Kulturkreises zu Unpersonen reduziert. Und damit trifft diese Aussage einen Kernbereich der Geschlechterformation in "unserem" Kulturkreis.

Ich möchte noch einmal eingehen auf die Kopftuch-Obsession in den westlichen Diskursen. Ursula Ott schreibt in der gleichen "Emma" in ihrem Artikel über eine Türkeireise bundesrepublikanischer Feministinnen: "Am Kopftuch - oder besser gesagt am Schleier - scheiden sich die Geister. Keine leugnet, daß der Anblick einer ganzen Gruppe schwarzverschleierter Frauen auf der Straße - wir nennen sie spöttisch die `Todesvögel' - kein besonders angenehmer Anblick ist." (S. 61) Hätte sie solches wohl auch über schwarzgekleidete Punkmädchen geschrieben? Warum ruft diese Verschleierung solche Aversionen hervor? Eine Erklärung liegt möglicherweise darin, daß in unserer modernen Gesellschaft, in der Äußerlichkeiten doch keinen Unterschied mehr machen (dürfen), eben gerade deshalb dem Körper und seiner Bekleidung soviel Aufmerksamkeit zukommen. Die westliche Frauenbewegung hat jahrzehntelang für die Abschaffung von Kleidungsvorschriften gekämpft. Analog den Vorstellungen und Gleichheitsidealen sollte der Körper keine Rolle mehr spielen. Männliche und weibliche Kleidung haben sich in der Tat in den vergangenen zwei Jahrzehnten einander angeglichen. Und neuerdings gilt es auch unter Feministinnen nicht mehr als verpönt, hautenge Miniröcke zu tragen um damit gleichsam den Unterschied zwischen Männern und Frauen wieder zu betonen. Schließlich leiten sich daraus, so wird angenommen, heutzutage keine Legitimationen mehr ab, eine Frau zu beherrschen oder zu unterdrücken. Der Schleier dagegen symbolisiert diese Unterdrückung, er veräußerlicht die männliche Beherrschung des weiblichen Körpers. Eine andere Erklärungsmöglichkeit ließe sich ableiten aus der Einteilung des öffentlichen und privaten Raumes (siehe hierzu auch Sennet 1977 und Elshtain 1981). Davon ausgehend, daß eine moderne Gesellschaft gekennzeichnet ist durch die Trennung von öffentlich und privat, und damit eingeteilt ist in sichtbare und unsichtbare Bereiche, kann die Aversion gegen den verschleierten Körper folgendermaßen verstanden werden: Eine Frau, die sich durch ein Kopftuch bedeckt, entzieht sich der Sichtbarkeit. Sie verletzt die Regeln, weil sie sich unsichtbar macht, und damit das Private in der Öffentlichkeit symbolisiert. Für die westliche Frauenbewegung gehörte es nun gerade zu den erklärten Zielen, den öffentlichen Raum zu erobern. Eine verschleierte Frau stört vermutlich dieses Bemühen durch ihre Kleidung; sie symbolisiert den Rückschritt. Die Tatsache, daß diese Kleidung auch noch in Verbindung gebracht wird mit einer "rückschrittlichen" Religion verstärkt vermutlich die Abweisung noch.

Alle diese Erklärungsmuster müßten weiter untersucht werden. Fest steht jedoch, daß die Aversion gegen Verschleierung etwas zu tun hat mit der Konstruktion der Geschlechterverhältnisse in West-Europa / Nord-Amerika / Australien.

Abschließen will ich diese Analyse der Bedeutung der Negativ-Folie "orientalische Frau" für "unser" Frauenbild mit dem Hinweis auf den neuen Publikumserfolg "Nicht ohne meine Tochter". Dieses Buch, geschrieben von der Amerikanerin Betty Mahmoody, scheint Millionen Frauen und Männer in Deutschland anzusprechen. Das Buch ist bereits in der 38sten Auflage erschienen, wird als "Sachbuch" bezeichnet, und der Film zum Buch erreicht Millionen. Er handelt von einer weißen US-Amerikanerin, die in den USA einen Anästhesisten heiratet. Dieser Mann besitzt alle gewünschten positiven Eigenschaften: er ist reich, hat eine gute Stellung, er ist höflich, zuvorkommend und verwöhnt seine Ehefrau. Ein idealer Ehemann also? Er besitzt einen "Schönheitsfehler", der ihm zum Verhängnis wird, er ist Iraner, also ein Nicht-Christ, ein Mohammedaner. Solange das Ehepaar in den USA lebt, und er in seinen Bemühungen, eben ein echter Amerikaner zu sein, offenbar erfolgreich ist, bereitet dieser "Schönheitsfehler" keine Probleme. Die beginnen erst, sobald die Familie in den Iran übersiedelt. Das, was die Ehefrau und mit ihr natürlich Millionen von LeserInnen immer gefürchtet hatten, tritt ein. Die wahre Natur des Iraners kommt zum Vorschein. Seine Herkunft, seine Kultur, `sein unveränderliches, unverrückbares Bestimmt-Sein durch den Ursprung' (Balibar) tritt zu Tage; er kann sozusagen nicht anders, er muß sie schlagen, sie erniedrigen, ihr ihre Tochter wegnehmen. Die Leidensgeschichte der Betty Mahmoody beginnt mit der Übersiedlung in den Iran. Die Schreckensherrschaft der iranischen Mullahs bilden die Kulisse für ihren mitreißenden Kampf. Betty kämpft als Christin gegen den Islam. Als Mutter gegen das grausame islamische Patriarchat. Als moderne aufgeklärte Frau gegen die Rückständigkeit der orientalischen Gesellschaft. "Sie ist der Westen pur", schreibt Elke Schmitter im Spiegel: "Sie ist ein tapferes Wesen, vernünftig zur richtigen Zeit, weinend nur in der Kränkung und kaltblütig nur in der Not. Das düstere Rätsel ist ihr Mann, dessen Wandlung vom Amerikaner zum Iraner der von Dr. Jekyll in Mr. Hyde allenfalls landsmannschaftlich nachsteht." (Der Spiegel, 16/1991, S. 224)

Betty Mahmoody hat die Geschichte, die sie erzählt, selbst erlebt; das behauptet sie jedenfalls, und das macht ihre Geschichte auch so überzeugend. Sie hat sie am eigenen Leibe erfahren. Aber interessant an ihrem Fall ist nicht so sehr das, was sie erlebt hat, sondern das, was die Leser und Zuschauer in ihr sehen, was sie für ihr westliches Publikum symbolisiert. Ohne die jahrhundertealte Geschichte des christlichen Feindbildes Islam, die hier aktualisiert wird, ist die Attraktivität des Symbols nicht zu erklären. Damit zusammen hängt aber eben auch die Funktion, die dieses Bild für die Konstruktion des westlichen Geschlechterverhältnisses hat. Für die Rekonstruktion beider sozialen Geschlechter, für die westliche Weiblichkeit wie auch für die westliche Männlichkeit, kommt ein solcher Film wie gerufen. Superioritätsgefühle bedürfen kaum einer Legitimation. Betty Mahmoody kämpft für uns alle; wir sind Betty Mahmoody. Die Wirkung dieses "Werkes" trifft nicht nur Iraner und Iranerinnen; sie trifft alle als solche identifizierten "Muslime und Musliminnen". Mahmoody, der Ehemann, ist der Orient und also sind alle Islamiten das auch.

5. Gegendiskurse?

Gibt es eine Möglichkeit, Gegendiskurse aufzubauen und wie müßten diese aussehen? In meinen Gesprächen mit türkischen Sozialarbeiterinnen im Rahmen meines Forschungsprojektes[3] wurde deutlich, daß sie bei den Bemühungen, Gegendiskurse aufzubauen, immer wieder an ihre Grenzen stoßen. Gerade weil die unumstößlichen Wahrheiten scheinbar zu den Kernwahrheiten unserer Diskurse gehören, gibt es gar keine Sprache, die den anderen Wahrheiten gerecht würde. Keine Türkin in der Bundesrepublik kann natürlich bestreiten, daß es auch unter den Migranten schreckliche Unterdrückung gibt. Da aber jede Aussage in dieser Richtung benützt wird zur Unterstützung der "orientalistischen" Dichotomie, ist es fast unmöglich, zu sagen, was damit wirklich gemeint ist. Niemand will und kann bestreiten, daß Unterdrückung in der türkischen Immigrantengemeinschaft eine wichtige Rolle spielt. Sie ist in der Tat anwesend und in ihrer fünffachen Bedeutung von Ausbeutung, Marginalisierung, Machtlosigkeit, kulturellem Imperialismus und Gewalt analysierbar. Jede Reduzierung einer Analyse auf lediglich eine der fünf Kategorien, die dann auch noch speziell auf die weibliche Migrantin zugespitzt ist, geht aber an der Wirklichkeit vorbei. Weil nun genau dies in den Diskursen unserer Medien stattfindet, entsteht ein essentiell negatives Bild der gesamten Gemeinschaft. Wie aber sollen ImmigrantInnen eine positive Identität auf Negativbildern aufbauen, oder auf einer täglichen Auseinandersetzung mit "Wahrheiten", die den tatsächlichen Erfahrungen im Umgang miteinander vorangingen? Ist vielleicht die "Black is beautiful"-Bewegung, die die negativen Stereotype als Identifikationsbasis positiv gewendet hat, ein Vorbild? In meiner Untersuchung habe ich diese Umkehrung sehr wohl angetroffen. Von meinen Informantinnen wurden oft die positiven Eigenschaften der, wie sie es nannten "türkischen Kultur", herausgestellt. Dafür ein kurzes Beispiel einer jungen Frau der "zweiten" Generation, die als 13jährige zu ihren Eltern in die Niederlande zog. Sie versucht ihre eigenen Erfahrungen mit der niederländischen Gesellschaft als Kontra-Interpretation in einen "Angriff" umzusetzen:

"Wahrscheinlich klingt das jetzt sehr arrogant, was ich sage, aber ich will es trotzdem sagen: ich denke, daß die meisten Niederländer eben nicht so gut wissen, was sie mit ihren Gefühlen anfangen müssen. Das wissen sie einfach nicht. Dieses Rationelle, das ist so wahnsinnig entwickelt. Das kommt immer automatisch an erster Stelle, daß das eben auf Kosten der Emotionen geht" (siehe Lutz 1991, S. 102/103).

Sie interpretiert hier ihre Erfahrung als Ausdruck der Gegensätze Emotionalität und Rationalität. Ihre Herkunft, das Türkisch-Sein, steht für Emotionalität, die Umgangsformen der Niederländer für Rationalität. Aber ihre Aussage gibt nun nicht so sehr Aufschluß darüber, ob die türkische Kultur in der Tat emotioneller ist, sondern darüber, daß sie die Niederländer als rationalitätsfixiert erfährt und darunter leidet. Offensichtlich sieht sie nicht viel Möglichkeiten, den "Anderen" klar zu machen, daß sie ihre Situation und ihre Emotionen Ernst nehmen sollen.

Die Frage, ob eine "türkische" Gegenidentität sich positiv im Kampf gegen Unterdrückung einsetzen läßt, kann ich nicht beantworten. Es ist gibt allerdings Beispiele aus anderen Ländern, daß so eine Gegenidentität politisch aktivierend wirken kann. Der schwarze britische Wissenschaftler Stuart Hall hat aber auch darauf hingewiesen, daß solche Identitäten in politischer, psychischer und kultureller Hinsicht sehr instabil sind. Er verdeutlicht dies anhand seiner eigenen Erfahrung. Er verließ Jamaica in den sechziger Jahren, um in England zu studieren. In England sprach man über seine Herkunftsgesellschaft in einer Weise, die gar nicht seiner eigenen Erfahrung entsprach; er konnte sich nicht darin wiederfinden, daß Jamaicaner für die weißen Engländer eben alle "schwarz" waren. In Jamaica dagegen hatten Menschen jahrhundertelang gelebt ohne sich eben durchgängig als "schwarz" zu sehen und zu bezeichnen. Hall beschreibt seine politische Aktivierung als einen Prozeß, in dem er sich darüber bewußt wurde, daß er "schwarz" war. Diese Definition ist einerseits "aufgelegt" durch die "weiße" dominante Gesellschaft, andererseits bewirkte sie am Anfang auch für viele eine Art Erleichterung, eine Entdeckung des wahren Ich's, die von Zweifeln erlöste und Ruhe versprach. Später jedoch, so Hall, wurde eben doch deutlich, daß auch diese schwarze Identität der Sammelbegriff für eine "imaginäre Gemeinschaft" ist, die schnell an ihre Grenzen stößt (Hall 1991, S. 197). Ähnlich wie in der Frauenbewegung die gemeinsame Klammer "wir Frauen" zur Diskussion gestellt wurde, geschieht dies auch mit der Gemeinschaft "wir Schwarzen". Was können wir davon lernen, was ist übertragbar auf unsere Situation?

Ich glaube, daß es für die Emanzipation von Minderheiten notwendig ist, sich abzugrenzen, und daß es wichtig ist, eine eigene positive Basis zu finden und zu benützen. Doch wird diese Basis immer eine konstruierte Identität sein, die sich auf irreale und reale Elemente stützt, und die als Aktion und Reaktion auf die dominanten Bilder und Selbstbilder entstehen. Doch auch wir, die Angehörigen der dominanten Gruppen können und müssen zu diesem Prozeß Stellung beziehen. Es geht schließlich darum, daß eine Gesellschaft ihren Ansprüchen gerecht werden muß; und eine Gesellschaft, die sich konstituiert über Ungleichheiten ist ja auch für viele Menschen der dominanten Gruppe kein anstrebenswertes Ideal, jedenfalls dann, wenn die Durchsetzung und Absicherung von Privilegien auf Kosten "Anderer" nicht als allgemeingültige Gesellschaftsregel gilt. In Bezug auf politische Kämpfe heißt das, daß Minderheiten auf Teile der Mehrheit als BündnispartnerInnen angewiesen sind. Für die Wissenschaft bedeutet das, daß sie ihre Konzepte verändern muß. Die Frauenforschung in West-Europa kann sich nicht mehr dagegen sträuben, ihre Konzepte zu überdenken, wenn sie sich nicht den Vorwurf machen lassen will, auf einem Auge blind zu sein. Während das eine Auge, welches männliche Konstruktionen kritisiert und verwirft, besonders scharf zu sehen scheint, bleibt das andere Auge blind, indem es die Negativfolie "fremde Frau" als einen Bestandteil der Selbstkonstruktion benötigt.

 

 

 

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