Siegfried Jäger
„Die Sprache bringt es an den Tag.“ Victor Klemperers Beitrag zum
Verständnis des Faschismus und seiner Nachwirkungen in der Gegenwart
Unveröffentlichtes Manuskript des Vortrags vom 4.7.2000 an der Universität Bonn
Die Veranstaltungsreihe, in deren Rahmen ich mich zu Victor Klemperer äußern werde, lautet „Wissenschaft im Nationalsozialismus“. Hierbei handelt es sich um ein riesiges Feld, über das vielfach gearbeitet wurde, das aber erst in groben Konturen erforscht ist. Viele Aspekte dieses Forschungsfeldes liegen weiterhin im Dunkeln; manche sind eher zufällig an den Tag getreten, wie etwa der Fall Schwerte – Schneider aus Aachen gezeigt hat. Dieser Fall hat gleichzeitig offengelegt, daß es einen riesigen Hof von Mitwissern gegeben haben muß, die die Belastetheit von Kollegen vertuschen halfen.
Dazu kam: Nach 1945 wurden an den Universitäten viele Wissenschaftler wieder eingestellt oder alsbald entlastet, die in den Faschismus erheblich oder auch nur mehr oder minder verstrickt waren. Das gilt auch für die Universität Bonn, an der zu studieren ich zwischen 1957 und 1963 ich das zweifelhafte Glück hatte. Einige meiner Lehrer in der Germanistik und der Anglistik hatten ihre Karriere im Dritten Reich begonnen und setzten sie mehr oder minder ideologisch verstrickt auch in den Jahren nach dem Krieg fort.
Wenn ich nun über
Victor Klemperer spreche, so haben wir es auf den ersten Blick mit einer
anderen Kategorie von Wissenschaftler zu tun. Victor Klemperer wurde wegen
seiner jüdischen Herkunft von seinem Lehrstuhl vertrieben und von den Nazis
verfolgt. Er ist nur ganz knapp dem KZ entronnen. War er deshalb bereits ein
Gegenwissenschaftler, einer, dem es um die Entfaltung von Demokratie und
Gerechtigkeit ging? Das war Klemperer zu Beginn seiner Karriere gewiß nicht.
Richtet man einen zweiten Blick auf Klemperer, dann merkt man, daß die Dinge
nicht so einfach liegen. Victor Klemperer war nach seinem eigenen Bekunden im
Ausgang überzeugter deutscher Nationalist und stand völkisch nationalistioschem
Denken durchaus nahe. Er war also durchaus in ein Denken verstrickt, das mit dazu
beigetragen hat, daß der Faschismus des Dritten Reiches möglich wurde. Dies ist
eines der Probleme, auf das ich im folgenden genauer eingehen werde: Konnte
Klemperer sich nur unter dem Druck der eigenen Verfolgung und Betroffenheit von
diesem Denken lösen und hat er es auch wirklich fertiggebracht?
Ich will mit ein
paar Fragen beginnen, die eher an mich selbst gerichtet sind, aber vielleicht
doch allgemeinere Gültigkeit beanspruchen können. Ich frage mich also:
War mein Vater ein
Nazi, weil er bei meiner Taufe darauf bestand, daß ich mit Rheinwasser begossen
wurde? War mein Mutter eine Nazifrau, weil sie darauf bestand, mir diesen
Vornamen anzuheften? Lehrte sie mich nicht, als ich ein Kind von 4 oder 5
Jahren war, jeden Abend, daran zu denken, auch Adolf Hitler, unseren Führer, in
mein Nachtgebet einzuschließen? Waren meine akademischen Lehrer, bei denen ich
von 1957-1963 hier in Bonn studierte, nicht größtenteils Nazis, die zwar nicht
offen agitierten, aber uns mit dem schleichenden Gift völkischer oder doch
ultra-konservativer Wertvorstellungen fütterten; die in den Verzeichnissen mit
dem Kürzel zWv (zur Wiederverwendung) auftauchten, was bedeutete, daß sie ihre
Karriere unterm Hakenkreuz begonnen hatten? Ich denke, sie waren es alle, naiv
oder bewußt, gläubig oder überzeugt. War ich selbst ein Nazi, weil ich im Alter
von acht Jahren am 8. Mai 1945, auf dem Hof spielend, die Nachricht von der
Kapitulation hörte und sofort damit rechnete, daß grüngiftiges Gas vom Himmel
fiele?
Verstrickt waren wir
alle - mehr oder minder, auch über 1945 hinaus.
Meine Beschäftigung
mit Victor Klemperers Kritik an der Sprache im Faschismus ist als Versuch zu
verstehen, diesen Verstricktheiten zu entkommen.[1] Zuerst merkte ich sie gar nicht, doch sie
waren mitten unter uns. Der Krieg war vorbei, das Dritte Reich zerstört. Vor
uns lag die Perspektive einer demokratischen Gesellschaft ohne Wenn und Aber;
ein neuer Anfang, oder besser: überhaupt erst der Anfang, wie es mir schien.
Die Schule, die Universität absorbierte alle Kraft. Es ging nicht an, nach
links oder rechts zu sehen. Erst sehr spät dämmerte mir, daß die alten Zeiten
nicht vorbei waren. Es wurde ruchbar, daß die Regierung, das Militär, die
Wissenschaften und die Schulen vom alten Personal und nur notdürftig verdecktem
völkischen Denken durchsetzt waren. Lebte das noch? Konnte es wiederkehren? So
fragten wir uns, besser: einige fragten, die wie ich in den 50er und Anfang der
sechziger Jahre hier in Bonn studierten. Und wir machten uns auf die Suche,
gruben die Wurzeln aus, fanden Hilfe bei einigen wenigen, die sich erinnerten,
sich damals erinnern wollten, daß es den Holocaust gegeben hatte. Hier lag ein
wichtiger Ausgangspunkt für die Studenten- und Lehrlingsbewegung der 68er
Zeit.)
Einige Bemerkungen zur Person
Zunächst einige Bemerkungen zur Person Victor Klemperers. Klemperer,
geboren 1881, war promovierter Germanist und seit 1920 Romanistik-Professor in
Dresden. 1935 wurde er, wie es hieß, entpflichtet auf Grund des Gesetzes zur
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Er war ein gelehrter Mann, der – wie
gesagt - sich selbst als deutsch-national und konservativ beschrieb. Auch als
Wissenschaftler hing er eher völkischen und völkerpsychologischen Ansichten an
und sah sich etwa in der Sprache den Geist einer Nation realisieren - eine
klassisch völkisch-nationalistische Position.
Diese Einstellung
änderte sich erst, nachdem er zum Juden gemacht worden war und ihm die
Lehrbefugnis an der Dresdener Universität entzogen worden war. Die von ihm so
hoch geschätzte Deutsche Nation entpuppte sich als rassistisch und
antisemitisch, als brutal, mörderisch und kriegslüstern. Zur akademischen
Untätigkeit verdammt, verfolgte er nun über die 12 Jahre Faschismus hinweg das
Geschehen im Dritten Reich, besonders aber seine Ideologie, seine Sprache und
seine sonstigen Manifestationen bis hin zu Aufmärschen, Architektur, Plakaten
und Parolen. Er hielt seine Beobachtungen akribisch in umfänglichen Tagebüchern
fest, aus denen er nach 1945 sein berühmtestes Buch, die Lingua Tertii Imperii destillierte,
als eine Art „Erziehungsbuch“, wie er meinte, mit dem er der Gefahr eines
Rückfalls in die Zeiten des Faschismus begegnen wollte. Nach 1945 trat
Klemperer der kommunistischen Partei bzw. der SED bei. Er machte politisch und
wissenschaftlich Karriere, erhielt hohe Ehrungen. Er starb 1960, ziemlich
resigniert und unzufrieden mit der politischen und gesellschaftlichen
Entwicklung der DDR, die er aber bis zum Ende im Vergleich zur Bundesrepublik
für das kleinere Übel hielt.
Entschuldigt
Klemperers Analyse der Sprache im Faschismus die Täter?
Die Lingua Tertii Imperii, bekannter unter dem Kürzel LTI, las ich wohl
1968 zum ersten Mal. Danach kam sie immer wieder vor in meinen Seminaren über
Sprache und Politik, Sprache des Faschismus, Sprache im Faschismus,
faschstische Sprache in der Demokratie.
Ich hatte meine
Probleme damit. Ich verstand die Lingua Tertii Imperii zunächst als bloßes
Notizbuch, als vorläufiges Skizzenbuch, als zu philologisch und auch als
sprachidealistisch.
Denn Klemperers Text
bedient sich bei der Charakterisierung der Sprache des Faschismus bzw. der
Sprache im Faschismus durchgängig einer Krankheits- und Giftmetaphorik und
bezeichnete sie als eine "Infektion durch fremde Bakterien", als eine
"Krankheit" (LTI 61), als "spezifisch deutsche Krankheit",
als "wuchernde Entartung deutschen Fleisches" (alles LTI 61).
Genau das war es,
was mich mißtrauisch machte; das erinnerte mich zu sehr an einen meiner
ex-faschistischen Bonner Lehrer, nämlich an Leo Weisgerber, der meinte, die
Sprache als solche bestimme - unausweichlich - die „Weltanschauung“, also die
Art und Weise, wie wir (z. B. als Angehörige der deutschen Nation) die Welt
sehen und verstehen. Das roch mir zu sehr danach, als entschuldigte Klemperer,
ohne dies zu wollen, die Menschen, die davon infiziert worden waren. Wie hätten
sie sich angesichts dieses Ansturms von Viren und Bakterien, von Giften und
umnebelnden Rauschmitteln, die in der Sprache enthalten waren, gegen den
Einfluß des Faschismus denn noch wehren können?
Besonders schwer wog
und wiegt noch heute der Vorwurf, daß Klemperer dadurch, daß er die LTI als
eine Art Epidemie charakterisierte, die alle erfaßte, den Schluß zulasse, die
Deutschen seien allesamt "unschuldige Täter"[2]; wenn Klemperer zudem feststellen mußte,
daß auch Juden und sogar er selbst dieser Ansteckung unterworfen gewesen seien,
indem sie selbst Wörter und Wendungen der LTI benutzten (vgl. Tb 6.2.44),
könnte sich dieser Eindruck noch weiter verstärken: sie seien Verführte
gewesen, die sich der Suggestion der faschistischen Propaganda nicht hätten
entziehen können.
Erst später, erst
nach der Lektüre seiner Tagebücher, wurde mir klar daß diese Verstricktheit in
den faschistischen Diskurs für Klemperer keineswegs unabwendbar ist. Daraus
sind auch eine Menge Lehren für die heutige Zeit zu ziehen.
Klemperers Methode:
kleine Archäologie
Eine der wichtigsten Lehren ist vielleicht auch, daß Klemperer unter
dem Druck der Verfolgung allmählich lernte, daß auch sein wiossenschaftlicher
Ansatz nicht zu halten war. Einerseits noch in völkischen Vordtellungen
befangen, überwand er diese doch sozusagen unter dem Druck der Verhältnisse.
Ich möchte zeigen, auch durch die Tagebücher belehrt, daß Klemperers sprach-
und kulturhistorischer Ansatz, so unsystematisch und tastend er auf den ersten
Blick wirkt, so stark er zunächst auch in völkischem Denken befangen war, sich
im Laufe der Zeit so entwickelte, daß er mit modernen diskurstheoretischen
Überlegungen und Verfahren durchaus kompatibel geworden ist, wie diese in neuerer zeit im Anschluß an den
Philosophen Michel Foucault entwickelt worden sind.
Die auf den ersten
Blick verdeckte Theorie und Methode Klemperers sind leicht sichtbar zu machen,
wenn man genau darauf achtet, wie er bei seinen Analysen im einzelnen empirisch
vorgegangen ist, wie er Wörter, Texte und Textfolgen analysiert hat und immer
wieder auf das soziale und politische Geschehen seiner Zeit appliziert hat. Er
sah einen überaus dichten Zusammenehang zwischen Sprache, Macht und Gegenmacht;
und genau dies rückt ihn in die Nähe einer modernen Diskurstheorie, die ja auch
davon ausgeht, daß Diskurse Wissen enthalten und Macht ausüben, insofern sie
subjektives Handeln leiten, gesamtgesellschaftliche Gestaltungsperspektiven
regulieren und – nicht zuletzt - daß sie veränderbar sind.[3] Solche Einsichten haben die
Germanistik und die gesamte
Sprachwissenschaft bis auf den heutigen Tag erst in einigen Randzonen erreicht. Zum
derzeitigen Mainstream gehören sie nicht.
Trotz seiner
ideologischen Befangenheiten und der mangelnden Explizitheit seiner Methode
bietet uns Victor Klemperer Erkenntnisse, die nicht nur für eine Kritik der
Sprache und der Ideologie des Faschismus von Bedeutung sind, sondern auch für
die Analyse gegenwärtiger Diskurse, die ja keineswegs frei sind von völkisch-nationalistischen
Ideologiebestandteilen. Ich werde darauf zum Abschluß meiner Ausführungen kurz
zu sprechen kommen.
Klemperer befaßte
sich in einer ersten Phase etwa bis zum Beginn des Krieges 1939 bei seiner Beobachtung
des faschistischen Diskurses fast auschließlich mit der Betrachtung von
Einzelwörtern; und auch später erfahren Einzelwörter immer wieder seine
besondere Aufmerksamkeit. Aber er konstatiert regelmäßig auch die Grenzen der
wortbezogenen Kritik (etwa Tb 31. März 1942, S. 59). Zudem ist er sich oft
unsicher, wenn es um die Einzelwortanalyse geht, was z.B. in Formulierungen
wie: "Auch das gehört wohl zur LTI.-" seinen Ausdruck findet (Tb.
12.5.44; meine Hervorhebung, S.J.).
Nie aber betrachtet
Klemperer die Wörter selbst als böse, wie dies etwa das nach 1945 erschienene
Wörterbuch von Storz, Sterberger und Süskind tut[4]; er sieht neue semantische Aufladungen,
neue Konnotationen, die aus dem Gebrauch je nach den Kontexten, in denen sie
verwendet werden, entstehen.
Er merkte: Im
Faschismus hatte sich eine neue hegemoniale ideologische Position durchgesetzt,
eine neue "Denkungsart", wie er sagte , die den einzelnen Wörtern und
Phrasen neue Bedeutungen oder doch Bedeutungsnuancen zuordnete bzw. aufherrschte.
(Tb 4.6.42, S. 110) Meist handelt es sich nicht um vollständige Neuprägungen
oder Sinnumkehrungen, sondern nur um leichte Sinnverschiebungen, etwa wenn es
hieß: „Ein deutscher Junge weint nicht“. Hier wurde dem „Deutschen Jungen“ eine
Vorstellung von harter Männlichkeit zugewiesen.
Totale
Sinnumkehrungen gab es zwar auch, etwa bei dem Wort fanatisch, das absolut
positiv besetzt wurde; sie stellten aber die Ausnahme dar.
Die Zahl der Belege,
die Klemperer anführt, ist allerdings sehr klein, und er findet bald schon
wenig Genügen daran. Er notiert: "Als bloßes LTI würde mein vorschwebendes
Opus wenig mehr enthalten als zwei Dutzend Wörter und Wendungen." Und es
meldet sich der Selbstzweifel: "Ich muß erweitern - aber wohin erweitern?"
(Tb 9.6.42, S. 117)
Dieser Zweifel hört
auch nach der Befreiung vom Faschismus nicht auf. "Die LTI-Exzerpte
stocken wieder und sind überhaupt unergiebig." Schreibt er nach Ende des
Kriegs in sein Tagebuch. (Tb 19.1o.45, S. 165).
Doch es finden sich
in seinen Tagebuch-Texten außerordentlich viele Reflexionen über Sprache
allgemein und über faschistische Texte im Besonderen.
Klemperers Dossier
Klemperer war zunächst einmal und in erster Linie Empiriker. Das heißt:
Er sammelte und sichtete ungeheuer umfangreiches Material und klopfte es darauf
hin ab, was er als LTI empfand. Dabei hat er im Laufe der 12 Jahre des
Faschismus ein umfassendes und in hohem Maße für die faschistische Sprache
charakteristisches Dossier, eine erstaunlich umfassende Materialgrundlage
angesammelt.
Klemperer bedauert
zwar: "Alles Material mußte auf Schleichwegen herangeschafft, mußte
heimlich ausgebeutet werden." (LTI 18) Und er beschreibt die Mühsal der
Materialbeschaffung, aber auch seine ungewöhnlichen Wege, den faschistischen
Diskurs zu erfassen: "Ich habe, wie sich mir gerade die Möglichkeit des
Lesens ergab ... bald den >Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts< und bald
ein >Taschenjahrbuch für den Einzelhandelskaufmann< studiert, jetzt eine
juristische und jetzt eine pharmazeutische Zeitschrift durchstöbert, ich habe
Romane und Gedichte gelesen, die in diesen Jahren erscheinen durften, ich habe
beim Straßenkehren und im Maschinensaal die Arbeiter sprechen hören: es war
immer, gedruckt und gesprochen, dasselbe Klischee und dieselbe Tonart."
(LTI 25f.)
Zusammenfassend kann
man sagen, daß Klemperer den gesamten faschistischen Diskurs qualitativ relativ
vollständig erfaßt hat, gerade weil sein Material zwangsläufig breit gestreut
war und eine Vielzahl von Textsorten und Sprachebenen entnommen werden mußte.
Dafür, daß Klemperer
den faschistischen Diskurs ziemlich vollständig erfaßt hat, spricht auch ein
Vergleich mit den "Meldungen aus dem Reich" (Boberach (Hg.) 1963),
die Klemperer selbstverständlich unbekannt waren, die aber im wesentlichen dieselben
Inhalte transportieren wie sein Dossier.[5]
Das damit skizzierte
und gewürdigte Materialcorpus, das Klemperer sichtete, stellt nun die
eigentliche Grundlage für seine sprachlichen Reflexionen und Analysen dar.
Wichtig ist hierbei zu beobachten, daß Klemperer sich neben fortdauernder
Einzelwortbetrachtung immer häufiger und immer intensiver auch ganze Texte
vornimmt. Und dies begründet er wie folgt: "das Einzelwort, die
Einzelwendung können je nach dem Zusammenhang, in dem sie auftreten, höchst
verschiedene, bis ins Gegenteil divergierende Bedeutung haben, und so komme ich
doch wieder auf das Literarische, auf das Ganze des vorliegenden Textes zurück.
Wechselseitige Erhellung tut not, Gegenprobe von Einzelwort und
Dokumentganzem..." (LTI 158)
Er setzt sich, wenn
auch öfters in sehr knapper Form, mit ganzen Artikeln und Artikelfolgen
auseinander. Seine Aufmerksamkeit richtet sich damit auf die Wirkung ganzer
Texte, die komplexere gedankliche Zusammenhänge enthalten. Dabei betreibt er im
Ansatz so etwas wie kleine Diskursanalysen und ordnet so die Texte dem zu, was
er LTI nannte, mit anderen Worten: dem faschistischen Diskurs.
Klemperers
Text-Analysen, die in hunderten von Eintragungen über die Tagebücher verstreut
sind, liegt ein sehr differenziertes und umfassendes text- und
diskursanalytisches Instrumentarium zu Grunde. Er untersucht die Metaphorik,
die Bildlichkeit, die Kollektivsymbolik, Bedeutungsfelder wie Religion, Sport,
Militär, feste sprachliche Wendungen und Redensarten, Argumentationsstrategien
wie etwa Verleugnungs- oder Relativierungsstrategien, (unzulässige)
Verallgemeinerungen, Implikate, deren Auflösung das Lesen zwischen den Zeilen
ermöglicht; nicht-wörtliches Sprechen, das Auftreten von Widersprüchen,
Euphemismen, Superlative und Übertreibungen, Aktanten und
Freund-Feind-Schemata, die Verwendung und Funktion von Fremdwörtern, die
Stigmatisierung durch Namen, den Tonfall von Reden, die Funktion von
Sprechchören, Besonderheiten der Interpunktion, Quellen des Wissens und deren
Problematisierung sowie den sprachlichen Stil insgesamt.
Für die Anwendung
dieser analytischen Kriterien führt Klemperer eine große Fülle von Beispielen
und Belegen an.
Die Analyse des
faschistischen Diskurses und seiner Wirkung auf die Bevölkerung
Das skizzierte Analyseverfahren Klemperers kann füglich als
Diskursanalyse bezeichnet werden, wenn man Diskurs als "Fluß von Wissen
bzw. sozialen Wissensvorräten durch die Zeit" begreift; eines Wissens, das
sich netzartig und wuchernd über die Gesellschaften gelegt hat. Dieses Wissen
bestimmt die Entwicklung der Gesellschaften und die Konstitution der Subjekte,
die in das bewußtseins-generierende Netz der Diskurse verstrickt sind.[6]
Klemperer formuliert
diesen Sachverhalt wie folgt: "Im Sprachstrom aber schwimmen sämtliche
Kulturelemente, die man bewußt oder unbewußt in sich aufnimmt. Musik, Malerei,
Architektur geben Einzelaspekte - Sprache enthält das gesamte Geistige. Und das
gesamte Geistige ist von der Sprache nicht zu trennen. Logos ist das Wort, und
Logos ist das Denken, und das Denken ist gewollte Tat". (Tb 28.1.43, S.
322).
In der Fortsetzung
dieses Zitats zeigt sich zugleich aber, daß Klemperer sich noch nicht restlos
von den sprachidealistischen und völkerpsycholgischen Ideen und insbesondere
von der Terminologie seiner Zeit gelöst hat. Da heißt es: "Bin ich einmal
in einer Sprache aufgewachsen, dann bin ich ihr für immer verfallen, ich kann
mich von dem Volk, dessen Geist in ihr lebt, auf keine Weise, durch keinen
eigenen Willensakt abwenden, durch keinen fremden Befehl absondern lassen."
Auf solche Formulierungen beriefen sich diejenigen, die Klemperer den Vorwurf
machten, daß seine Sprachkritik die Täter entschuldige. Doch bei genauem Lesen
ist festzustellen, daß Klemperer sein Modell durchaus modifiziert und
ausdifferenziert.
Einige Jahre später
heißt es etwa in der LTI: "der Nazismus glitt in Fleisch und Blut der
Menge über durch die Einzelworte, die Redewendungen, die Satzformen, die er ihr
in millionenfachen Wiederholungen aufzwang und die mechanisch und unbewußt
übernommen wurden... Aber“ so fährt er fort, „Sprache dichtet und denkt nicht
nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches
Wesen je selbstverständlicher, je unbewußter ich mich ihr überlasse. Und wenn
nun die gebildete Sprache aus giftigen Elementen gebildet oder zur Trägerin von
Giftstoffen gemacht worden ist? Worte können sein wie winzige Arsendosen: sie
werden unbewußt verschluckt, sie scheinen keine Wirkung zu tun, und nach
einiger Zeit ist die Giftwirkung doch da." (LTI 21)
Hier sieht Klemperer
Sprache keineswegs als Schicksal, dem man nicht entkommen kann; es wird
durchaus ein individueller Bewegungsspielraum gesehen: Der sprachliche
Determinismus wird dadurch aufgelöst, daß ein Grad seiner Wirksamkeit
konstatiert wird: man muß sich dem Diskurs ja nicht selbstverständlich und
unbewußt überlassen. Darauf wird zurückzukommen sein.
Klemperer sieht, daß
es nicht das einzelne Wort und der einzelne Text ist, der nachhaltig auf das
Bewußtsein der Menschen wirkt, sondern die langfristige und ständige
Verstrickung in den Diskurs, der sich netzartig über die Gesellschaft legt und
in den jeder einzelne verwickelt ist. Das meint Klemperer, wenn er von der
Wirkung der millionenfachen Wiederholung immer des Gleichen spricht.
Mit diesem Konzept
der Verstrickung der Menschen in diskursive Netze erklärt Klemperer sich die
Gläubigkeit der Bevölkerung gegenüber der faschistischen Ideologie. Er
konstatiert: "Die mannigfachen ans Jenseitige rührenden Ausdrücke und
Wendungen der LTI bilden in ihrer Gemeinsamkeit ein Netz, das der Phantasie des
Hörers übergeworfen wird und das sie in die Sphäre des Glaubens hinüberzieht.
Ist dieses Netz wissentlich geknüpft, beruht es, um den Ausdruck des
achtzehnten Jahrhunderts zu gebrauchen, auf Priestertrug? Zum Teil sicherlich.
... Aber die Wirkung des einmal vorhandenen Netzes von sich aus scheint mir
völlig gewiß; der Nazismus wurde von vielen Millionen als Evangelium
hingenommen, weil er sich der Sprache des Evangeliums bediente." (LTI 126)
Klemperer betont auch die relative Selbständigkeit solcher Netze, wenn sie sich
einmal erst herausgebildet haben.[7]
Und er betont immer
wieder, daß die propagandistische Zurichtung des faschistischen Diskurses so
hermetisch und total gewesen ist, daß seiner Wirkung schwer zu entgehen ist.
Er zeigt, wie der
gesellschaftliche Diskurs totalitär homogenisiert und zementiert wurde, und
zwar von Beginn der faschistischen "Machtübernahme" an. Klemperer
schreibt dazu: "Immerhin: soviel schlimmer es auch kommen sollte, alles,
was sich noch später an Gesinnung, an Tat und Sprache des Nationalsozialismus
hinzufand, das zeichnet sich in seinen Ansätzen schon in diesen ersten Monaten
ab." (LTI 46)
Dabei richtete sich
die faschistische Ansprache in erster Linie an Gefühl und Instinkte, nicht an
die Vernunft:
"Die ganze Gefühlsverlogenheit des
Nazismus, die ganze Todsünde des bewußten Umlügens der vernunftunterstellten
Dinge in die Gefühlssphäre und des bewußten Verzerrens im Schutz der
sentimentalen Vernebelung..." (LTI 251)
Immer wieder versucht Klemperer, seine Beobachtungen zusammenfassend,
den Diskurs des deutschen Faschismus und seine Funktion begreiflich zu machen.
Dabei betont er die außerordentliche Armut und Einförmigkeit, aber auch die
Wirksamkeit dieses Diskurses, selbst für diejenigen, die Widerstand leisteten
bzw. ausgegrenzt wurden: "Im Nationalsozialismus ... herrscht die
uniformierte Armut der Sklaverei. Mit den Schlagwörtern und
>Ausrichtungen< Hitlers und Goebbels' arbeiten wir alle. Wer eine andere
Sprache reden will, wird mindestens mundtot gemacht. Derselbe Jargon auf allen
Gebieten." (Tb. 6.2.44, S. 482) Und er fragt: "Wie muß heute die Welt
in einem Kopfe aussehen, dem alles das in früher und widerstandloser Kindheit
farbig eingeprägt wurde!" (LTI 288)
Zur Einförmigkeit des
faschistischen Diskurses bemerkt Klemperer lapidar: "alles ist
abgelatscht. Sehr wenige Gedanken, sehr wenige stilistische Wendungen. Immer
bis zum Überdruß dasselbe." (Tb. 5.7.44)
Der vorherrschende
(hegemoniale) Diskurs wird zudem dadurch im Sinne der Faschisten homogenisiert,
daß Zensur ausgeübt wird, besonders "verschärft" gegen Ende des
Krieges. (Tb. 23.1.44, S. 477) Und Klemperer schlußfolgert: Die LTI "ist
wirklich total gewesen, sie hat in vollkommenerer Einheitlichkeit ihr ganzes
Großdeutschland erfaßt und verseucht." (LTI 296)
Auf diesem
Hintergrund erhebt sich noch einmal die Frage, ob sich die einzelnen Subjekte
der Macht der Diskurse überhaupt widersetzen können. Um dem damit verbundenen
Problem der subjektiven Verantwortlichkeit genauer auf die Spur zu kommen, sind
einige weitere Überlegungen anzustellen. Die Prägung des Subjekts durch den
Diskurs bzw. das diskursive Gewimmel, in das wir Menschen verstrickt sind,
behandelt Klemperer in der folgenden Passage genauer:
"Originalität
(des einzelnen, S.J.) liegt in der Art des Adaptierens, in dem Verschmelzen des
Überkommenen oder Gleichzeitigen mit der eigenen Persönlichkeit ..." (Tb.
28.8.1942, S. 224) Das klingt hochmodern und läßt sich mit den Überlegungen des
französischen Soziologen Pierre Bordieu zum Verhältnis von Individuum und
Gesellschaft durchaus vergleichen, in denen den Subjekten durchaus ein
„Möglichkeitsspielraum“ zugewiesen ist. (Bourdieu 1982)
Ausführlich
thematisiert Klemperer jedoch die diskursive Verstricktheit selbst von Gegnern
des Regimes oder sogar von Juden in den faschistischen Diskurs. Klemperer ist
entsetzt, als er bemerkt, wie Freunde oder auch er selbst sich "der
Sprache des Siegers" bedienen (LTI 202 ff.), und er kritisiert: "Ich
ärgere mich über das Nachplappern der LTI-Wörter durch die Juden und sündige
doch selbst (indem ich etwa sage, S.J.): >Herr Stühler, wegen Benutzung des
Badezimmers - haben Sie diesen Sonntag 'Arbeitseinsatz'!<." (Tb.
6.2.44, S. 483)
Arbeitseinsatz – das
ist durchaus ein Wort, das der faschistischen Befehlssprache angehörte. [8]Klemperer konstatiert: "Ich beobachtete
immer genauer, wie die Arbeiter in der Fabrik redeten und wie die
Gestapobestien sprachen und wie man sich bei uns im Zoologischen Garten der
Judenkäfige ausdrückte. Es waren keine großen Unterschiede zu merken; nein,
eigentlich überhaupt keine. Fraglos waren alle, Anhänger und Gegner, Nutznießer
und Opfer, von den selben Vorbildern geleitet." (LTI 17)
Wie die Verstrickung
funktioniert, beschreibt Klemperer an einem konkreten Beispiel: Eine Frau, die
ihm wohlgesonnen ist und ihm die Zwangsarbeit schon öfters zu erleichtern
versucht hat, grüßt ihn mit "Heil Hitler!", weil sie ihn mit dem
Vorarbeiter verwechselt. Am nächsten Tag entschuldigt sie sich dafür: Man
ordnet sich den hegemonialen Ritualen unter, weil man Nachteile und Bestrafung
fürchtet.
Klemperer
reflektiert denn auch: "ob alle, die über Goebbels' allzu starke Lügen
lachten oder schalten, nun auch wirklich unberührt von ihnen blieben."
(LTI 236) Er macht sich Gedanken darüber, wie es möglich ist, daß nahezu alle
durch den faschistischen Diskurs geformt sind und in ihm entsprechende
Handlungsbereitschaften entwickeln. Er schreibt dazu: "Das Gefühl hatte
das Denken zu verdrängen - es mußte selber einem Zustand der betäubten Stumpfheit,
der Willens- und Fühllosigkeit weichen; wo hätte man sonst die notwendige Masse
der Henker und Folterknechte hergenommen?" (LTI 259)
Er sieht - in seiner
eigenen Diktion - die Macht der Diskurse und ihren subjektprägenden
Determinismus sehr klar, und schreibt: "Sprache dichtet und denkt nicht
nur für mich, sie lenkt auch mein Gefühl, sie steuert mein ganzes seelisches
Wesen"; aber er fährt dann fort, und das ist sehr wichtig, und deshalb
zitiere ich es noch einmal: "je selbstverständlicher, je unbewußter ich
mich ihr überlasse." (LTI 21, meine Hervorhebung, S.J.)
Mit diesem letzten
Satz deutet er an, wie diesem Determinismus zu entkommen wäre, nämlich indem
man sich diesen Diskursen eben nicht selbstverständlich und unbewußt überläßt.
Nur wenn ich nicht darauf achte und ich mich nicht damit auseinandersetze, bin
ich den Einflüssen dieses Diskurses ausgeliefert und beginne faschistisch zu
denken und mich in den faschistischen Diskurs zu integrieren.
Wie schwer es aber
ist, den Wirkungen des faschistischen Diskurses zu widerstehen, betont
Klemperer immer wieder, wenn er z.B. sagt: "Irgendwann überwältigt mich
die gedruckte Lüge, wenn sie von allen Seiten auf mich eindringt, wenn ihr
rings um mich her nur von wenigen und immer wenigern und schließlich von keinem
mehr Zweifel entgegengebracht werden." (LTI 237)
Das verweist auf die
Verantwortung der Medien und der Politik und natürlich auf die der einzelnen
Subjekte selbst. Wenn diese Verantwortung nicht wahrgenommen wird, wie dies im
faschistischen Deutschland der Fall war, wenn bewußt strikt ideologisch
reguliert wird, ist Entkommen allerdings schwer.
Klemperer zeigt, wie
die Umstände selbst uns zu kritischerem Nachdenken zwingen können. Unter dem
Druck des gegen ihn ausgeübten Terrors wandelte er sich vom deutschen
Nationalisten zum Kommunisten. Solche Wandlungen beobachtet er auch bei
anderen, etwa bei den Arbeitern, wenn er schreibt: und "Die Arbeiter waren
erst recht nicht nazistisch gesinnt, sie waren es mindestens im Winter 1943/44
nicht mehr." (LTI 101)
Klemperer ist trotz
solcher Beobachtungen der Vorwurf gemacht worden, seine Sprachkritik
entschuldige die Täter und Mitläufer.[9]
Zu bedenken ist in
diesem Zusammenhang jedoch, daß die Technik der Massenbeeinflussung im
Faschismus intensiv strategisch vorbereitet und hoch entwickelt war. Klemperer
zitiert Goebbels, welcher gesagt hatte: "Wir müssen die Sprache sprechen,
die das Volk versteht. Wer zum Volke reden will, muß, wie Martin Luther sagt,
dem Volke aufs Maul sehen." (LTI 246)
Die Wirkung solcher
Ansprache erfolgt selbstverständlich nicht mit einem Schlag. Diskursanalytisch
formuliert, ließe sich sagen, daß die Subjektbildung im Diskurs einen lange
währenden Prozess darstellt, in dessen Verlauf die jeweilige subjektive
Diskursposition bzw. die "Denkungsart" durch ständige Reproduktion
gleicher oder ähnlicher Inhalte allmählich herausgebildet wird. Der damit
konstatierte Determinismus der Diskurse entschuldigt allerdings keinen und
keine, der und die sich in den faschistischen Diskurs verstricken läßt. Er
macht sie nicht zu willenlosen durch Sprache manipulierten Opfern.
Dies markiert das
Versäumnis oder auch die mangelnde Fähigkeit der meisten Deutschen während des
Faschismus, insbesondere das der Intellektuellen, sich mit der Ideologie des
Faschismus auseinanderzusetzen. In der "Bibel" der Nazis, Hitlers
"Mein Kampf", wäre sie für jeden nachzulesen gewesen. So meinte denn
auch Klemperer: "Es wird mir immer das größte Rätsel des Dritten Reichs
bleiben, wie dieses Buch in voller Öffentlichkeit verbreitet werden durfte, ja
mußte, und wie es dennoch zur Herrschaft Hitlers und zu zwölfjähriger Dauer
dieser Herrschaft kommen konnte, obwohl die Bibel des Nationalsozialismus schon
Jahre vor der Machtübernahme kursierte". (LTI 29)
Doch Klemperer
erklärt nachvollziehbar, wie Untertanengeist und mangelnde Kritikfähigkeit die
Menschen der faschistischen Ideologie hat folgen lassen. Sie haben sich als
gelernte Untertanen dieser Ideologie unterworfen, sie als neue Glaubenslehre
verinnerlicht und gefeiert.
Widerstand
Allerdings hat es durchaus Versuche gegeben, den herrschenden Diskurs
subversiv zu unterlaufen. Klemperer gibt Beispiele widerständiger Rede wie etwa
regimekritische Witze (Tb. 5.7.43, S. 401), die, wie er beobachtet, gegen
Kriegsende zunehmen; in seinem Umfeld lehnten Menschen es ab, Reden der
Faschisten zur Kenntnis zu nehmen (etwa Goebbels ständige Radioansprachen und
Zeitungskommentare; vgl. Tb. 5.6.1943, S. 388). Klemperer selbst hörte
Fremdsender und ließ sich häufig von abgehörten Sendungen berichten (ebd.). Zu
diesen kleinen Widerständen gehören auch verbreitete Verballhornungen des
faschistischen Jargons. So wird die Abkürzung von Luftschutzraum LSR, die an
jedem Hauseingang angebracht war, zu: "Lernt schnell Russisch!" (Tb.
4.9.44, S. 575)
Widerständige
Sprache war notwendig, um sich über die Verbrechen zu verständigen: Es war
verboten, Personalnachrichten weiterzugeben, etwa über Todesfälle: Klemperer
berichtet von einer Unterschrift auf einer Postkarte: "Witwer Wisch"
(Tb 21.2.44, S. 489), eine Formulierung, durch die der Schreiber mitteilte, daß
seine Frau ermordet worden war.
Und es gab auch sehr
bittere Witze mit euphemistischem Charakter: Ermordete Menschen wurden "zu
den Himmlerischen Heerscharen einberufen (von Hingerichteten)" (Tb. 7.2.44,
S.484); oder jemand sagte: "Eh ick mir hängen lasse, jloob ich an 'n
Sieg!" (Tb 27.9.44, S. 597) Ähnlich funktionierte auch der ironische Gruß:
"Bleiben Sie übrig!" (Tb. 7.2.44, S.484)
Zugleich berichtet
Klemperer über die schärfste Unterdrückung solcher Versuche von Gegenwehr, und
er schreibt: "Die kleinste defätistische Äußerung genügt für
Todesurteil." (Tb. 15.9.43, S. 428)
Es bleibt zu fragen,
welchen Stellenwert die Tagebücher Klemperers und seine LTI für eine Analyse
des NS-Faschismus insgesamt haben.
Die Analyse des
faschistischen Macht-Dispositivs
Betrachtet man
insbesondere die Tagebücher aus der Perspektive heute entwickelter Theorien und
Analyseverfahren, so kann man sie als Materialien für die Analyse
NS-faschistischer Macht-Dispositive verstehen, die bereits eine Fülle von
interpretativen Ansätzen für eine solche Analyse enthalten. Darauf kann ich an
dieser Stelle nur verweisen, da es diesen Vortrag überdehenen würde, wenn ich
diesem Aspekt genauere nachginge.
Dies sticht
besonders dann hervor, wenn man Klemperers Tagebücher auf dem Hintergrund
dessen liest, was Michel Foucault unter dem Begriff des Dispositivs versteht.
Dieser schreibt: "Was ich unter diesem Titel festzumachen versuche ist
erstens ein entschieden heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen,
architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, administrative
Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder
philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt."
(Foucault 1978, S. 120)
Die Analyse solcher
Dispositive zielt darauf ab, das hinter diesen Diskursen, Praxen und „Dingen“
stehende spezifische Wissen zu ermitteln, das in wie auch immer modifizierter
Form von Generation zu Generation, vermittelt über Institutionen wie Familie,
Schule, Alltag, Medien und Politikeransprache weitervererbt wird.
Ich meine, daß
Klemperer, jedenfalls in relevanten Ausschnitten, die er aus seiner Perspektive
und über andere Wissensquellen in den Blick bekommt, eine solche Dispositiv-Analyse
geleistet hat. In der Einleitung zur LTI operiert Klemperer mit einem sehr
weiten Sprachbegriff, der den Foucaultschen Begriff des Dispositvs im Ansatz
vorwegnimmt, wenn er schreibt: "Das Dritte Reich spricht mit einer
schrecklichen Einheitlichkeit aus all seinen Lebensäußerungen und
Hinterlassenschaften: aus der maßlosen Prahlerei seiner Prunkbauten und aus
ihren Trümmern, aus dem Typ der Soldaten, der SA- und SS-Männer, die es als
Idealgestalten auf immer andern und immer gleichen Plakaten fixierte, aus
seinen Autobahnen und Massengräbern. Das alles ist Sprache des Dritten
Reichs..." (LTI 16)
Auch der
Zusammenhang von großer Rede und Umgebung wird von Klemperer analysiert. Er
schreibt: "In gewissem Sinn kann man den festlich geschmückten Markt oder
die mit Bannern und Spruchbändern hergerichtete Halle oder Arena, in der zu der
Menge gesprochen wird, als einen Bestandteil der Rede selber, als ihren Körper
ansehen; die Rede ist in solchem Rahmen inkrustiert und inszeniert, sie ist ein
Gesamtkunstwerk, das sich gleichzeitig an Ohr und Augen wendet, und doppelt an
das Ohr, denn das Brausen der Menge, ihr Applaus, ihr Ablehnen wirkt auf den
Einzelhörer mindestens gleich stark wie die Rede an sich." (LTI 57)
Klemperer macht
zudem "auf die architektonische Kraftprotzerei aufmerksam"; und
wieder konstatiert er: "auch sie ist LTI" (LTI 277); und auch den
sog. Reichtagsbrand begreift er als Bestandteil der LTI. (LTI 58)
Solche Beobachtungen
außerhalb der Sprache im engeren Sinne finden sich keineswegs selten, so auch
im folgenden Zitat: "Ähnlich kokettieren jetzt die Weiber mit ihren
Schwangerschaften. Sie tragen den Bauch wie einen Parteiknopf. Auch das gehört,
wie die Rune und das zackige SS zur LTI. Ganz Deutschland ist eine
Fleischfabrik und Fleischerei." (Tb 27.7.42, S. 188)
In der LTI – seinem
„Erziehungsbuch“ - selbst beschränkt Klemperer sich leider jedoch auf die
solcher diskursiven Praxen, mit der Begründung, er sei ja gelernter Philologe.
Doch die LTI ist ja kein völlig neu geschriebenes Buch, keine stringent
entwickelte Kritik an der Sprache des Faschismus. Sie ist ja im wesentlichen
nichts anderes als eine zumal sehr selektive Zusammenstellung der LTI-Notizen
aus den Tagebüchern der 12 Jahre faschistischer Herrschaft, die er geordnet und
kommentiert hat. Er fällt damit ein Stück weit hinter seine Analysen aus den
Tagebüchern zurück und schränkt – darin auch Kind seiner Zeit – hinter bereits
Begriffenes wieder ein.
In den Tagebüchern
aber betrachtet Klemperer die faschistischen Institutionen, die Praxen der
Judenverfolgung und -ausgrenzung konkret, die Lebensbedingungen der Menschen,
der Juden und "Arier", wissenschaftliche Aussagen, Gesetze, die
Arbeitsbedingungen, den Krieg und die Kriegsfolgen, die Medien und deren
Wirkung und den Alltag; er charakterisiert die faschistische Ideologie, die
Strafpraxen und Hinrichtungsformen - und zusätzlich die sprachlichen und
medialen Prozesse und Hervorbringungen. Mit den Tagebüchern liegt demnach eine
Art Dispositivanalyse vor, die insgesamt viel mehr über den deutschen
Faschismus aussagt als dies die Betrachtung der sprachlichen Praxen alleine
vermöchte.)
So viel sei gesgat,
daß Klemperers Beitrag zum Verständnis des Faschismus von unschätzbarem Wert
ist. Darüber hinaus liegt für uns Heutige vielleicht sein wichtigstes
Vermächtnis darin, uns für das, was in unserer Gegenwart vor sich geht, zu
sensibilisieren und kritikfähig zu machen, damit wir uns und andere diesen
diskursiven Verstrickungen nicht selbstverständlich und unbewußt aussetzen.
Klemperer selbst ist allerdings ein Beispiel dafür, daß dies nicht leicht ist.
Erst die existenzielle Bedrohung brachtew ihn zum Nachdenken und zur Absage an
seine ursprünglich völkische Position. Das heißt nicht, daß es nötig ist, solchen Druck abzuwarten. Klemperers
Erkenntnisse liegen ja inzwischen vor. Es kommt darauf an, sie zu beherzigen
und praktisch umzusetzen.)
Klemperers
Beobachtungen zum politischen Diskurs nach 1945: Lingua Tertii Imperii
Klemperer selbst versuchte dies vehement nach der Befreiiung vom
Faschismus. Er fürchtete das Fortleben der faschistischen Ideologie nach dem
Dritten Reich. So schreibt er: "Wie lange wird es dauern, bis man aus
diesen Kinderköpfen den nationalsozialistischen Unrat entfernt haben
wird?" (Tb. 30.1.44, S. 481). Aber er sieht auch, daß dieser ideologische
Wissensfluß nicht erst mit der Zeit des Faschismus an der Macht entstanden ist.
Er weiß: "Die Hitlerei hat tiefe Wurzeln." (5.11.1941, S. 684)
Und er sieht diese
Wurzeln im - wie er sagt - übersteigerten Nationalismus der "teutschen Romantik"
und schreibt:
"Der
Nationalsozialismus ist eine giftigste Konsequenz, richtiger Überkonsequenz der
deutschen Romantik; sie ist an ihm genau so schuldig und unschuldig wie das
Christentum an der Inquisition; sie macht ihn zu einer spezifisch deutschen
Angelegenheit und sondert ihn vom Faschismus und Bolschewismus ab. Sie findet
ihren stärksten Ausdruck im Rassenproblem, und dieses wiederum tritt am
stärksten hervor in der Judenfrage. So bedeutet die Judenfrage für den
Nationalsozialismus das Zentrum der >Wesensmitte< und seine Quintessenz.
Und in eben diesem Kernpunkt zeigt sich die absolute Entgeistigung und
Verlogenheit, der absolute Höllensturz der Romantik im Dritten Reich. Das
Judenproblem ist die Giftdrüse der Hakenkreuzotter." (Tb 5.9.44, S. 576,
vgl. auch LTI 138 ff.))
Und auch noch nach
dem Ende des Krieges befürchtet er für die Zukunft: "Ich sehe einen neuen
Hitlerismus kommen, ich fühle mich durchaus nicht in Sicherheit.-" (Tb.
18.9.45, S. 137)
Sein Motiv,
möglichst bald nach dem Krieg seine LTI fertigzustellen, entsprang insbesondere
der Furcht, die sich aus konkreten Beobachtungen der Sprache nach 1945 nährte,
es könne eine Sprache des Vierten Reiches geben, eine LQI (Lingua Quartii
imperii), die sich aus der des faschistischen Reiches speiste und dessen Geist
fortleben lassen würde (LTI S. 20). Diese Befürchtung war ganz und gar nicht
unberechtigt.
In seinem Tagebuch
von Juni bis Dezember 1945 beschreibt er das Fortdauern von LTI als LQI
besonders intensiv. Er schreibt etwa: "Ich muß allmählich anfangen,
systematisch auf die Sprache des Vierten Reiches zu achten. Sie scheint mir
manchmal weniger von der des dritten unterschieden als etwa das Dresdener vom
Leipziger. Wenn etwa Marschall Stalin der Größte der derzeit Lebenden ist, der
genialste Stratege usw. Oder wenn Stalin in einer Rede aus dem Anfang des
Krieges von Hitler, natürlich mit allergrößtem Recht, als von dem
>Kannibalen Hitler< spricht. Jedenfalls will ich unser Nachrichtenblatt
und die Deutsche Volkszeitung, die mir jetzt zugestellt wird, genau sub species
LQI studieren." (Tb 25.6.45, S. 31f.)
Dafür findet er
viele Belege auf allen Diskursebenen und fordert: "Man sollte ein
antifaschistisches Sprachamt einsetzen." Er sieht "Analogien der
nazistischen und bolschewistischen Sprache" .(Tb. 4.7.45, S. 47) Dabei
bediene „man sich sämtlicher nazistischer Schlagworte, die wie
"Leichengift wirken". (Tb 19.7.45, S. 62) Und er führt an: „1) Alle
Welt sagt nach wie vor der Russe.2)Man spricht in der Volkszt. Von einer Verlautbarung.
Das ist österreichische Militärsprache u. wird nun, trotzdem von Hitler
eingeschleppt, trotzdem es mehrere deutsche Ausdrücke wie Anordnung, Befehl,
Heeresbericht, Kundgebeung ... zusammenmantscht, stur beibehalten. 3) Marshall
Stalin beim großen Armeefest auf den gemeinen Mann, den Poilu inconnu trinkend,
nannte ihn wiederholt >Die Schrauben< des ganzen Werkes. Also der
technischste der Ausdrücke. Cf. Gleichschalten.“ (Tb. 27.6.45)
Klemperer
entschließt sich dann zunächst aber, seine LTI-LQI-Studien abzubrechen, wegen
„Saturiertheit“, wie er sagt. (Tb. 23.7.45, S. 68). Doch dabei bleibt es nicht.
Es gibt weiterhin ausführliche Notizen zu diesem Thema, jetzt versehen mit dem
Kürzel LQI, etwa: "Nazistische Propaganda wirkt noch, wird wohl auch
heimlich fortgesetzt. Ist Dresden denn besonders kleinbürgerlich - oder ist
ganz Deutschland so gerichtet? (Tb 1.8.45, S. 77) Scharf formuliert er: „LQI
übernimmt LTI mit Haut und Haaren. Sogar Becher – höher geht`s nimmer –
schreibt andauernd kämpferisch. Frau Kreisler erstaunt, als ich
>charakterlich< beanstande. In einem Aufsatz, der die Humanität der
jetzigen Straflager (Kommandohaft) rühmt, werden die Häftlinge zu
>einsatzfreudigen< Menschen erzogen.“ (Tb. 15.10.45) Er sieht, daß sich
mit der „Wende“ von 1945 nicht alles zum Besseren gekehrt hat, nicht auf einen
Schlag Sozialismus und Demokratie eingetreten sind und daß auch in seiner
unmittelbaren Umgebung weiterhin Antisemitismus grassiert: „Was würde aus uns
paar Juden, wenn die Alliierten abzögen?“ (Tb. 27.1.46), fragt er. Und er
notiert die Aussage: „Es ist uns körperlicher Ekel vor den Juden beigebracht
worden. Da war ein Schulungsbrief: ein arisches Mädchen heiratet einen Juden;
ihr Grauen, wie sich an dem Kind die Rassenmerkmale zeigen: schwarze Löckchen,
krumme Nase ... Ich habe gedacht, es mag hart sein für den einzelnen, aber sie
müssen fort, sie sind die Vergifter, die Rasse ... man sucht doch auch bei
Hunden die Rasse reinzuhalten.“ (Tb. 15.6.47) Solche menschenverachtenden
Ansichten dauern bis heute fort, wie man feststellen kann, nicht nur, wenn man
Alltags- und Familiengespräche beobachtet.[10]
Klemperer notiert
vor allem Beispiele aus seiner näheren Umgebung, also aus der russischen
Besatzungszone und der späteren DDR. Bitter notiert er kurz vor seinem Tod:
„Das Ganze, und dieses Ganze konzentriert sich immer mehr auf diesen einen
Ulbricht, unterscheidet sich immer weniger von nazistischer Gesinnung u.
Methode. Sag Arbeiterklasse statt Rasse, u. beide Bewegungen sind identisch.
Tyrannei u. Enge nehmen täglich zu. Glaubenshetze, Jugendweihe, Kampf gegen
>ideologische Coexistenz< gegen >Fraktionismus<, gegen
>kleinbürgerliche Überheblichkeit< all das ist LQI.“ (14.2.58) Enttäuschr
notiert er: „Das kann nicht Marx´Idealzustand gewesen sein.“ (Tb. 24.10.58)
Doch auch westliche
Sprachgewohnheiten werden von Klemperer zur Kenntnis genommen: „natürlich muß
sich LTI fortsetzen, bei uns, weil wir Sowjetzone sind, im Westen weil man
nazistisch geblieben ist.“ (Tb. 10.10.48) Sein Land, die DDR, erscheint ihm,
bei aller Kritik, durchweg als das kleinere Übel, auch wenn es ihm zunehmend
schwer fällt, diese Sichtweise beizubehalten.
Wichtig ist bis
heute: Klemperer dokumentiert, wie Diskurse nicht einfach abbrechen, sondern -
als Einheiten von sprachlichen Formen und gedanklichen Inhalten - eine zähe
Lebensdauer haben und Ideologien transportieren, die man längst auf dem
Müllhaufen der Geschichte wähnte – im Osten wie im Westen.
Klemperers
Beobachtungen zur Lingua Quartii Imperii erfahren heute eine interessante
Resonanz. Sie werden von konservativen Politikern und Journalisten gern
herangezogen, um grobschlächtig die Nähe oder gar Identität von Faschismus und
Sozialismus, von "rechts" und "links" zu belegen.[11] Gegen diese einseitige Sicht ist aber zu
betonen, daß der faschistische Diskurs sowohl im Osten wie auch im Westen
fortdauerte und selbstverständlich auch in der DDR und in der BRD - bei
mancherlei Modifikationen und auch grundsätzlichen Veränderungen. In Anlehnung
an Klemperers Worte: "Ganz Deutschland ist so gerichtet!" Und es waren
auch nicht die Nachwirkungen des faschistischen Diskurses allein dafür
verantwortlich, daß auch die historisch späteren Diskurse vielfach völkisch
geprägt blieben oder wieder wurden. Dazu kamen die Konjunkturen der politischen
Debatte in beiden Teilen Deutschlands, die auf die betreffenden Diskurse
einwirkten. Tatsache ist aber, daß auch der heutige öffentliche Diskurs in ganz
Deutschland immer noch eine Fülle des ideologischen Ballastes mit sich führt,
den man als völkisch-nationalistisch bezeichnen kann.[12] Dem möchte ich im folgenden auf der
Grundlage eigener empirischer Arbeiten zusammenfassend und in der Skizze
nachgehen.
Völkischer
Nationalismus im Diskurs der Gegenwart
Analysen zum öffentlichen Diskurs der Gegenwart, wie er in
Politikerreden, in den Medien, im Alltag, aber auch in der Wissenschaft
anzutreffen ist, zeigen, daß völkisch-nationalistisches Denken heutzutage
wieder hoffähig zu werden droht. Die Hitlerei ist zwar vorbei; das Denken, auf
dessen Hintergrund sie möglich geworden ist, ist jedoch keineswegs tot. Es
beeinflußt den gesamten hegemonialen Diskurs weiterhin: die Bereitschaft,
innere und äußere Feinde mit allen Mitteln zu bekämpfen, der Ruf nach dem
loyalen und opferbereiten Bürger, der Wille, die Frauen auf ihren
"angestammten Platz" zurückzudrängen, das sind die alten Ideolgien
des Völkischen Nationalismus und der Konservativen Revolution der 20er und 30er
Jahre, die - oft kaum verhohlen - den politischen Diskurs der Gegenwart wieder
zu dominieren begonnen haben.[13] Dies äußert sich
nicht nur in Wahlerfolgen rechtsextremer Parteien und in der drastischen
Zunahme rassistisch und rechtsextremistisch motivierter Straftaten, sondern
insgesamt in einer Rechtsdrift, die sich heute unter dem Deckmantel der
Normalität in der Mitte der Gesellschaft vollzieht.
Diese Festellung
kann im Rahmen dieses Vortrags nur exemplarisch belegt werden, wobei ich mich
aber auf eine Vielzahl von Projekten und Einzeluntersuchungen berufen kann.[14] Hier soll es vor allem darum gehen, den
Blick dafür zu schärfen, daß in Politik, Medien und Alltag auch heute ein
Denken und Sprechen Bestand hat, das demokratischen Vorstellungen diametral
entgegensteht.
Unsere seit Mitte
der 80er Jahre kontinuierlich durchgeführten Medienanalysen und Erhebungen zum
Politiker- und Alltagsdiskurs zeigen, daß Rassismus und rechtsextreme
Ideologeme generell fortlaufend Bestandteil des öffentlichen und privaten
Diskurses sind.
Politikerdiskurs
Als der zentrale Stichwortgeber für den Medien-Diskurs gilt der
Politikerdiskurs. Dazu möchte ich nur auf die Untersuchung der Debatten des
Deutschen Bundestages von Frank Wichert verweisen. Sie zeigt, wie insbesondere
konservative Politiker das Thema Asyl auf lange Hand zuspitzten und spätestens
seit der Bonner Wende von 1982 das Ziel verfolgten, den Asylartikel (Art. 16
GG) faktisch auszuhebeln (Wichert 1994).
Dies gelang auch: im
Mai 1993 verabschiedete der Bundestag den neuen Asylartikel, und kurz danach
verwarf das Bundesverfassungsgericht Einsprüche gegen die neue Fassung dieses
Artikels, so daß ein wesentlicher Bestandteil des Grundgesetzes, in dem einige
Konsequenzen aus den Greueln des 3. Reiches gezogen worden waren, nun entfallen
ist.
Diese Entwicklung
war begleitet von massiven ausländerfeindlichen Debatten im Bundestag selbst,
in die sich auch die Sozialdemokraten verwickeln ließen und die eine
verheerende Wirkung auf das gesamtgesellschaftliche Denken und Tun hatten.
Untersuchungen des Wiener Instituts für ergaben zudem, daß ein Racism at the
Top in allen Europäischen Parlamenten stark verbreitet ist. Er kommt zwar etwas
subtiler einher als an den Stammtischen und in der Boulevardpresse, ist aber –
wie gesagt – als Stichwortgeber für diese Mittler ungeheuer diskursmächtig.
Medien
Untersuchungen der Medien zeige, daß diese Debatte sehr breit medial
aufgenommen wurde, wodurch die Medien für die massenhafte Produktion und
Reproduktion auch des militanten Rassismus äußerst große Mit-Verantwortung
trugen und weiterhin tragen.
Das gilt gegenüber
allen Menschen, die in welcher Weise auch immer von „unserer“ deutschen
Normalität abweichen, insbesondere aber für diejenigen, deren äußeres
Erscheinungsbild sozusagen auf den ersten Blick „Fremdheit“ signalisiert.
Diese Art der Berichterstattung
trägt dazu bei, besonders Menschen mit schwarzer Hautfarbe, aber auch
diejenigen, die andere Sitten und Gebräuche pflegen, mit Gefahr und Katastrophe
zu assoziieren, so daß diese Bedrohungsgefühle und Angst auslösen. Das ist die
Ursache dafür, sie abzulehnen, auszugrenzen, sie zu verfolgen und zu verletzen
oder gar zu töten.
Die Medien schaffen
zwar nicht und schon gar nicht allein den alltäglichen Rassismus, es handelt
sich keineswegs um eine Einbahnstraße von den Medien hin zum Alltagsbewußtsein.
Sie nehmen alltägliches Denken aus dem Alltagsdiskurs auf, verbinden es mit den
politischen Vorgaben, spitzen diese, je nach eigener politischer Diskurs- bzw.
ideologischer Position mehr oder minder stark zu und reproduzieren solche
Haltungen von Tag zu Tag immer wieder aufs Neue. Die Rekursivität solcher
Berichterstattung erzeugt ein festes „Wissen“, das die Grundlage für das
Handeln und des Verhaltens gegenüber diesen Personen darstellt.
Diese
Wissensproduktion stößt zudem auf einen historischen Diskurs, der seine Wurzeln
mindestens im 19. Jahrhundert hat und mit dazu geführt hat, daß Völkermord und
Vernichtung, daß der Holocaust möglich wurde. Völkisches Denken ist
demzufolge auch im Alltagsdiskurs sehr
verbreitet.
Rassismus im
Alltagsdiskurs
Wir haben die Untersuchung zum Alltagsdiskurs von 1991/92, die unter
dem Titel „BrandSätze“ (4. Aufl. 1996) erschienen ist durch zwei weitere
Erhebungen von Interviews 1993 und 1995 und weitere Analysen bis heute
fortgesetzt, wobei wir die wesentlichen Ergebnisse unserer vorangegangenen
Untersuchungen bestätigt fanden. Das Gesamt-Corpus unserer etwa jeweils ein-
bis 1½ stündigen nicht-standardisierten Interviews enthält inzwischen 50
Interview-Texte von jeweils über 20 Seiten Umfang, die einer qualitativen und quantitativen
Analyse unterzogen wurden.
Die wichtigsten
Ergebnisse unserer Untersuchungen zum Alltagsdiskurs lassen sich wie folgt
zusammenfassen:
1. Alle von uns Interviewten sind mehr oder
minder stark in den rassistischen Diskurs verstrickt, egal, ob alt oder jung,
männlich oder weiblich, egal, welche Partei sie wählen und welchen Beruf sie
ausüben. Mit diesem Hinweis auf die Verstrickungen der jeweils Einzelnen in
einen rassistischen Diskurs ist gleichzeitig gesagt, wie umfassend der
Rassismus zur Denkweise unserer Gesellschaft gehört.
Er ist also
keineswegs als ein Problem der deutschen Jugend zu verharmlosen, wie die neue
Shell-Studie und andere Untersuchungen suggerieren könnten. Die Jugendlichen
sind zwar auch in den rassistischen Diskurs verstrickt, und es sind vor allem
Jugendliche, die zu offener Gewalt greifen. Sie verstehen sich aber dabei nur
als diejenigen, die den Willen der Älteren ausführen und schon allein aus
physischen Gründen in dieser Hinsicht stärker hervortreten.
2. Rassismus wird oft verdeckt geäußert.
Typisch sind Verleugnungsstrategien der Art: "Ich habe nichts gegen
Ausländer, aber es sind doch zu viele hier. Unser Boot ist voll!" Wobei
Boot dann des öfteren durch Land oder Raum ersetzt wird. Oder es heißt,
zunächst abschwächend: "Ich bin nicht unbedingt dieser Ansicht. Aber mein
Vater, und auf den ist Verlaß, meint, daß Ausländer für uns Deutsche eine
Gefahr darstellen." Oder, um ein etwas schwierigeres Beispiel zu zitieren:
"Ausländer sind doch auch Menschen!".
Hier drückt sich dadurch
eine rassistische Verstricktheit aus, daß eine Unterstellung mitgedacht wird,
eben daß man überhaupt davon ausgehen könnte, daß dies nicht der Fall wäre.
3. Insgesamt taucht ein Katalog von etwa 30
stereotypen negativen Bewertungen von Einwanderern und Flüchtlingen auf, der
von den meisten Deutschen strikt geteilt wird. Insofern läßt sich sagen: Es
handelt sich nicht um ein individuelles Problem, sondern um ein soziales. Die
Negativ-Urteile sind sozial fest verankert. Häufig handelt es sich um unzulässige
Verallgemeinerungen von Einzelfällen wie etwa: "Die Ausländer sind
kriminell."
4. Dieser Katalog von Negativ-Urteilen findet
sich auch in den Medien, so daß davon auszugehen ist, daß die Medien zur
Verfestigung, wenn nicht sogar zur Erzeugung rassistischer Einstellungen
erheblich beitragen. Ein Indiz dafür sind auch die sogenannten
"journalistischen Schlüsselwörter", die im Alltagsdiskurs auftreten.
Damit sind Wörter gemeint, die nicht zur "normalen" Alltags-Sprache
gehören wie etwa Aggression, Ambition, "Asylant", Identität, - um nur
einige zu nennen.
5. Abgrenzungen und Ausgrenzungen werden mit
Hilfe von sprachlichen Bildern markiert, wobei die Kollektivsymbolik eine sehr
wichtige Rolle spielt. Beispiele: "Fluten bedrohen uns", "Dämme
müssen errichtet werden", "Viren dringen bei uns ein",
"eine Giftsuppe kocht hoch" usw. Das Auftreten solcher Symbole im
Alltagsdiskurs läßt stark vermuten, daß sich hier der Einfluß der Medien
geltend macht
6. In der Bevölkerung herrscht noch ein
erheblicher Antisemitismus. Dieser richtet sich aber oft auch gegen Türken,
denen damit gedroht wird, daß es ihnen eines Tages gehen könnte wie den Juden.
7. Auch werden demokratische Argumente
verwendet, um rassistische Einstellungen abzusichern: "Die Türken
behandeln ihre Frauen schlecht, und deshalb lehnen wir sie ab, deshalb haben
sie hier nichts zu suchen."
8. Die Ausgrenzungen der Einwanderer und
Flüchtlinge gehen einher mit latenten Handlungsbereitschaften. Damit ist nicht
nur die Inkaufnahme und Einforderung von struktureller staatlicher Gewalt
gemeint, wie dies bei der Abschiebung der Fall ist. Man will unter Umständen
selbst Hand anlegen, um die Ausländer los zu werden. Insofern kamen die
Beifallsbekundungen der Bürgerinnen und Bürger in Hoyerswerda, Rostock und
andernorts für uns auch nicht überraschend.
In den neueren
Interviews ist eine Tendenz zur Aufnahme weiterer völkischer Ideologeme zu
beobachten, etwa die Forderung, daß Deutschland seine Interessen
"draußen" militärisch verteidigen möge.
Fazit
Damit habe ich einige wichtige diskursive Ebenen des rassistisch
unterfütterten Diskursstrangs über Einwanderung; Flucht und Asyl in der BRD der
Gegenwart knapp skizziert. Daneben sind auch der Erziehungsdiskurs und
wissenschaftliche Spezial-Diskurse zu beachten. In ihrer komplexen
Verflechtung, ihrer gegenseitigen Beeinflussung und Stützung bergen sie die
Gefahr, ein undemokratisches, gewalttätiges und rassistisches Klima in der BRD
aufrechtzuerhalten oder neu zu erzeugen und Menschen immer wieder dazu
anzustiften, Gewalttaten zu begehen oder zu dulden. Der Diskurs der Gegenwart
ist demnach keineswegs frei von rechtsextremen bis faschistischen
Ideologiebestandteilen.
Klemperers
Beobachtungen zur Sprache im Faschismus können den Blick dafür schärfen, was
sich heute tut. Wer seine Mit-Verantwortung für eine solche Entwicklung sieht
oder doch begreifen möchte, tut gut daran, das, was sich in seiner
unmittelbaren Umgebung diskursiv abspielt, genau zu beobachten. Dazu bedarf es
einer gewissen Distanz, denn solche Entwicklungen spielen sich zumeist
schleichend ab. Was gestern noch als faschistisch oder rechtsextrem galt,
gehört heute bereits vielfach wieder zur „Normalität“. Wir sollten uns ihr
nicht unbedacht und unbewußt aussetzen. Welche Folgen dies haben kann, zewigt
die derzeitige Entwicklung in Österreich. Jörg Haider und sein völkisach
nationalistisches Denken sind längst in den Alltag hinein normalisiert worden.
Um dies genauer zu beleuchten bedürfte es eines weiteren Vortrags, so daß ich
an dieser Stelle abbrechen muß.
[1] Es hat mancherlei Versuche gegeben, sich
dieser Herausforderung nicht zu stellen und Klemperers Beobachtungen zu
entwerten. So schrieb Hans Ernst Müller, wie Klemperer zur Kenntnis nahm, 1958
in der Zeitschrift „Muttersprache“: In der LTI richtet V.Kl. „heftige Angriffe
gegen die Sprache der Hitlerzeit, die jedoch
(!) durch seine Erlebnisse während dieser Jahre wesentlich mitbestimmt
sind." (Muttersprache. Ztschr. zur Pflege u. Erforschung der deutschen
Sprache 1958, 68. Jg.)
[2] Vgl. dazu das Buch von Wodak et al. Mit dem
entsprechenden Titel: „Wir sind alle unschuldige Täter“. 1990.
[3] Zum Konzept von Diskurstheorie und
Diskursanalyse vgl. im einzelnen Jäger 1999.
[4] 1986, zuerst 1945/46.
Klemperer sah in diesem Wörterbuch allerdings durchaus eine Konkurrenz. So
schreibt er am 31.10.1946: „... in einer westlichen Zeitschrift erscheinen
regelmäßig Artikel über die „Sprache des Unmenschen“. Z.B. über „betreuen“. Das
hetzt mich (bei der Arbeit an der LTI, S.J.). Ich weiß, daß meine LTI ein Ding
für sich wird; aber ich fürchte, daß sie an Aktualität einbüßt u. womöglich
nicht mehr veröffentlicht wird. Zu langsames Vorwärtskommen ...“
[5] Hannes Heer stellte
stellte in seinem Artikel zur Vox Populi im NS-Faschismus eine überraschende
"Koinzidenz der Berichterstattung eines Herrschaftsapparates, des SS-Amtes
II mit ca. 30000 Mitarbeitern, und eines einzelnen Beobachters" fest (Heer
1997, S. 134). Auch das verweist darauf, daß es Klemperer gelungen ist, den
faschistischen Diskurs in nahezu seiner gesamten Bandbreite zu erfassen.
[6] Vgl. dazu Jäger 1993,
Jäger 1997. Dieser Ansatz ist durch Arbeiten Michel Foucaults inspiriert,
teilweise über seine Rezeption bei Link (seit 1982). Vgl. Foucault Überwachen,
Archäologie ++++
[7] Hier zeigt sich die erstaunliche
Verwandtschaft von Klemperers Denken mit Ansätzen einer von Foucault
inspirierten Diskurstheorie. Eine solche Verwandtschaft wird auch sichtbar,
wenn man fragt, welche individuellen Freiheitsspielräume dem Subjekt, das in
die Diskurse verstrickt ist, überhaupt bleiben.
[8] In
ihrem Buch „Vokabular des Nationalsozialismus“ führt Cornelia Schmitz-Berking
unter dem Stichwort „Arbeitseinsatz“ an: a) Lenkung und Kontrolle der deutschen
Arbeitskräfte; b) Beschäftigung teils angeworbener, später überwiegend
deportierter ausländischer Arbeitskräfte in der deutschen Kriegswirtschaft; c)
in der Sondersprache der SS: Zwangsarbeit der noch arbeitsfähigen KZ-Häftlinge
in Rüstungsfirmen.“ (Schmitz-Berning 1998, S. 45) Klemperer, als
„privilegierter“ Jude, weil er mit einer nicht-jüdischen Frau verheiratet war,
wurde selbst zu verschiedenen Arbeitseinsätzen wie Schneeschippen, Fabrikarbeit
etc. herangezogen.
[9] So liest der
Münchener Sprachwissenschaftler Konrad Ehlich Klemperer genau in der Weise, als
wolle dieser sagen, die Menschen unterm Faschismus seien als Opfer sprachlicher
Manipulation zu betrachten (Ehlich 1997, S. 12). Die Antwort auf die Frage,
wieso die "Sprachgemeinschaft" den Faschisten folgte, so konstatiert
er, sei auch nach Klemperer eine zwar "zentrale, aber ungelöste
Aufgabe" (ebd. S. 12).
[10] Vgl. dazu Jäger 1996
[11] So etwa bei Friedrich
Karl Fromme in seinem Beitrag "Wessen Genosse Klemperer. Der
Intellektuelle, sein Auto und die Sprache des Vierten Reiches" in der FAZ
vom 15.11.1995.
[12] Vgl. dazu
Jäger/Kretschmer/Cleve/Griese/Jäger et al. 1998 und M. Jäger/S. Jäger 1999.
[13]
Kellershohn hat in mehreren Untersuchungen die Kernideologeme des
Völkischen Nationalismus beschrieben, vgl. z.B. Kellershohn 1995
[14] Einen Überblick enthält M. Jäger/S. Jäger 1999.
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