Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung

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Colloquium 2008

 

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Antisemitismus als Defekt oder Funktion der Mehrheitsgesellschaft“

Tagungsbericht zum DISS-Colloquium vom 14.-16.11.2008 in Würzburg

von Z. Ece Kaya und Sabine Fraede

 

In Zusammenarbeit mit dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut Duisburg und der Akademie Frankenwarte Würzburg - Gesellschaft für Politische Bildung e.V. fand das 21. Colloquium des DISS vom 14. bis 16.11.2008 in Würzburg statt. Margarete Jäger (DISS) und Jobst Paul (DISS) leiteten das Colloquium, das sich mit aktuellen Schauplätzen antisemitischen Agierens beschäftigte sowie mit neuen Perspektiven zur Analyse, aber auch zur Bekämpfung des Antisemitismus.

Um den historischen Hintergrund zu verdeutlichen, begann das Colloquium mit einem Vortrag von Jobst Paul zu einigen zentralen Ergebnissen des DISS-Projekts „Jüdische Publizistik im 19.Jahrhundert“. Die im Mittelpunkt dieses Einführungsvortrags stehende „Übertrumpfungsthese“ geht davon aus, dass der Antisemitismus aus einem „kulturellen Code“ hervorgegangen sei. Dieser Code basiere auf der Leugnung der christlichen Übernahme der jüdischen Ethik der Nächstenliebe durch die christlichen Kirchen sowie auf einer mit dieser Leugnung einher gehenden Übertrumpfungsmentalität, die für die christlich geprägten westlichen Gesellschaften eine identitätsstiftende Bedeutung habe.

Die darauf folgenden Vorträge sowie ein Gespräch veranschaulichten die Formen und Funktionen von antisemitischen und rassistischen Ausgrenzungen. Die zentrale Fragestellung dabei war, wie sich diese Formen und Funktionen im Laufe der Zeit wandeln, um dann vor diesem Hintergrund zu einer Analyse allgemeiner und spezieller Ursachen und Erscheinungsformen des aktuellen Antisemitismus zu gelangen. Im Hinblick auf dieses Vorhaben verfolgte das Colloquium sowohl in Vorträgen als auch in Diskussionen das Ziel, verschiedene Analysen zu den Funktionen von Antisemitismus vor und nach der Shoah sowie zu dessen gegenwärtigen Schauplätzen vorzustellen und auch mögliche soziale Strategien und Vorschläge zu thematisieren.

Das Colloquium war in zwei Hauptteile gegliedert, einerseits in Analysen zu den Funktionen von Antisemitismus und andererseits in Strategien gegen Antisemitismus. Die einzelnen Vortragsthemen thematisierten Funktionen, Brüche und Kontinuitäten des Antisemitismus sowie seinen Charakter als politisches Phänomen, bis hin zum islamistischen Antisemitismus. Thematisiert wurden darüber hinaus die gegenwärtigen europäischen Zustände im Flüchtlingsschutz, anlässlich eines Rückblicks auf die Konferenz von Evian im Jahr 1938. Den Abschluss bildete eine Beleuchtung von Strategien des Umgangs mit Antisemitismus durch jüdischen Zeitungen und Zeitschriften. Auch methodische Fragen wurden im Rahmen der Tagung angesprochen, so etwa Definitionsbestimmungen und unterschiedliche Herangehensweisen in der Analyse des Antisemitismus auf verschiedenen Diskursebenen wie Medien, Politik, Wissenschaft, Religion und Alltag.


 

Jobst Paul (Duisburg):

Die christliche Übertrumpfung des Judentums als Paradigma der Ausgrenzung. Deutsch-jüdische Analysen zum Syndrom der Judenfeindschaft.

Der Einstiegsvortrag erläuterte den historischen Hintergrund des Antisemitismus anhand der deutsch-jüdischen Publizistik im 19.Jahrhundert. Jobst Paul beschäftigte sich mit der christlichen Übertrumpfung des Judentums durch die polemische Aussage von christlicher Seite, dass die Nächstenliebe der jüdischen Ethik nur für Juden gelte und erst das Christentum dieses Sozialethos zur Grundlage der Religion gemacht und als eine allgemein-menschliche Norm formuliert habe. Demgegenüber habe das Judentum keine vergleichbare Ethik, sondern vertrete im Gegenteil Feindschaft gegen Nichtjuden bzw. Christen. Um dieses judenfeindliche Aussagengeflecht genauer darzustellen, wurden auch die gegenwärtigen Defizite in der Antisemitismusforschung erwähnt, wie das Fehlen einer verlässlichen Definition.

Im Rahmen der deutsch-jüdischen Publizistik im 19.Jahrhundert haben sich die Autoren u.a. auch mit den so genannten „Beweggründen“ auseinandergesetzt, etwa mit ökonomischen Interessen der „fürstlichen, patrizischen und städtischen Obrigkeiten, Handwerkerverbände, Zünfte, u.a. gegen Besitz in jüdischer Hand“. Diese Beweggründe selbst wurden freilich erst sag- und legitimierbar durch gesellschaftliche Codes.

Anhand verschiedener Zitate von jüdischen Publizisten aus dem 19. Jahrhundert wurde der Frage nachgegangen, inwieweit diese kulturellen Codes mit der christlichen Prägung der Gesellschaft zusammenhängen. Viele Autoren sahen das Phänomen der Verfolgung gegen Juden als Ergebnis einer christlichen Erziehung, deren sozialpathologische Wirkungen sich bis in die Gegenwart hineinziehen und die Religionsvorstellung sowie die „Maßstäbe für Moralität bzw. Immoralität“ von vielen Menschen beeinflussen.

Jobst Paul zeigte, wie die deutsch-jüdischen Autoren die Denk- und Empathieblockade kritisieren, die von der christlichen Forderung nach bedingungslosem Glauben1, von Lehren wie dem geopfertem Jesus, von Erbsünde und Gnade ausgeht. Dagegen zeichnen die Autoren die Möglichkeit eines friedlichen Zusammenlebens der beiden Religionen2 und versuchen, die jüdischen Ursprünge des Christentums religionshistorisch aufzuzeigen. Im Anbetracht der kulturell-politischen, psychologischen bzw. psychoanalytischen Perspektiven3 wurde die christliche Übertrumpfungsmentalität zudem von jüdischen Autoren als „Defekt“4 angesehen, der „die Bildungs- und Kritikfähigkeit christlicher Bevölkerungsschichten“ beeinträchtigt habe. Das kirchliche Lehramt wurde dazu aufgerufen, die „blutige Anklage“ rückgängig zu machen, was nicht geschah.5 Der Vortrag endete mit Beispielen zur aktuellen Rolle der christlichen Kirche.

In der anschließenden Diskussion zum Vortrag wurde die Frage aufgeworfen, ob nicht nur die Kirchen, aber auch die säkularen Institutionen der heutigen Gesellschaft dazu aufgefordert sind, sich damit auseinanderzusetzen. Es gebe auch andere Komponenten des Antisemitismus, die nicht in Religion zu finden seien. Jobst Paul machte darauf aufmerksam, dass auch wenn dieser Einwurf zutrifft, die Kirchen ein zentraler und notwendiger Teil der Analyse bleiben, insofern sie an der Perpetuierung von Übertrumpfungsattitüden etwa in der ‚abendländischen’ Bildung stets beteiligt blieben. Es wurde schließlich bemerkt, es gehe um einen präziseren und differenzierenden Antisemitismusbegriff, der diskriminierenden Grundmustern verschiedener gesellschaftlicher Gruppen gerecht wird. Jobst Paul betonte, dass sich die genannten Schriften deutsch-jüdischer Autoren auf Handlungsmöglichkeiten, die funktionell in der Bekämpfung des Antisemitismus seien, konzentrierten und weniger auf differenzierte, wissenschaftliche feste Definitionen.

Im weiteren Verlauf der Diskussion wurde die Unterscheidung zwischen Antijudaismus und Antisemitismus diskutiert. In das antisemitische Aussagengeflecht wurde im Laufe der Zeit der Begriff „Rasse“ eingeführt, womit die antijudaischen Aussagen überlagert wurden. Noch zu untersuchen wäre, inwieweit die Christen Ende des 19.Jahrhunderts auch die rassistischen Komponenten übernommen haben.

Hingewiesen wurde auch auf einen Spiralprozess, indem sich im 19. Jahrhundert Juden in Deutschland befunden haben: Gangbare Wege zur gesellschaftlichen Anerkennung für sie habe es über Bildung und Besitz gegeben, doch Bildung und Besitz hätten zu weiteren Vorurteilen gegen Juden beigetragen. Die Übertrumpfungsthese solle erweitert werden, um die neuen Funktionen des Antisemitismus nach der Shoah zu analysieren. Der mögliche Erweiterungsbereich stellt neben der historisch komplizierten Unterscheidung zwischen Antijudaismus und Antisemitismus auch das Verhältnis zwischen Nation und Religion dar, angefangen vom Beginn der Reformation und Renaissance.


 

Klaus Holz (Villigst)

Die kulturelle Funktion des Antisemitismus

Der Vortrag zeigte anhand dreier Gegensatzpaare „Täter/Opfer, Gemeinschaft/Gesellschaft und Identität/Nicht-Identität“ die allgemeinen Muster des nationalen Antisemitismus auf und befasste sich mit der Konstruktion von „Dritten“. In der Einleitung wurde der Begriffe „Funktion“ als die Beziehung von Problem und Lösung sowie von Bedarf und Leistung erläutert. Unter modernen Bedingungen entstehe ein Bedarf zur Identität und Deutung, der durch Antisemitismus als identitätsstiftende und deutende Weltanschauung befriedigt werde. In dieser Hinsicht werde der Antisemitismus aus verschiedenen Quellen gespeist. Darunter seien auch die Vorurteile, psychologische und kulturelle Aspekte als Projektions- und Konstitutionsflächen zu verstehen.

Das erste Gegensatzpaar „Täter-Opfer“ sei für den Antisemitismus unverzichtbar, weil es erst dadurch möglich gemacht wurde, die „Judenfrage“ aufzuwerfen und Antisemitismus als legitime Gegenwehr zu rechtfertigen. Diese moralische Dichotomie, Diskreditierung des Täters als Schuldigen einerseits und Ermächtigung des unschuldigen Opfers andererseits, so Klaus Holz, beruhe auf einer Gemeinsamkeit. Die „Wir-Gruppe“ wird dabei als leidende Personengruppe dargestellt, wobei dieses Leid durch eine handelnde „Nicht-Wir-Gruppe“ verursacht wird und Juden als Täter personifiziert werden. Die antisemitische Weltanschauung macht die Juden für den Kapitalismus, Liberalismus, Kommunismus, die Moderne, Presse, Frauenemanzipation, Internationalismus und abstrakte Kunst verantwortlich und vereinfacht damit die komplexen gesellschaftlichen Prozesse in diesem einen Gegenbild, das die Einheit der eigenen „Gemeinschaft“ profiliert. Die semantische Unterscheidung zwischen „Eigenem“ und „Jüdischem“ gehöre daher zu den zentralen Ausprägungen des Antisemitismus.

Antisemitismus als Gemeinschaftssemantik entwerfe eine soziale Lebensform, die den Bedarf zum Zusammenhalt, Schutz und Sicherheit befriedigt. Das zweite Gegensatzpaar als wichtiges Muster des nationalen Antisemitismus bestehe daher aus der Konzeption Gemeinschaft vs. Gesellschaft. Als „antimodernes Gegenbild“ zur modernen Gesellschaft, die mit der Börse, dem Stadtleben, der Unmoral assoziiert und als „materialistische, individualistische und zersetzende Lebensweise“ entwertet wird, stelle die Gemeinschaft den Ort dar, wo Gemeinnutz vor Eigennutz stehe. Die antisemitische Erklärung für die modernen gesellschaftlichen Verhältnisse und für sozialen Wandel stelle auch durch Verschwörungstheorien die „jüdische Vergesellschaftung“ als Gefahr dar. Die Handelstätigkeit wird der „Arbeitsfreudigkeit“ entgegengesetzt und eine fälschliche Erklärung des Übergangs zur kapitalistischen Ökonomie durch die Abspaltung von Produktion und Zirkulation geliefert.

Das zweite Fremdbild neben dem Judenbild seien andere Völker und Nationen, wodurch Antisemitismus eine Dreigliederung bekommt: 1. Wir-Gruppe 2. Fremde 3. Juden. Den Juden werde im Gegensatz zu den Fremden die nationale Identität abgesprochen, sie seien eher „Volk im Volke, Staat im Staate“. Diese Figur des Dritten, die es nach dem binären Schemata A/Non-A nicht geben darf, werde im Antisemitismus zu einem Paradoxon, so Klaus Holz. In anderen semantischen Feldern wie Körperbildern und Sexualität werde diese „nicht-identische Identität“ betont. Es gehe hier um unweibliche Frauen und unmännliche Männer. Die komplementäre Geschlechtskonstruktion werde dazu verwendet, um die Inkompatibilität der jüdischen „Nicht-Identität“ mit der eigenen Identität zu beweisen.

In der darauf folgenden Diskussion wurde die zuvor diskutierte Unterscheidung zwischen Antijudaismus und Antisemitismus noch mal im Hinblick auf die Figur des Dritten erörtert. Offen sei die Frage, ob die Juden auch im Antijudaismus die Dritten seien, weil die hauptsächliche Unterscheidung der Identitätskonstruktion zwischen Christen und Heiden gemacht werde. Zudem wurde der Einwand geäußert, dass wenn Antisemitismus zu einer kulturellen Funktion der Identitätssicherung in der Moderne erklärt werde, zu berücksichtigen sei, dass es jedoch den Antisemitismus auch schon vor der Moderne gab. Vermutlich lag der kulturelle Stoff schon bereit, den man instrumentalisieren konnte. Weitere Diskussionspunkte waren die Transformationsprozesse des christlichen Antisemitismus, die Affinität zwischen Judentum und Modernisierung, das Phänomen „Antisemitismus ohne Juden“ und die Frage, inwieweit die modernen Gesellschaften ohne diese „Gegenwehr“ ihre Identität finden können.


 

Regina Wamper (Aachen):

Antisemitismus und Antijudaismus in Diskursen der Rechten als Lackmustest für die Debatte um Brüche und Kontinuitäten in der Antisemitismusforschung

Regina Wamper stellte anhand ihrer Untersuchung zu den rechtextremen Publikationen „Junge Freiheit“ und „Deutsche Stimme“ und zu rechts-christlichen wie „Alte und neue Mystik“ die These eines absoluten Bruchs in der Geschichte des Antisemitismus infrage.

Die Strategie der Trennung in zwei ‚Antisemitismen’ bestehe seit dem 19.Jahrhundert. Dies werde am Beispiel der Treitschke-Äußerungen im Berliner Antisemitismusstreit deutlich. Treitschke versuchte, sich vom „Radau-Antisemitismus“ abzugrenzen, wobei er zwischen zwei Arten („gutem“ und „schlechtem“) von ‚Antisemitismen’ unterschied.

Die Trennungsthese finde man in gegenwärtigen rechtsextremen Publikationen wieder. Die AutorInnen der Jungen Freiheit z.B. lehnen zwar den Zusammenhang zwischen Antijudaismus und Antisemitismus ab, wobei sie den Antijudaismus als „traditionell-christliche(n)“ Bestandteil der Kultur auffassen. Sie begründen bzw. legitimieren den Antijudaismus mit einem „aggressiven und hasserfüllten Antichristianismus im Talmud“ und einer „Nichtanerkennung Jesu durch JüdInnen“. In der neopaganen Deutsche(n) Stimme könne ebenfalls einen positiven Bezug auf christlichen Antisemitismus und auf die Trennungsthese beobachtet werden. Zur Solidarisierung der Nichtchristen mit dem christlichen Antijudaismus werde aufgefordert. Die Zeitschrift „Alte und neue Mystik“ versuche durch eine Ablehnung des „rassifizierenden Antisemitismus“, die eigenen christlich-antisemitischen Äußerungen zu rechtfertigen.

Regina Wamper konzidierte, dass die These um Bruch und Kontinuität des Antisemitismus in der Forschung umstritten sei. Das Problem bestehe darin, dass die „kulturelle Tradierung judenfeindlicher Stereotypisierung und deren Modifizierung in den jeweiligen Epochen“ genauso in Betracht gezogen werden müssen wie die Änderungen in verschiedenen historischen Kontexten.6 Aus diskurstheoretischer Perspektive sei die antisemitische Diskursproduktion kontinuierlich, aber nicht identisch, vielmehr könne von einer „Regelmäßigkeit performativer Aussagen“ (Foucault) gesprochen werden. Der Kontinuitätsbegriff basiere demnach trotz des Wandels gesellschaftlicher Kontexte und Aussagebedingungen auf einer Regelmäßigkeit der Aussagen. Hierbei werden die Brüche und Diskontinuitäten nicht ausgeschlossen, sondern die Singularitäten, Kämpfe und Gegendiskurse in die Analyse miteinbezogen. Es gehe nicht um eine unbrechbare Tradition, sondern um eine Fülle von diskursiven Ereignissen.

Aus diesen Gründen sei die Auffassung einer Binarität von Bruch und Kontinuität sowohl theoretisch als auch empirisch nicht haltbar. Die Analyse rechtsextremen Medien zeige Verschränkungen aller drei Formen des Antisemitismus (des Antijudaismus, des modernen und sekundären Antisemitismus), die mit Personifizierungen, Verschwörungskonstruktionen und der Schuldthematik verknüpft werden.7

Die anschließende Diskussion fokussierte sich auf zwei Punkte: weitere Überlegungen zu rechtsextremen und rechtschristlichen Medien (Nation&Europa, Internetseiten von Ultrakatholiken wie kreuz.net) und die Notwendigkeit der Begriffe in der Antisemitismusforschung. Es wurde die Frage aufgeworfen, ob die Antisemitismusforschung sich – ähnlich wie semantische Mappings – auf semantische Zusammenhänge konzentrieren solle, statt sich auf die Suche nach festen Begriffen und nach „der Wahrheit des Antisemitismus“ zu begeben. Die Vielfalt von Begriffen machen demnach die vergleichenden Analysen schwierig. Man ‚einigte’ sich darauf, dass der Antisemitismus keinen Begriff, sondern eine Praxis darstellt und die Antisemitismusforschung dennoch Begrifflichkeiten brauche.


 

Kurt Lenk (Erlangen):

Die Geburt des modernen politischen Antisemitismus

In der Einleitung wurde der moderne politische Antisemitismus seit dem 19.Jahrhundert nach Argumentationsweisen und Schwerpunkten in drei Erscheinungsformen (wirtschaftlich, politisch-ideologisch und biologisch argumentierende Formen der Judenfeindschaft) unterschieden. Den alltäglichen Antisemitismus gebe es neben diesen drei Formen kontinuierlich, auch wenn die Übergänge nicht genau bestimmt werden können. Auf die teilweise noch vormoderne Form der deutschen politischen Einrichtungen der Verfassungswirklichkeit – auch nach dem Ersten Weltkrieg – hinweisend, rekurrierte Kurt Lenk, wie die von fortschreitender Industrialisierung benachteiligten Schichten ihre Situation mittels Personifikationen zu erklären versuchten. Die sozial erzeugten Gefühle der Unsicherheit in Krisenzeiten bieten dem Antisemitismus den Boden, ein Gegenbild „des Schuldigen“ zu konstruieren. Politisch gesehen war das Deutsche Reich ein Staat ohne einheitliche Nation im Gegensatz zu der jüdischen Minderheit, die keinen Staat hatte und trotz ständiger Verfolgungen „völkisch homogen zu sein schien“. Vor allem in den modern-aufgeklärt-liberalen Juden sah die antisemitische Argumentation eine Gefahr für die eigenen Staatsvorstellungen.

Hinter der Begrifflichkeit „völkisch“ stehe die Frage, „wer nach welchen Kriterien zum deutschen Volk gehöre und wer nicht“. Die Vorstellungen von einer metapolitischen „Volksgemeinschaft“, von einem deutschen Volksmythos hingen mit dem Fehlen einer eigenen Staatszugehörigkeit zusammen und wurden zur Grundlage der völkischen Idee.8 Anknüpfend daran erläuterte Kurt Lenk die Überlagerungsthese, die davon ausgeht, dass der traditionelle Antijudaismus durch den politischen Antisemitismus „nicht abgelöst, sondern bloß überlagert“ wurde. Die Zugehörigkeit zur jüdischen Gemeinschaft wurde als schicksalhaft und nicht veränderbar dargestellt und in der Zeit des Entstehens der Judenfrage wurde zu vorhandenen antijudaistischen Vorurteilen im kollektiven Gedächtnis die Vorstellung eines „ewigen Antagonismus zwischen ‚Ariern’ und ‚Semiten’ “ hinzugefügt.

Ferner wurde auf die These zur Ethnisierung des Klassenkonflikts eingegangen. In der Bismarck-Ära sei die Einheit der Nation an die Stelle der bisherigen Vorstellung von einem fortschrittlichen Bürger in den Vordergrund getreten. Die Bezeichnungen „verspätete Nation“ (Plessner) und „Herrenvolk aus Untertanen“ (Heinrich Mann) weisen auf diesen Zusammenhang hin. Die „Anlehnungsbereitschaft der Kleinbürger an die starken Autoritäten“ (Engels) habe dabei eine wichtige Rolle gespielt. Die Transformation sozialer Klassengegensätze in der sog. Judenfrage habe in diesem Kontext stattgefunden. Aus dem antisemitischen Stereotyp bezüglich „jüdischer“ Arbeitsverhältnisse wurde der metaphorisch umgeschriebene Kollektivsingular „der Jude“ zur Beschreibung einer „angeblich genuin jüdischen Existenzform“. Es sei angemerkt, dass die Börsenkrise im Jahr 1873 eine wichtige Rolle spielte, da die Krisenzeiten der Nährboden für Feindbildprojektionen seien. 9

Den Mittelpunkt der anschließenden Diskussion bildeten der Gegensatz „Nation ohne Staat/Staat ohne Nation“ und die Frage, ob er mit kulturellen Aspekten ergänzt werden solle. Kurt Lenk betonte, dass dieses Modell nur für Deutschland gilt. In Frankreich z.B. gab es damals Gegenkräfte (Dreyfusprozess) und eine stärkere Demokratie.


 

Jochen Müller (ufuq.de – Jugendkultur, Medien und politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft Berlin)

Warum ist alles so ungerecht ...“ Die Funktion von Israelhass und Antisemitismus unter jungen Muslimen in Deutschland sowie Vorschläge zur pädagogischen Begegnung.

Am Anfang des Vortrags stellte der Islamwissenschaftler und Pädagoge Jochen Müller sich und das Projekt „Demokratiegefährdende Einstellungen bei jungen MuslimInnen“ vor. Der Antisemitismus der jungen MuslimInnen in Deutschland habe sich bis zu einem bestimmten Grad von arabischem Antisemitismus abgelöst. Die Täter-Opfer-Dichotomie sei jedoch übernommen worden, wodurch der Antisemitismus und die Wut durch die Vorstellung eines Befreiungskampfes der Unterdrückten zu rechtfertigen versucht werden.

Jochen Müller betonte, dass er die Bezeichnung „Jugendliche mit Migrationhintergrund aus dem Nahen Osten“ nutze, um klarzustellen, dass bei diesen Jugendlichen Religion eher eine sekundäre Rolle spiele und deren Antisemitismus eher regional formuliert sei. Insbesondere der Nahostkonflikt stelle eine Projektionsfläche für antisemitische Ideologieelemente dar. Die nachvollziehbare Angst um Verwandte in der Region bilde dabei den Erfahrungshintergrund. Wichtiger sei jedoch, dass die Jugendlichen die Probleme der Einwanderungsgesellschaft, v.a. die Nichtakzeptanz, feindliche Darstellung von MuslimInnen in den Medien aber auch pubertäre Einstellungen von Gewalt und Macht auf diesen Konflikt projizieren und sich als „Opfer von Ungerechtigkeiten“ fühlen.

Es wurden zwei Videoclips von Jugendlichen aus dem Nahen Osten gezeigt, bei denen der zweite radikale antisemitische Argumentationsformen aufwies. Als Funktionen von Israelhass und Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft listet Jochen Müller das Folgende auf:

1) Sündenbock-Funktion für widerfahrene Frustrationen 2) Feindbilder stiften Gemeinschaft, Orientierung, Zugehörigkeit vs. Nichtakzeptanz 3) Erlebnis eigener Stärke durch Diffamierung anderer 4) die Opferperspektive erklärt die eigene Lage und entlässt aus eigener Verantwortung 5) der Hass auf Israel und antisemitische Äußerungen dienen der Provokation von Mehrheitsgesellschaft und ihrer Pädagogen.

Anhand dieser Auflistung der Funktionen von Antisemitismus machte Jochen Müller auch Vorschläge zum pädagogischen Umgang mit antisemitischen Einstellungen bei „Jugendlichen mit Migrationhintergrund aus dem Nahen Osten“. Die pädagogische Bearbeitung dieser Frage solle beginnen mit dem Versuch, zu verstehen, wie diese Jugendlichen ihre Einstellung begründen. Die differenzierte Thematisierung des Nahostkonflikts und die Beförderung der Anerkennung der Betroffenen wären Schritte in diese Richtung. Sensibel gegen Antisemitismus seien unter den Jugendlichen diejenigen, die sich auch gegen andere Diskriminierungsformen positionieren. 10

In der anschließenden Diskussion wurde die Frage aufgeworfen, ob in diesem Kontext zwischen einem fragmentarischen, d.h. noch nicht ausgearbeiteten Antisemitismus und einem latenten Antisemitismus unterschieden werden kann. Diese Unterscheidung trete als fragmentarisch-latent nicht in Erscheinung, sei aber im Hintergrund vorhanden und in einer Krisensituation deutlich. Die RednerInnen machten darauf aufmerksam, dass auch die diskursiven Erscheinungen (Relevanz, Ressentiment) zu berücksichtigen seien. Jochen Müller wies auf die wichtige Rolle des Zuhörens für die pädagogische Arbeit hin. Ein weiterer Diskussionspunkt war die von Klaus Holz thematisierte Figur des Dritten, die auch im Antisemitismus der Jugendlichen mit Migrationhintergrund aus dem Nahen Osten eine Rolle spiele, neben der Konstruktion einer (arabischen) „Gemeinschaft“ gegen ein Fremdbild. Am Beispiel der „Grauen Wölfe“ in der Türkei erläuterte Jochen Müller die Mischform von Nationalismus und Islamismus. Es müsse neben dem Zuhören auch andere Strategien entwickelt werden, die politische Bildungsarbeit und Aufklärung über gegenwärtige Verhältnisse (Globalisierung usw.) leisten.


 

Claudia Globisch (Erlangen)

Gegenwärtiger Antisemitismus von links und rechts in Deutschland

Claudia Globisch aus dem Institut für Soziologie der Universität Leipzig stellte die Ergebnisse ihrer Promotionsarbeit vor, die sich mit dem gegenwärtigen Antisemitismus in linken und rechten Publikationen in Deutschland beschäftigt. Die Problemstellung konzentrierte sich dabei auf den Antisemitismus als Weltanschauung (Selbst- und Fremdbilder), auf Antisemitismus von links und rechts, auf seine wissenschaftliche und politische Reflexion und letztens auf die Wechselbeziehung zwischen Antisemitismus und Israelkritik in einem Zeitraum von der sogenannten „Wende“ bis zum Libanonkrieg im Jahr 2006. „Sich methodisch kontrolliert den Begründungsmustern verschiedener linker und rechter Spektren bezogen auf den Antisemitismus zu nähern“ sei die Motivation ihrer Arbeit. Statt sich an den normativen Begriffen von links und rechts zu orientieren11, habe sie bei ihrer Untersuchung mit den Begriffen gearbeitet, auf die sich die Gruppen selbst beziehen. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der antisemitischen Semantik in den linken und rechten Printmedien herauszuarbeiten, sei in diesem Kontext von zentraler Bedeutung, neben der Frage „Welche verschiedenen Formen des Antisemitismus und der Israelfeindschaft liegen in beiden Spektren vor?“

Die eingesetzte Methode war eine Sequenzanalyse von Fallbeispielen. Zugrundeliegend war die These – anlehnend an die Behauptung einer Kontinuität des Antisemitismus in demokratisch verfassten Gesellschaften von Adorno –, dass das Nachleben des Antisemitismus in demokratischer Gesellschaft viel bedrohlicher sei, als ein offener Antisemitismus gegen demokratische Gesellschaft. Antisemitismus sei nicht die Fortsetzung des Antijudaismus oder bloße Anhäufung einzelner Vorurteile, sondern „eine stabile Weltanschauung moderner Gesellschaften“. Die Arbeit konzentriere sich zudem nicht auf die Psychologie der AntisemitInnen, es gehe um die Analyse von Semantiken.12 Anhand einer Zeitschriftenanalyse und Experteninterviews befasste sich Claudia Globisch auch mit den Konstruktionen von „Wir“ und „die Anderen“ und mit anderen Musterkombinationen wie mit der Täter-Opfer-Konstruktion, mit der Figur des Dritten und mit Verschwörungen.

Aus dieser Untersuchung stellte sie ein Beispiel aus der „linken“ Zeitschrift „Rote Fahne“ vor. Der vorgestellte Artikel vom 18.04.2002 trug den Titel „Jeder Kritiker Israels – ein Antisemit?“ In dem Artikel sei die Täter-Opfer-Konstruktion im Kontext des Zweiten Weltkrieges als der Gegensatz zwischen Großkapital und Arbeiterbewegung / Juden aufgefasst. Für den Nahostkonflikt bestehe dieser Gegensatz zwischen dem Zionismus sowie dem USA-Imperialismus und den palästinensischen und arabischen Völkern. Als Lösungsvorschläge werden die Völkerfreundschaft, proletarische Befreiung, Unterstützung des palästinensischen Volkes und deren Befreiung gegen israelischen Staatsterror dargestellt. Es werde in dem Artikel, so Globisch, zwischen „guten“ (Opfer) und „schlechten“ (Zionisten) Juden unterschieden.

Die ausgewählten Zitate sollten zur Herauskristallisierung der antisemitischen Positionierungen im linken Spektrum dienen. Zentrale Stereotype sind u.a. der Vergleich der israelischen Staatspolitik mit der des Nationalsozialismus und die Legitimation der Angriffe auf die israelische Zivilbevölkerung als Reaktion auf die israelische Politik (Täter-Opfer-Umkehr). Abschließend zeigte Claudia Globisch schematisch die Gemeinsamkeiten und Differenzen von rechtem und linkem Antisemitismus auf. Die Gemeinsamkeiten lägen in den Fremdbildern „Finanzkapital, Kapitalismus, Achse USA/Israel“, in den rhetorischen Strategien, in der persuasiven Kommunikation und Moralisierung, in selektiven Fallbeispielen sowie in der Holocaustrelativierung, in Abstraktion und Verschwörungsthesen. Die antijudaistischen Konstruktionen seien dagegen nur in rechten Publikationen vorhanden.

In der anschließenden Diskussion wurde auf die Gefahr der Pauschalisierung von links und rechts hingewiesen und auf die Notwendigkeit einer breiteren Analyse und Berücksichtigung von anderen linken Strömungen. Das Übersehen des historisch-diskursiven Kontextes wäre ein theoretisches Problem. Weitere Diskussionspunkte waren die Frage „Kollektivsingular Israel?“ und die Rekonstruktion des theoretischen Zugangs. Die komplexen Zusammenhänge müssen demnach genauer beobachtet und nicht alle Komponente als antisemitisch pauschalisiert werden.


 

Siegfried Jäger (Duisburg)

Die jüdische Vorstellung einer „gerechten Gesellschaft“ zwischen religiös begründeter und profaner Ethik. Eine diskurstheoretische Spurensuche.

Der Vortrag verfolgte das Ziel, einer diskurstheoretischen Spur nachzugehen, die den jüdischen Ethikdiskurs und den Kampf jüdischer Autoren für eine gerechte Gesellschaft und Folgen seiner Verweigerung dokumentiert. Ausgegangen wurde dabei vom Diskursbegriff des französischen Philosophen Michel Foucault. Demnach sind Diskurse „Träger von sozialen Wissensvorräten durch die Zeit“, die „nicht nur Handeln und Macht, sondern auch Konstruktion und Legitimation von Wahrheiten, Herrschaft, Krieg und Vernichtung zur Folge“ haben. Bei den Gegendiskursen gehe es um „andere, menschliche Wahrheiten“.

Der Diskurs deutsch-jüdischer Intellektueller stelle ein prägnantes Beispiel für einen solchen Gegendiskurs dar, bei dem es um die Schaffung einer gerechten Gesellschaft, um Glaubensfreiheit, aber auch um die Bekämpfung des von Luther und Treitschke begründeten historisch-diskursiven Apriori gehe. Trotz der „Übertrumpfung“ sei dieser Gegendiskurs im Hintergrund weitergeflossen und sei nach der Shoah wieder in neuer Gestalt, jedoch in klarem Bezug auf diskursive Apriori, so Jäger, aufgetreten.

Anhand ausgewählter Zitate von jüdischen Autoren und Intellektuellen wie Moses Mendelsohn (1729-1786), Leopold Stein (1810-1882) und Raphael Strauss schilderte Siegfried Jäger, dass in jüdischer Publizistik im 18. und 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts ein messianische Ethos vertreten wurde und ein gewisses Vertrauen auf die diesseitige Realisierbarkeit der Freiheit (v.a. Glaubensfreiheit) und Gerechtigkeit vorhanden war. Letzteres weise auch darauf hin, dass die jüdische Ethik „abseits jeglicher religiöser Fundamentalismen“ zu bewerten bzw. verorten sei. In bildhaften, metaphorischen Bezeichnungen der vorgestellten gerechten Gesellschaft („Sonne der Liebe“ – L.Stein) versuchten die Autoren, den universalistischen, sich auf Gleichbehandlung aller Menschen beruhenden Anspruch der jüdischen Ethik13 darzulegen. „Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit und Frieden“ sollten dementsprechend die Grundlagen der „neuen Erde“ (Das.65, 17) bilden. Raphael Strauss behauptete im Jahr 1933 (-34) angesichts des frühen deutschen Faschismus, dass dadurch mutige leistungsfähige Menschen zusammenkommen und Widerstand leisten würden, und sprach von einem Verfall der europäischen Gesittung, wobei „ein Verfall wie die Shoah für ihn unvorstellbar“ war.

Im zweiten Teil referierte Siegfried Jäger die Weiterführung des jüdisch-intellektuellen Diskurses nach der Shoah, die in einen philosophischen Diskurs des „Messianismus ohne Messias“ mündete. Dabei bezieht er sich auf die Walter Benjamin , Emmanuel Levinas und letztlich auf Jacques Derrida, der die Denkfigur vom „schwachen Messianismus“ bei W. Benjamin in eine Philosophie des „Messianismus ohne Religion“ und in eine diesseitige Ethik der Gerechtigkeit verwandelte. Obwohl es bei Foucault keinen direkten Anschluss an diese Diskurse gebe, wies Siegfried Jäger auf die diesbezügliche Bedeutung der foucaultschen Begrifflichkeit „Spiritualität“ hin.

Siegfried Jäger resümierte seine Spurensuche folgendermaßen: Der Gegendiskurs der aufklärerischen deutsch-jüdischen Autoren wurde im 19. Jahrhundert von einem aggressiven nationalistischen Diskurs und im 20. Jahrhundert durch den faschistischen Antisemitismusdiskurs übertrumpft, blieb jedoch im Hintergrund existent, da Diskurse nicht restlos verschwinden. Nach 1945 führte das diskursive Ereignis Shoah zu zwei neuen Diskurssträngen. Erstens wurde der Antisemitismus offiziell nicht sagbar, überlebte aber in latenter Form. Zweitens fand dagegen ein philosophischer und intellektueller Anschluss an jüdische Diskurse der Aufklärung statt. Der Vortrag endete mit der Frage, warum aber dieser Anschluss an jüdische Ethikdiskurse in Deutschland nicht oder kaum zu beobachten war.

Die anschließende Diskussion über die Säkularisierung der Idee der profanen Erleuchtung beschäftigte sich vor allem mit der Frage der Unterbrechung und Kontinuität von Diskursen. Persönlich sei z.B. Walter Benjamin von einem Abbruch des Diskurses ausgegangen. Da aber Diskurse überindividuell angelegt sind, sei eine Kontinuität dennoch denkbar.


 

Heiko Kauffmann (Meerbusch)

Von Evian nach Brüssel. Menschenrechte und Flüchtlingsschutz 70 Jahre nach der Konferenz von Evian

Der Menschenrechtler und ehemalige Sprecher der Flüchtlingsorganisation PRO ASYL, Heiko Kauffmann, war Mitinitiator der Konferenz14 „Von Evian nach Brüssel. Menschenrechte und Flüchtlingsschutz 70 Jahre nach der Konferenz Evian.“ In seinem Vortrag berichtet er von dieser Konferenz und deren Bedeutung. Man müsse 70 Jahre nach Evian15 feststellen, dass die Bedingungen des Flüchtlingsschutzes nicht verbessert worden sind, sondern sich ständig verschlechtert haben. USA und die europäischen Staaten, die dazu beigetragen haben, nach dem Zweiten Weltkrieg das internationale System von Asyl- und Flüchtlingsschutz zu gründen, seien heute diejenigen, welche die Grundlagen dieses Systems infrage stellen. In Deutschland werden im Umgang mit den Flüchtlingen, spätestens seit dem Inkrafttreten des geänderten deutschen Asylrechts im Jahr 1993, die eigenen Verfassungsprinzipien und wichtige Menschenrechtsstandards nicht mehr gewährleistet. Auf der EU-Ebene weisen die massive Abwehr von Flüchtlingen und MigrantInnen an den Außengrenzen der EU und ein System von Lagern an der Peripherie auf den paramilitärischen Stil des europäischen Flüchtlings- und Migrationregimes hin.

Angesichts der heutigen „Perfektionierung der Prozeduren der Abschottung und Verbarrikadierung durch die EU“ müsse man die Frage aufwerfen, ob die Lehren von Evian wieder in Vergessenheit geraten seien. Die europäischen Reaktionen auf die Mittelmeerkrise erinnern an die „heuchlerische humanitäre Beschwörungs- und Mitleidsrhetorik und den Abwehrkurs gegenüber Flüchtlingen vor 70 Jahren“, so Kaufmann. Wenn Evian zum Symbol der zynischen Doppelstrategie gegen Flüchtlinge vor und während des Zweiten Weltkrieges ist, stehen heute für diesen „zynischen Charakter“ die mit hohen Zäunen und militärischen Überwachungsmaßnahmen aufgerüsteten Grenzen sowie die Auffang- und Abschiebelager in verschiedenen Orten am Süden und Osten Europas. Das Grenzregime manifestiere „der Wille der Aufrechterhaltung des Status quo um jeden Preis zur Abwehr von Eindringlingen und zur Verteidigung der eigenen Privilegien“. Vor allem die afrikanischen Flüchtlinge seien heute mit einem ökonomisch und ideologisch motivierten, institutionellen Rassismus konfrontiert.

Anhand verschiedener Zitate aus den Briefen und Dokumenten von Flüchtlingen (aus Deutschland vor und während des Zweiten Weltkrieges und aus Afrika heute) zeigte Heiko Kauffmann, wie insbesondere die Flüchtlingskinder und Jugendlichen von Verachtung, Ausgrenzung und Marginalisierung betroffen sind. Zudem sei der gegenwärtige Rassismus nicht nur in ethnischen Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen erkennbar, sondern auch in wirtschaftlichen und sozialen Interventionen, in Phänomenen der Ausbeutung und des Waffenhandels sowie in einem ständigen System „permanenter Dominanz und einseitiger Abhängigkeit“. Die EU-Länder seien die subtilen „Nutznießer der Unterentwicklung im Süden“. Die ungleiche Globalisierung und brutale Ausgrenzung seien die eigentlichen Fluchtursachen, die zu dieser „individuelle(n) Reaktion auf eine kollektive Katastrophe“ führen. Die Praktiken der Abschiebung, Zwangsvorführung, Erkundung der Fluchtrouten, Überwachung, „heimatnahe(n) Unterbringung“ in Lagern seien neben der Kluft zwischen Armut und Wohlstand „die sinnbildlichen Monumente der Festung Europa“ und eines „postkolonialen Systems globaler Apartheid.“ Die europäische Abwehr werde durch das neoliberale Motto „there is no alternative“ zu rechtfertigen versucht.

Bei der Erinnerung an Naziverbrechen gehe es auch darum, den Tendenzen zum Wiederaufleben entgegenzutreten und die Strukturen der Ausgrenzungs-, Unterdrückungs- und Vernichtungsstrategien zu erkennen, um ihnen dann entgegen wirken zu können. Das tausendfache Sterben an den europäischen Grenzen mache die Aufforderung zur starken sozialen kollektiven Gegenbewegung und zu einem anderen Europa für eine andere Welt dringender.

In der anschließenden Diskussion erläuterte Heiko Kauffmann seine Eindrücke von der Konferenz in Juli 2008 zum 70. Jahrestag der Konferenz in Evian. Mit der nach dieser Konferenz eingeführten Kampagne „Stoppt das Sterben!“ habe PRO ASYL besonders in den Schulen einer breiteren Öffentlichkeit erreichen können. Auch wies er auf die notwendige Zusammenarbeit der Organisation PRO ASYL mit WissenschaftlerInnen (u.a. Klaus Bade, IMIS, DISS) und auf den Nutzen der Erkenntnisse von wissenschaftlicher Migrationsforschung in der politischen Praxis hin.


 

Yves Kugelmann (Chefredakteur jüdische Medien AG, Zürich) im Gespräch mit Jobst Paul

<Antisemitismus ist für uns Pflicht und nicht Kür im redaktionellen Alltag“

Der Chefredakteur der Jüdische(n) Medien AG Zürich (tacheles, Revue Juive, aufbau, 2life, Jüdische Rundschau), Yves Kugelmann, erörterte am Anfang des Gesprächs den Charakter der jüdischen Publizistik, die immer brisante Themen bearbeitet hat. Aufgrund der Heterogenität jüdischer Gemeinschaften und dort stattgefundenen „Crashs“ sei es immer der erste Tätigkeitsbereich der jüdischen Medien gewesen, verschiedene jüdische Strömungen aufzufangen und zu thematisieren. Dieser Tradition folge auch die Jüdische Rundschau,, wobei nicht alle LeserInnen damit zufrieden seien und viele die Zeitung im Bezug auf jüdische Themen als „viel zu links“ empfinden.

In der Schweiz zeige der jüdische Diskurs Unterschiede im Vergleich zu Deutschland auf. Diese Unterschiede seien vom anderen Demokratieverständnis in der Schweiz, aber vor allem dem besonderen geschichtlichen Hintergrund in Deutschland geprägt. Für die Schweiz könne man behaupten, dass es da keinen Antisemitismusdiskurs gebe, zumindest in der Form des Antisemitismusdiskurses in Deutschland. In Deutschland fehle dagegen eine unabhängige Zeitung, die sich mit Themen aus verschiedenen jüdischen Gemeinden beschäftigt.

Auf die Frage von Jobst Paul, was mit „Pflicht und nicht Kür“ gemeint sei, antwortete Kugelmann, dass Antisemitismus für die Redaktionen ein Pflichtthema sei und sie sich dazu aufgefordert sehen, den Antisemitismusdiskurs offen zu führen und sich kompetent einzubringen. Sie identifizieren sich publizistisch aber nicht allein mit dieser Debatte. Sie16 vertreten nicht die verschiedenen politischen Ansichten innerhalb der jüdischen Gemeinschaft in der Schweiz, sondern wollen ihren journalistischen Ansatz den Vorrang geben.

In der journalistischen Praxis seien sie zudem immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie und mit welchen Situationen bzw. antisemitischen Tendenzen umzugehen ist, und welche Ereignisse in den Vordergrund gerückt oder als Einzelfall bewertet werden sollen. In der Redaktion seien die wichtigsten Ziele, die Erinnerungskultur nicht als Selbstzweck, sondern als einen produktiven Prozess aufzufassen und ganz allgemein den Rechtsstaat sowie die Demokratie zu unterstützen.17

Darüber hinaus gab Kugelmann Beispiele aus der Zusammenarbeit mit anderen Institutionen. Zusammen mit dem Berliner Institut für Antisemitismusforschung sei eine umfassende empirische Studie über den Antisemitismus in der Schweiz entstanden. Auch in Zusammenarbeit mit der Schweizer-Regierung werde einmal in drei Jahren ein „Rassismus-Monitoring“18 gemacht. Die Erarbeitung von Fakten sei auch für die journalistische Arbeit gegen Antisemitismus unabdingbar. Im Jahr 2002 hatte eine empirische Studie über den Antisemitismus in der Schweiz das Ergebnis, dass 60% der Gesellschaft antisemitisch eingestellt seien. Yves Kugelmann sieht jedoch nicht alle negativen Aussagen gegenüber Juden als antisemitisch an. Unterschiede seien mit der neuen Methode „Rassismus-Monitoring“ erkennbar. Daher seien die durch diese Methode erhobenen Ergebnisse konkreter, um den Antisemitismusdiskurs im allgemeinen Rassismus- und Diskriminierungsdiskurs zu kontextualisieren.

Die Frage von Jobst Paul zur Unterscheidung Antijudaismus-Antisemitismus bezeichnete Kugelmann als eine Gretchenfrage. Seiner persönlichen Meinung nach sei der zu beobachtende und zu bekämpfende Antisemitismus, welcher nicht dem Christentum zugeschrieben werden könne, sondern andere Gründe19 habe, aus publizistischer Sicht gewichtiger zu thematisieren.

Zudem wurde diskutiert, welche Veränderungen innerhalb der jüdischen Publizistik im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte stattgefunden haben. Yves Kugelmann verglich die gegenwärtige Situation mit derjenigen während der Finanzkrise im Jahr 1929 und auch mit der in den 70er Jahren und betonte, dass die jüdische publizistische Debatte damals ganz anders ausgesehen habe, offener und unabhängiger gewesen sei. Dagegen seien heute die politischen Ansichten bzw. Positionen vermengt, voneinander abhängig und nicht mehr so klar. Außerdem wurde in der anschließenden Diskussion die schweizerische Publizistik am Beispiel der Neue(n) Züricher Zeitung angesprochen, die Methode „Rassismus-Monitoring“ erläutert und die verschiedenen Reaktionen in der Schweiz und in Deutschland zur Martin-Walser-Rede diskutiert. Die Diskussion endete mit einem Zitat aus einer satirischen Schrift von Kurt Tucholsky: „Das Gegenteil von gut ist nicht böse, sondern gut gemeint.“


 

Andreas Disselnkötter (Tribüne – Zeitschrift zum Verständnis des Judentums, Frankfurt)
Die Bedeutung jüdischer Medien bei der Bekämpfung von Antisemitismus

Nach einer kurzen Vorstellung seiner Person und Tätigkeit in der Zeitschrift Tribüne, die in Deutschland, Israel und den USA erscheint, erläuterte der Andreas Disselnkötter zur Einführung seine Überlegungen zum Begriff „jüdische Medien“ in Hinblick auf ihre geringe Präsenz als überregionale Printmedien. Diese seien die Medien, „die von der nicht-jüdischen Gesellschaft als jüdische identifizierbar sind.“, es gebe aber auch einige jüdische JournalistInnen, die sich nicht als solche bezeichnen würden. Die Judenfeindschaft sei ein „Querschnittsthema der Gesellschaft“ und immer wieder seien die jüdischen Medien mit der Aufgabe konfrontiert, sich dieser entgegenzusetzen. Im Anbetracht der zum Teil unklaren Ergebnisse der Medienwirkungsforschung über die Wirkung der jüdischen Medien bei der Bekämpfung des Antisemitismus seien auch manche kritische Stimmen innerhalb des Diskurses zu beobachten, ob die Aufklärungsarbeit der jüdischen Medien sinnvoll sei.

Anhand dreier Fallbeispiele aus der journalistischen Praxis zeigte der Referent, wie die jüdischen Medien in der beruflichen Praxis mit den modernen Erscheinungsformen des Antisemitismus, vor allem jenem Antisemitismus mit „guten Manieren“ konfrontiert sind:

Das erste Fallbeispiel über die Israeldarstellung auf der Internetseite des ZDF-Programms Tigerentenclub und über den Film „60 Jahre Israel“ sollte verdeutlichen, wie in den Medien einseitige und historisch-politisch falsche Bilder des Nahostkonflikts vermittelt werden. Die Reaktion bzw. Intervention der Zeitschrift Tribüne durch Telefonate sei folgenlos geblieben.

Das zweite Fallbeispiel handelte von der israelkritischen Rezension des Journalisten Rudolf Walther zum Sammelband „Neu-alter Judenhass. Antisemitismus, arabisch-israelischer Konflikt und europäische Politik“ (Berlin 2006) in der Zeitschrift „Neue Gesellschaft Frankfurter Hefte“. In diesem Beitrag werde die israelische Politik als „rechtsextrem gebrandmarkt“ und die israelische Gesellschaft als „gelegentlich rassistisch“ und „runtergekommen“ dargestellt. Die Proteste haben in diesem Fall ebenfalls wenig gebracht.

Mit einem dritten Fallbeispiel über die medialen, initiativen und juristischen Versuche zur Verhinderung des Verkaufs einer „entwidmeten“ Bielefelder Kirche an die lokale jüdische Gemeinde zeigte der Referent, wie der Synagogenbau vor allem als „christenfeindlicher Akt“ wahrgenommen wird und dadurch agitative antisemitische Bilder verbreitet werden. Die Proteste der Zeitschrift Tribüne wurden auch in diesem Fall stillschweigend ignoriert.

Aufgrund solcher Erfahrungen lasse sich schlussfolgern, dass die ständige Berichterstattung der jüdischen Medien zu den Erscheinungsformen des Antisemitismus „wenige(n) bis keine(n)“ Einfluss habe, jedoch müsse der gemeinsame Kampf gegen Antisemitismus weitergehen.

In der Abschlussdiskussion wurde vor allem über den Bielefeld-Vorfall weiter diskutiert. Zudem wurde die Darstellung infrage gestellt, dass die jüdischen Medien nur jüdischen Rezipienten erreichen und daher wenig Einfluss haben. Positive Vorschläge werden geäußert, um die richtigen „AnsprechpartnerInnen“ bzw. sowohl RezipientInnen als auch als TeilnehmerInnen für die kontroversen Gegendiskurse zu finden, der falschen Normalisierung und einfachen Historisierung („es ist doch alles Geschichte“) in Deutschland entgegenzutreten und neue langfristige Strategien zu entwickeln.


 

Resümee:

Das 21. DISS Colloquium „Antisemitismus als Defekt oder Funktion der Mehrheitsgesellschaft“ hat im Hinblick auf die Darstellung der verschiedensten Perspektiven aus den Bereichen Wissenschaft, Publizistik und Pädagogik seiner Ausgangsfrage detailliert nachgehen können. Die Diskussion zu Möglichkeiten der Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Antisemitismus, sowie zu neuen theoretischen sowie methodischen Vorgehensweisen, ermöglichte den TeilnehmerInnen, Perspektiven auszutauschen, die Debatte zu aktualisieren und um weitere Aspekte (Kontinuität und Brüche des antisemitischen Diskurses, Unterscheidung zwischen aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus) zu entfalten.

Die Beiträge zu diesem Colloquium werden im Laufe des Jahres 2009 unter der Herausgeberschaft von Jobst Paul (DISS) im Unrast-Verlag Münster veröffentlicht. Zum Schluss wurde auf das nächste DISS-Colloquium am 27.-29.November 2009 in der Frankenwarte Würzburg mit dem Arbeitstitel „Extreme Rechte“ hingewiesen.

 

 

 

 

1 Das Judentum akzeptiere keinen Glauben, der nicht „zum Gegenstand des eigenen Nachdenkens“ (Brisker, L.: 1871) gemacht und nicht mit „Erkennen, Forschen und Wissen“ (Kayserling, Meyer: 1882) unterstützt wird.

2 „Wie dankbar wollte das Judentum dem Christentum sein, wenn die neue Lehre, als treue Mitarbeiterin auf dem Felde der Menschenliebe, Schulter an Schulter mit der alten Lehre, die Unduldsamkeit und den Hass bekämpfen und der Nächstenliebe immer weitere Gebiete erschließen wollte.“ (Brüll, Adolf: 1891)

3 Das Judentum fungiere als „das Mittel der Prüfung für die wirkliche Existenz der persönlichen Freiheit, des Menschenrechts und der Menschenwürde“.

4 Die Bezeichnung von Antisemitismus als „Defekt der Mehrheitsgesellschaft“ wurde von Wolfgang Benz geprägt.

5 In den antisemitischen Kampagnen am Ende des 19.Jahrhunderts sind die gleichen Vorwürfe wie zu Beginn oder in der Mitte des Jahrhunderts zu beobachten. Der Aspekt Rasse wurde „offenbar stillschweigend als Referenz vorausgesetzt,“ ohne eine weitergehende inhaltliche Funktion zu haben Die Anklagen gegen diese antisemitische Kampagnen wurden von den Gerichten meist mit der Begründung abgewiesen, dass die Kampagnen die Juden nicht als Religionsgesellschaft, sondern als „Volk“ beträfen, dass also nicht die Verunglimpfung einer Religion vorliege.

6 Auf der einen Seite stehen demnach die „logischen Bezüge vom mittelalterlichen Antijudaismus zum modernen Antisemitismus“ (Hilberg), auf der anderen Seite müsse man die Kontexte einbeziehen, um die „erkennbaren Kontinuitäten nicht zu übersehen“ (Bergmann).

7 Diese lassen sich in der Zuschreibung einer jüdischen Lobby das Prinzip der Sippenhaft, Leugnung der Shoah, Debatte um eine „jüdische Rachsucht“, in dem Bild des „jüdischen Bolschewismus“ beobachten. Extremrechte und rechts-christliche Publikationen weiten damit das Sagbarkeitsfeld bezüglich Antisemitismus aus und versuchen, „den Juden zum Anderen, zum Dritten zu machen“.

8 Die judenfeindlichen Äußerungen von J.G. Fichte können in diesem Zusammenhang analysiert werden, wobei die rassenideologischen Argumente noch nicht ausgeformt seien und es hier eher um antijudaistische Sichtweisen gehe.

9 Zum Schluss fasste der Referent seine Thesen zum Antisemitismus im 19.Jahrhundert wie folgt zusammen: 1) Nach der Reichsgründung 1871 gab es in Preußen gesellschaftliche Kräfte, die die rechtliche Gleichstellung der jüdischen Minderheit als Folge der Französischen Revolution rückgängig machen wollten. 2) Wegen der fortbestehenden Diskriminierung im Staatsdienst sollten die Juden in freien Berufen arbeiten, was eine fortschreitende Verstädterung des preußischen Judentums als Folge hatte. 3) Anfang des politischen Antisemitismus entspricht die Kritik eines sogenannten „jüdischen Wirtschaftsliberalismus“. 4) Durch die Äußerungen des preußischen Historikers Heinrich von Treitschke wurde der bürgerlich-mittelständige Antisemitismus verschärft. 5) Der Antisemitismus ist keine Massendämonie, nicht Schicksal und Verhängnis. Dass das aggressive soziopsychische Potential in die Politik einbezogen wurde, hängt u.a. auch mit der Auflösung der bis dahin agrarisch-feudalen Gesellschaft zusammen. 6) Nationalsozialistische „Endlösung“ war gedanklich experimentell längst vorbereitet.

10 Bei der pädagogischen Arbeit mit Jugendlichen mit Migrationhintergrund aus dem Nahen Osten seien im Kontext des Nahost-Konflikts folgende Perspektiven aufzufordern: 1) Dialog statt Moralisierung 2) biographisches Nachfragen (Informationen, Aufklärung der Verhältnisse) 3) Verlassen der Opferperspektive 4) Unterscheidung der Erzählungen in Erfahrung und Verzerrung; rationale Erklärungen statt ideologischen Äußerungen 5) Multiperspektive und kontroverse Darstellung vs. homogene Selbst- und Fremdbilder 6) Einbindung des Antisemitismus in andere Formen der Diskriminierung und Verfolgung von Minderheiten (ohne dessen Besonderheit komplett im Hintergrund zu halten) 7) Förderung kritischer Medienkompetenz 8) Einbeziehung der Eltern/Community 9) Bezug auf den Islam vs. Intoleranz 10) Reflexion des eigenen Standpunktes über Holocaust usw.

11 Lege man einen normativen Begriff von „links“ zugrunde, dürfe es in diesem Spektrum keinen Antisemitismus geben, jedoch habe sich der Sachverhalt anders erwiesen.

12 Die Referentin rekurrierte zur Einführung die verschiedenen Begriffe des Antisemitismus und den Standpunkt ihrer Dissertation, in der mit Klaus Holzschen Semantikbegriff gearbeitet wurde. Antisemitismus wird als eine kulturelle und politische Semantik und Weltanschauung begriffen. Der Ausgangspunkt sei dabei der Wunsch, dass im Angesicht der Entkopplung der Soziologie und der Antisemitismusforschung, eine Wiederkopplung durch den Semantikbegriff zu ermöglichen. Auch die pragmatische Lebensbild-Theorie und die Sozialphänomenologie seien in die Analyse miteinbezogen worden. Den Antisemitismus als gepflegte Semantik, als „begrifflich kodifiziertes Wissenssystem“ (Srubar) mit dem Charakter einer Weltanschauung auffassend, konzentrierte sich die Referentin auf die Freund-Feind-Definitionen, In- und Exklusion, zugebilligte Reziprozität und Erscheinungsformen von Rationalität vs. Irrationalität bzw. Emotionalität.

13... Ist es Zweck der Vorsehung, dass der Bruder den Bruder lieben soll, so ist es offenbar die Pflicht des Stärkeren, den ersten Antrag zu thun, die Arme auszustrecken, ... zu rufen: Laßt uns Freunde seyn!“ (M.Mendelsohn: Vorrede zu Mannasseh Ben Israels Text „Rettung der Juden“, 1872:8)

14 Zu dieser Konferenz ist auch eine Publikation herausgekommen: Benz, Wolfgang / Curio, Claudia / Kaufmann, Heiko (Hg.)(2008): Von Evian nach Brüssel. Menschenrechte und Flüchtlingsschutz 70 Jahre nach der Konferenz von Evian. Loeper Verlag:Karlsruhe.

15 Bei der Konferenz von Evian 1938 seien keine positiven Ergebnisse erzielt worden. Die Schließung der Grenzen statt Öffnung, die Verweigerung der Visa statt Ausweitung, die Verschärfung der Einwanderungsgesetze statt Lockerung und sogar zynische Vorschläge, die Flüchtlinge in Alaska oder in eine Insel ab hinter Australien zu verlegen: All dies waren Zeichen für das faschistische Hitler-Regime, dass für die jüdische Bevölkerung keine internationale Unterstützung vorhanden war. Aus der Einberufungsfrage „Wie schützen wir die Flüchtlinge?“ sei „Wie schützen wir uns vor ihnen?“ geworden.

16 Kugelmann spricht von der Redaktion “Jüdische Medien AG” während des gesamten Gesprächs mit dem Personalpronomen „wir“. Die Publikationen der “Jüdische(n) Medien AG” sind tachles (Online-Ausgabe), Jüdische Rundschau, Aufbau, revue juive, 2life. Siehe Homepage www.tachles.ch

17 Zum Thema die Rolle der Medien und Pädagogik in Antisemitismusbekämpfung vertrat Kugelmann die These, dass der öffentliche Reflex gegen Antisemitismus in der Schweiz und in anderen Ländern gut funktioniere. Die Medien könnten dabei die Funktion annehmen, Fakten darzulegen, Tendenzen aufzudecken, wissenschaftliche Studien zu unterstützen, und Betrachtung zu schaffen.

18 Rassismus-Monitoring: eine neue Methode für die Interviewführung und insbesondere für die Auswertung von Befragungen, um neue Darstellungen bzw. Erscheinungsformen des Antisemitismus in verschiedenen Bevölkerungsschichten, Bildungsschichten und dessen geografische Verteilung.

19 Untersuchungen zufolge gaben 38% der Befragten andere Gründe für Antisemitismus an.

 

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