Von Margarete Jäger
Seit wenigen Wochen ist die 8. Auflage des Einführungsbandes „Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung“ im Unrast-Verlag erschienen. Sie entwickelt das Standardwerk von Siegfried Jäger weiter und verarbeitet theoretische Überlegungen und praktische Erfahrungen der Diskurswerkstatt und des DISS aus mehr als drei Jahrzehnten. Als Gegenstück zu diesem 420 Seiten starken Buch drucken wir hier einen leicht überarbeiteten Kurzvortrag von Margarete Jäger nach, in dem sie die KDA kurz und knapp vorstellt.1
Die Kritische Diskursanalyse (KDA) versteht sich als ein Konzept qualitativer Sozialforschung, das insbesondere von den Schriften Michel Foucaults inspiriert ist. Wir nennen dieses Verfahren „Kritische Diskursanalyse“, weil wir damit herausstellen wollen, dass es sich besonders dazu eignet, gesellschaftlich brisante Themen und Debatten zu analysieren.
Diskurse begreifen wir dabei als gesellschaftliche Redeweisen, die institutionalisiert sind, d.h. gewissen Regeln unterliegen und Machtwirkungen entfalten, weil sie das Handeln von Menschen bestimmen. Wir begreifen Diskurse als „Fluss von ‚Wissen’ durch Zeit und Raum“ und wollen damit ihre historische Dimension einfangen. Diskurse fließen sozusagen von der Vergangenheit durch die Gegenwart in die Zukunft.
Wenn wir Diskurse analysieren, geht es uns um die Antwort auf die Frage, was zu einem bestimmten Zeitpunkt von wem wie sagbar ist bzw. war. Das wiederum bedeutet, dass immer auch die Frage danach mitspielt, was nicht sagbar ist bzw. war. Mit einer Diskursanalyse wollen wir also das Feld des Sagbaren erfassen. Indem wir aber auch die Grenzen des Sagbaren in den Blick nehmen, betrachten wir immer auch die Machtwirkungen von Diskursen.
Diese Machtwirkungen entfalten Diskurse jedoch nicht im luftleeren Raum. Diskursanalysen stoßen vielmehr inhaltlich sehr schnell auf sogenannte diskurstragende und -stabilisierende Faktoren. Dazu gehört zum einen der Komplex des Normalismus, dessen Wirksamkeit und Bedeutung von Jürgen Link herausgearbeitet worden ist und dessen Analysen wir in die KDA eingearbeitet haben.2
Normalismus
Unter Normalismus verstehen wir einen Kulturtyp, in dem nahezu alle gesellschaftlichen Sektoren quantifiziert und messbar gemacht werden. Insofern lässt sich sagen, dass wir es zurzeit in Deutschland vorherrschend mit einer normalistischen Kultur zu tun haben. Wir kennen es alle: Fast alle Ereignisse werden hinsichtlich ihrer Normalität befragt und – sofern sie davon abweichen – werden Anstrengungen unternommen, die gewünschte Normalität wieder herzustellen. Dies vollzieht sich zum Beispiel dadurch, dass Durchschnitte errechnet werden, dass Toleranzgrößen und Grenzwerte ermittelt werden, innerhalb deren eine Entwicklung als normal angesehen wird. Alles, was noch in diesen Bereich hineinfällt, ist okay und normal, außerhalb dieser Bereiche beginnt jedoch „Denormalisierung“. Es wird damit ein Handlungsbedarf kenntlich gemacht, der darauf ausgerichtet ist, die Normalität wieder herzustellen.
Die Frage, was als normal gilt bzw. gelten soll und was nicht und wie dieser Zustand herzustellen und zu erhalten ist, ist für die zentralen gesellschaftlichen Debatten grundlegend. Die Kontrolle und Regulation dieser Normalität geschieht durch unterschiedliche Strategien, deren Machteffekte sich durch Diskursanalyse herausarbeiten lassen. Wir können flexibel- und protonormalistische Strategien unterscheiden, die jeweils unterschiedliche subjektivierende Effekte zeitigen. Die flexibel-normalistische Strategie nutzt Spielräume und Toleranzgrößen, während eine protonormalistische Strategie sehr starre Grenzen setzt.
Kollektivsymbolik
Bei der Umsetzung dieser Strategien spielt die Kollektivsymbolik eine entscheidende Rolle, die deshalb gleichfalls von Jürgen Link als ein diskurstragendes Element angesehen wird.3
Unter Kollektivsymbolen verstehen wir kulturelle Stereotypen, die kollektiv tradiert und benutzt werden. Das können Bilder im Wortsinne sein, also Fotos und Karikaturen, das können aber auch Sprachbilder, also z.B. Metaphern sein. Wichtig ist, dass diese Symbole von einem großen Teil der Gesellschaft sofort verstanden werden und ,sinnvoll’ sind.
Kollektivsymbole entfalten ihre Wirkung innerhalb eines topischen Systems, das für westliche moderne Industriegesellschaften folgendermaßen skizziert werden kann.
Es lässt sich als ein kreisförmiges Gebilde vorstellen, dessen Grenzen gleichzeitig die Grenzen des sozialen Systems symbolisieren, mit denen das Innen vom Außen getrennt wird. Dieser Kreis kann sowohl vertikal wie auch horizontal durchschnitten werden. Vertikal entsteht so eine Achse von Oben und Unten, mit der eine hierarchische Struktur markiert wird. Die horizontale Achse ermöglicht politische Verortungen: von rechts bis links. Hinzu kommt eine dritte Achse, die dynamische Entwicklungen wie Rückschritt und Fortschritt darstellt.
Diese Grundtopik wird durch verschiedene Symbolserien sprechend gemacht. Dabei sind für alle konfliktären Diskurse die Symbole besonders bedeutsam, mit denen das ‚Eigene‘ vom ‚Fremden‘ abgegrenzt wird. Und hier lassen sich charakteristische Unterschiede festhalten: Während die Innenwelt häufig zum Beispiel als Flugzeug, Auto, Schiff oder Haus symbolisiert wird, gelten für die Außenwelt Symbole wie etwa Ungeziefer, Stürme, Fluten, Gifte etc. Zwischen beiden Serien besteht ein entscheidender Unterschied: Die Symbole, die das eigene System codieren, signalisieren (fast immer) einen Subjektstatus der Dargestellten, während die Symbole, die sich auf die Außenwelt beziehen, diesen vermissen lassen. Das eigene System wird also in der Regel durch Symbole codiert, die mit Ordnung und Rationalität verbunden sind, das Außensystem durch solche, die Chaos und Unberechenbarkeit signalisieren.
Durch den Einsatz dieser Symbolik lassen sich gesellschaftliche Prozesse und Veränderungen als integraler Bestandteil der Gesellschaft deuten oder als Abweichung von dieser und damit als „Anormalität“. Sie hilft, zwischen Normalität und Abweichung zu unterscheiden.
Das System kollektiver Symbolik legt Logiken nahe, innerhalb derer in einer Gesellschaft über Problemzusammenhänge nachgedacht wird, ohne dass diese Probleme dadurch restlos determiniert würden.
Analytische Kategorien
Nun stellen sich Diskurse im Ausgangspunkt als ein Gewimmel vielfältiger Aussagen dar. Dieses Gewimmel gilt es erst einmal zu entflechten. Dabei helfen uns einige analytische Kategorien, mit denen wir unterschiedliche Diskurse voneinander abgrenzen können.
So unterscheiden wir Diskurse in verschiedene Diskursstränge, worunter thematisch einheitliche Diskursverläufe zu verstehen sind. Ihre Analyse arbeitet die Aussagen heraus, also das, was sagbar ist. Die Bestimmung von Diskurssträngen ermöglicht es, dass wir uns ‚neutral‘ dem Gegenstand nähern. Diskursanalyse will ein Themenfeld in seiner gesamten Aussagenbreite untersuchen. D.h. es geht nicht darum, nur bestimmte, z.B. sexistische oder rassistische Aussagen zu untersuchen, sondern das Sagbarkeitsfeld insgesamt zu erfassen.
Diskursstränge operieren auf verschiedenen Ebenen. Man könnte solche Diskursebenen auch als sozialen Kontexte bezeichnen, aus denen jeweils ‚gesprochen’ wird. Z.B. gibt es die wissenschaftliche, bildungspolitische, mediale und politische Diskursebene. Manchmal lassen sich diese Ebenen nur schwer voneinander abgrenzen, weil sie sich aufeinander beziehen. Deshalb sprechen wir z.B. auch von einer mediopolitischen Diskursebene.
Des Weiteren berücksichtigen wir bei der Analyse von Diskursen auch die Diskursposition der Sprechenden oder Schreibenden. Damit ist grob gesprochen die Haltung des Einzelnen oder von Gruppen zu den zu analysierenden Diskursen gemeint. Das können politische, aber auch ethische Haltungen und Auffassungen sein.
Für Diskursanalyse besonders interessant sind sogenannte diskursive Ereignisse. Darunter verstehen wir solche Ereignisse, durch die der betreffende Diskurs grundlegend verändert wird. Ein jüngeres Beispiel dafür ist etwa der Pandemie-Diskurs, der sich durch das Auftreten von Corona völlig verändert hat oder aber auch die Ausrufung der „Zeitenwende“ nach dem russischen Angriff auf die Ukraine, die den politischen Diskurs in der BRD wesentlich verändert hat. Für eine Analyse eignen solche Ereignisse sich besonders gut, weil durch sie das gesamte Sagbarkeitsfeld eines Diskurses aufgewühlt und damit analytisch erfasst werden kann.
Gang der Analyse
Das konkrete methodische Vorgehen einer Kritischen Diskursanalyse hängt natürlich letztlich vom Untersuchungsgegenstand und seiner Fragestellung ab; also davon, auf welche Fragen die Analyse Antworten geben soll.
Der erste Schritt besteht dann in der Erschließung des diskursiven Kontextes, bei dem es um die Charakterisierung des historischen Verlaufs des zu untersuchenden Diskursstranges geht. Dies ermöglicht die Bedeutung und Gehalt eines Diskursstrangs einzuschätzen
Es folgt die Erfassung des Analysematerials, d.h. die Erstellung eines aussagefähigen Untersuchungskorpus. Was wird in welchem Zeitraum zur Analyse herangezogen?
Dieses Korpus wird einer Strukturanalyse unterzogen, die darauf abzielt, die wesentlichen Aussagen zu ermitteln. Im Resultat werden dadurch Texte oder Textteile herausgearbeitet, die für den Diskurs besonders typisch und prägend sind.
Diese werden feinanalysiert. Damit wollen wir die sprachlichen Wirkungsmittel erfassen, also mit welchen Ausdrucksformen die ermittelten Aussagen transportiert werden. An dieser Stelle kommen auch im engeren Sinne linguistische Instrumente zur Anwendung und es werden u.a. Pronominalstrukturen, Präsuppositionen (unausgesprochene Voraussetzungen), Anspielungen und (Kollektiv-)Symbole analysiert.
Die Erstellung der Gesamtanalyse schließt den Prozess ab, indem die erzielten Ergebnisse reflektiert und zu einer Gesamtaussage verdichtet werden.
Wie kritisch ist die Kritische Diskursanalyse?
Die Analyse von Diskurssträngen ermöglicht es, sich ‚neutral‘ einem Gegenstand zu nähern. Das wirft die Frage auf: Warum betont die Kritische Diskursanalyse denn dann, dass sie kritisch ist?
Darauf gibt es mehrere Antworten. Die KDA kann erstens Widersprüche der Diskurse herausarbeiten und damit verdeutlichen, dass und wie bestimmte Aussagen als Wahrheiten zur Geltung gebracht werden. Denn wenn Diskursanalyse das Sagbarkeitsfeld erfasst, dann kann sie auch den Blick auf die Prozeduren richten, mit denen dieses Feld ausgeweitet oder eingeengt wird, etwa durch Verleugnungen und Relativierungen, Sensationalisierungen, unterstellte Alternativlosigkeiten und binäre Reduktionismen.
Zweitens verweisen die Aussagen der Diskurse auch darauf, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer bestimmten Gesellschaft nicht sagbar ist. Das Sagbarkeitsfeld kann also durch Verbote, Gesetze, Richtlinien beschränkt werden oder Aussagen als wahnsinnig, realitätsfremd, irrelevant oder unwahr bewertet und so ausgeschlossen werden. Das Sagbarkeitsfeld kann auch durch Anspielungen und Implikate eingeengt oder aber überschritten und ausgeweitet werden. Der Nachweis solcher Begrenzungen stellt einen weiteren wichtigen kritischen Aspekt Kritischer Diskursanalyse dar.
Drittens lässt sich mit der KDA herausarbeiten, an welchen Stellen mit Euphemismen, Argumentationsformen, Anspielungen, Redensarten und Symbolen gearbeitet wird, die unangemessen sind und mit denen das gesellschaftliche Klima vergiftet werden kann. Natürlich können und wollen wir uns bei unserer Kritik an Diskursen nicht auf eine objektive Wahrheit stützen. Das bedeutet, dass viertens die Werte und Normen, auf die wir uns berufen, transparent gemacht und reflektiert werden. Diese Werte können z.B. die Verfassungsrechte, aber auch die Ablehnung von Kriegen, Rassismus und Sexismus sein.
Und schließlich müssen wir fünftens auch kritisch gegenüber uns selbst sein. Kritische Diskursanalyse kann nicht darauf bestehen, die Wahrheit gepachtet zu haben. Dies ist die Grundbedingung dafür, dass auf der Grundlage der Ergebnisse unserer Analysen Kompromisse geschlossen werden können. Damit ist Kritische Diskursanalyse zugleich ein Instrument, jede Art von Fundamentalismus zurückzuweisen und zur Diskussion zu stellen.
Margarete Jäger Dr. phil, Dipl Oec. ist Kulturwissenschaftlerin und Leiterin des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS). Sie hat die KDA zusammen mit Siegfried Jägern und anderen mehr als drei Jahrzehnte lang entwickelt und weiterentwickelt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Studien zu Politik-, Medien- und Alltagsdiskursen, insbesondere in Bezug auf Gender, Rassismus, Migration, Rechtsextremismus und Krieg.
Erstveröffentlichung im DISS-Journal #48
1 Der Kurzvortrag wurde auf dem Workshop „Populismus und seine ausgrenzenden Effekte als gesellschaftliche Entwicklung“ am 3.11.2023 im DISS gehalten.
2 Vgl. dazu z.B. Link, Jürgen 2013: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, 5. Aufl., Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht sowie Link, Jürgen 2018: Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
3 Link, Jürgen 1988: Über Kollektivsymbolik im politischen Diskurs und ihren Anteil an totalitären Tendenzen, in: kultuRRevolution 17/18, S. 47-53.