„Rechtskritik mit Louis Althusser“

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Lesetipp von Wolfgang Kastrup

Nach dem ersten Band von Recht – Staat –Kritik mit dem Untertitel Rechts- und Staatskritik nach Marx und Paschukanis aus dem Jahr 2017, ist nun der zweite Band von Recht –Staat –Kritik, ebenfalls herausgegeben von der AG Rechtskritik, im Verlag Bertz+Fischer erschienen. Der Untertitel lautet Rechtskritik mit Louis Althusser. Der französische Philosoph Louis Althusser (1918-1990) war einer der einflussreichsten marxistischen Theoretiker des 20. Jahrhunderts. Er war Lehrer von Michel Foucault, Jacques Derrida, Nicos Poulantzas, Bernard-Henri Lévy, Jacques Rancière und Étienne Balibar.

Für die Herausgeber prägen Herrschaft, Ausbeutung und Fremdbestimmung unseren Alltag. Die Konflikte, die durch die Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Systems entstehen, werden durch die engen Bahnen des Rechts geleitet, formalisiert und systemkonform neutralisiert. (Vgl. 7) Diese Zusammenhänge zu analysieren war und ist das Anliegen der AG Rechtskritik. Um den Blick zu weiten und die reproduktive Rolle des Rechts in einen größeren gesellschaftstheoretischen Zusammenhang einzubetten, ist es für die Herausgeber zentral, die theoretischen Erkenntnisse der Publikationen Ideologie und ideologische Staatapparate und Über die Reproduktion von Althusser einzubeziehen. „Er hat sich in theoretisch neuartiger und bis heute provokanter Weise mit den Phänomenen des sogenannten ‚Überbaus‘ beschäftigt: Recht, Staat, Ideologie.“ (Ebd.) Althusser kritisierte den traditionsmarxistischen Begriff des Überbaus; an seine Stelle hätte Recht, Staat und Ideologie als zusammenhängende begriffliche Darstellung zu treten. Die Herausgeber sehen grundsätzlich die Verwiesenheit von Rechtsform und Kapitalverhältnis und kritisieren die engen Dogmen des traditionellen Marxismus-Leninismus. Althussers Theorie will die gesamtgesellschaftliche „Reproduktion der Produktionsverhältnisse“ mit der Subjektivität vermitteln. Dies ist fortwährend relevant für eine Kritik des Rechts. Allerdings ist die Theorie von Louis Althusser auch umstritten, da „weder Geschichtlichkeit, noch der Klassenkampf, noch das Moment der Spontaneität (im Sinne individueller Freiheit) ihren Raum“ finden. (8)

Frieder Otto Wolf verfolgt in seinem Text Louis Althusser über „das Recht“ und die „juristische Ideologie“. Lektüre einer gedoppelten Darstellung den doppelten Stellenwert des Rechts: einerseits als ideologischer Staatsapparat, andererseits als ideologische Alltagspraxis in Form der juristisch-moralischen Ideologie. Wolf stellt heraus, indem er sich auf Althussers Buch Über die Reproduktion bezieht, dass kapitalistische Produktionsverhältnisse zugleich Ausbeutungsverhältnisse sind, und zwar ganz konkret Verhältnisse der Ausbeutung von Menschen durch Menschen. (Vgl. 14) Auf die zentrale Frage von Althusser, wie die Reproduktion der Produktionsverhältnisse gewährleistet wird, antwortet Wolf mit einem Zitat von Althusser: „[S]ie wird zu einem großen Teil durch die Ausübung der Staatsmacht in den Staatsapparaten gewährleistet, und zwar dem repressiven Staatsapparat einerseits und den ideologischen Staatsapparaten andererseits.“ (16)

Ingo Kramer verweist in seinem Beitrag Der Fetischismus des „Menschen“. Zum Verhältnis von Recht und Ideologie bei Althusser auf die fortwährende Beschäftigung des Philosophen mit der Kategorie des Rechts. Der Begriff des Warenfetischismus bei Karl Marx kann, so Kramer, nur durch die Berücksichtigung der ideologischen Staatapparate richtig verstanden werden, da durch sie das Recht und der Staat in der Kritik der politischen Ökonomie deutlich wird.

Katja Diefenbach stellt in ihrem Artikel Althusser und dekoloniale Rechtstheorie heraus, dass die Naturrechtstheorien von Thomas Hobbes und John Locke den agrarischen Kolonialkapitalismus verteidigen. Krieg und Enteignung, Angst und Tod werden von Hobbes in das Zentrum des Naturzustandes gestellt. Da für ihn, so Diefenbach, amerikanische Territorien rechtsleere Räume darstellen, konnten sich die europäischen Staaten diese einverleiben. Locke „formuliert einen geldvermittelten Akkumulationsbegriff, der Landnahme, Strafe und racial slavery legitimiert“. (93) Althussers Schriften über Hobbes und Locke enthalten ihrer Ansicht nach „eurozentristische Verkürzungen“. Die Ursprünge der juristischen Ideologie müssen mit der Einsicht verknüpft werden, dass ihre Existenz mit dem Rassismus von Entrechtung und Enteignung einhergeht.

Laurent de Sutter greift in Louis Althusser und der Prozess als Bühne dessen Beschäftigung mit dem Theater auf, um herauszustellen, dass dessen Kritik des Theaters ähnlich seiner Kritik des Rechts gedeutet werden muss. Das bürgerliche Recht darf nicht als ein Recht der Subjekte inszeniert werden.

Hanna Meißner will in ihrem Beitrag Die prekäre Figur des Subjekts der Frage der Konstituierung des Subjekts und den Möglichkeiten der emanzipatorischen Transformation nachgehen. Für Althusser ist, so die Autorin, das Subjekt „ein integraler Bestandteil der Funktions- und Wirkungsweise bürgerlich-rechtlicher Herrschaft“. (113) Sie will die Argumentation des Philosophen, „dass die Frage der Konstituierung des Subjekts wichtiger Einsatz von Gesellschaftskritik und transformatorischer Politik ist“, weiterentwickeln. (122)

Christian Schmidt greift in seinem Text Zwischen Gewalt und Ideologie die Frage auf, welche Funktion das Recht nach Althusser in den repressiven und ideologischen Staatsapparaten innehat. Durch das Recht trägt der Staat zur Reproduktion der kapitalistischen Verhältnisse entscheidend bei, ohne sich dabei ausschließlich auf die repressiven Momente des Staatsapparats zu verlassen. Vielmehr ist in der staatlich-juristischen Praxis die Ebene der Ideologie entscheidend, die die strukturellen Grundlagen der kapitalistischen Verhältnisse verschleiern.

Jens Christian Müller-Tuckfeld unterstreicht in seinen Ausführungen Die Geburt des Subjekts aus dem Geist des Rechts erst einmal die Bedeutung der Kategorie des Subjekts im Privat- und Strafrecht, um dann die Grundlagen der Marxschen Kritik des Rechtssubjekts darzulegen. „Der Marxismus ist ein theoretischer Antihumanismus, was nicht mehr und nicht weniger heißt als: Er hat weder das empirische Individuum noch das Wesen der Gattung, sondern stattdessen die Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse zum Ausgangspunkt. Die Selbstbeschreibung der Individuen als Subjekte ist Resultat dieser Verhältnisse.“ (153f.)

André Kistner analysiert in seinem Beitrag Louis Althussers Beitrag zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft den theoretischen Antihumanismus und Antihistorizismus Althussers, der damit zur Erneuerung der Marxschen Theoriebildung beitragen wollte. Der Antihumanismus ist nicht mit Menschenfeindlichkeit gleichzusetzen, sondern es geht in seiner Kritik gegen die sozialwissenschaftliche Abstraktion des Menschen. Die Individuen wie die Individuation sind Produkte gesellschaftlicher Verhältnisse, „in dem strengen Sinne, in dem Marx den Menschen als das ‚Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse bestimmte“. (159) Bezüglich des Antihistorizismus soll es nicht um eine Geschichte des Fortschritts gehen wie sie noch in der Deutschen Ideologie von Karl Marx zum Ausdruck kommt, sondern das Entwicklungsdenken muss, Althusser zufolge, als Aufeinanderfolge der ökonomischen Gesellschaftsformationen verstanden werden, wie sie Marx im Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie formuliert. (Vgl.163)

In dem abschließenden Aufsatz von Matthias Peitsch: Paschukanis revisited. Eine kritische Würdigung im Lichte Louis Althussers steht das Hauptwerk des sowjetischen Rechtstheoretikers Eugen Paschukanis: Allgemeine Rechtslehre und Marxismus von 1924 im Vordergrund, dem bis heute eine große Bedeutung in der marxistischen Rechtstheorie zukommt. Peitsch will mit seinen Ausführungen weder Paschukanis huldigen noch verteufeln, beides gibt es zur Genüge, sondern es geht ihm um den Versuch, „das Verständnis von Paschukanis‘ Beitrag zur marxistischen Rechtstheorie durch eine symptomale Lektüre im Sinne Althussers zu vertiefen“. (190) Er sieht es als Verdienst Paschukanis an, dass „das Subjekt des Rechts und das der Moral genauso zur Reproduktion der kapitalistischen Produktionsweise notwendig sind wie der kalkulierende Homo oeconomicus“. (206)

Im Zuge der internationalen Renaissance des französischen Philosophen Louis Althusser wird seine intensive Auseinandersetzung mit der Kategorie des Rechts wieder diskutiert. Ausgehend vom Prozess der Reproduktion, der auch die staatlich-juristischen Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft und der Rechtssubjekte umfasst, ermöglicht seine Theorie die Analyse von Herrschaftspraktiken, die früher außerhalb des Rahmens der traditionellen marxistischen Rechts- und Staatstheorie lagen. Dies würdigt der vorliegende Sammelband.

Lesetipp aus dem DISS-Journal #48