Buchbesprechung von Wolfgang Kastrup
Im Verlag Westfälisches Dampfboot ist aktuell ein Sammelband erschienen, der der Bedeutung und der neuen Konjunktur der Regulationstheorie Rechnung trägt: Etienne Schneider/Felix Syrovatka (Hrsg.): Politische Ökonomie der „Zeitenwende“. Perspektiven der Regulationstheorie. Aus regulationstheoretischer Sichtweise unternimmt der Band eine Bestandsaufnahme aktueller kapitalistischer Veränderungsdynamiken und analysiert an unterschiedlichen Politikbereichen das Verhältnis von Kontinuität und Bruch. Deshalb ist dieses Buch wohl als eine Weiterentwicklung des Sammelbandes Fit für die Krise? Perspektiven der Regulationstheorie zu verstehen, ebenfalls im Verlag Westfälisches Dampfboot (2013) erschienen. Durch die gesellschaftstheoretische Fundierung der Regulationstheorie ist es möglich, nicht nur aktuelle Krisenprozesse zu erklären, sondern diese auch in einem umfangreicheren Rahmen politökonomisch zu analysieren. „Denn wenn heute von ‚Zeitenwende‘ und ‚Polykrise‘ die Rede ist, dann ist dies eben auch als Suche nach Begriffen zu verstehen, mit denen sich die aktuellen Umbrüche und Disruptionen in ihrem gesellschaftspolitischen Zusammenhang erfassen lassen. Genau dafür bietet sich die Regulationstheorie mit ihrem breiten analytischen Instrumentarium an“, so die beiden Herausgeber in ihrem Vorwort über Bedeutung und Wirkungsmacht dieser Theorie. (7) Die kapitalistische Entwicklung wird, so das Grundverständnis dieser Theorie, als strukturell widersprüchlich gesehen. Die raum-zeitliche Akkumulations- und Regulationsweise, die gesellschaftlichen Strukturen und Institutionen werden grundlegend analysiert und es wird dabei aufgezeigt, wie diese Widersprüche bearbeitet und eingehegt werden. Für die beiden Herausgeber hat diese Theorie „wie kein anderer theoretischer Ansatz zur Periodisierung und zum Verständnis kapitalistischer Entwicklungsphasen und ihrer Krisen beigetragen“. (8)
Der vorliegende Band umfasst mit der Einleitung der Her-
ausgeber elf Beiträge, die sich der Regulationstheorie aus verschiedenen Richtungen nähern. Zwar wären es alle Texte wert, ausführlich besprochen zu werden, doch würde dies den Rahmen sprengen. Zu erwähnen sind neben den hier vorgenommenen Besprechungen folgende Beiträge: Joachim Becker: Regulationstheorie: Ursprünge, Entwicklungstendenzen und internationale Debatten; Stefanie Hürtgen: Regulationstheorie braucht kritische Geografie: Arbeit, Glokalisierung und autoritäre Digitalisierung; Roland Atzmüller: Sozialpolitische Wende? – Umbrüche in der Regulation der Sozialpolitik; Susanne Heg: Wohnen im Sturm der Zeiten: Vom staatlich organisierten Wohnen zum Wohnen als Finanzprodukt; Birgit Sauer: COVID-19 und Umbrüche in den Reproduktions- und Geschlechterverhältnissen als Ausgangspunkt einer neuen Entwicklungsweise?; Hans-Jürgen Bieling: Die kriseninduzierte Reorganisation der europäischen Gesellschaftsformation – im Übergang zu einem staatsinterventionistischen Regulationsmodus.
Etienne Schneider und Felix Syrovatka gehen in ihrer grundlegenden Einleitung globalen Umbruchprozessen nach und erklären die neue Konjunktur der Regulationstheorie. Der oft diskutierte Begriff der Polykrise deutet ihrer Ansicht darauf hin, dass die von Bundeskanzler Scholz ausgerufene „Zeitenwende“ als Reaktion auf den russischen Angriff auf die Ukraine als Ausdruck zu verstehen ist, der eine tiefgreifende Veränderungsdynamik des Kapitalismus deutlich macht. Dies beinhaltet die Suche nach neuen Regulationsformen. „Die Polykrise, das heißt die Vielzahl relativ autonomer, gleichzeitig auftretender Krisen (die Klimakrise, die COVID-19-Pandemie, die Energiekrise, Inflation usw.), verdeutlicht, dass die sich seit den 1970er-Jahren herausbildenden ‚post-fordistischen Pfade‘ kapitalistischer Entwicklung grundlegend infrage gestellt und zugleich neue Formen kapitalistischer Entwicklung notwendig werden […].“ (14) Die beiden Autoren interpretieren die Restrukturierung der internationalen Konkurrenzverhältnisse, z.B. zwischen den USA, China und der EU, zutreffend durch die stärkere Präsenz des Staates. Zwar war der Staat schon immer konstitutiv in kapitalistischen Akkumulationsprozessen vorhanden, er hat sich aber nach ihrer Meinung deutlich verändert (Kontrolle von Investitionsströmen, Technologieförderung, Schaffung neuer Märkte, Geldgeber und Finanzier von Unternehmungen). (16f.) Die Destabilisierung der Weltwirtschaftsordnung durch Chinas wirtschaftlichen Aufstieg und Expansion kann als wesentlicher Grund der Restrukturierung gekennzeichnet werden. Die Autoren argumentieren überzeugend, dass der Nutzen der Regulationstheorie darin liegt, den Kapitalismus nicht nur als Wirtschaftssystem zu betrachten, „sondern als ein komplexes Gefüge sozialer Beziehungen zu begreifen, das je nach historischer Phase und räumlicher Konfiguration unterschiedliche Formen annimmt, um sich zu reproduzieren.“ (26) Die „Zeitenwende“ wird so zur Herausforderung für der Regulationsansatz.
In einem weiteren theoretisch gehaltenen Artikel argumentiert Alex Demirović, dass die Regulationstheorie enorm hilfreich war, Problematiken der Ökologie mit der Theorie der kapitalistischen Produktionsweise, des historischen Blocks und der Hegemonie in einen Zusammenhang zu bringen. Er sieht die theoretische Bedeutung des Regulationsansatzes darin, dass sie erlaubt, „mit intermediären Begriffen einen besonderen Gegenstandsbereich und den allgemeinen Bewegungsgesetzen des Kapitals“ zu erfassen. (112) Auf Marx zurückgreifend schreibt er, dass kapitalistische Verhältnisse noch nie stabil waren und ständig Veränderungsprozessen unterliegen. In der Marxschen Analyse geht es bekanntermaßen um die Untersuchung des idealen Durchschnitts der kapitalistischen Produktionsweise, d.h. es geht um den Durchschnitt der Menge an Arbeitszeit, die zu erwartende Nachfrage und den zu erwartenden Gewinn. Und somit geht es auch um die Regelmäßigkeit von Krisenverläufen. „Die Gesetzmäßigkeiten, die Marx untersucht, bestimmen demnach Verhältnisse, Veränderungsprozesse, Wahrscheinlichkeiten, Tendenzen, also Prozesse, zu denen die Widersprüche und Ausgleichsbewegungen immer schon dazu gehören.“ (113) Diese angesprochenen Regelmäßigkeiten, ihre bestimmten Muster, werden von der Regulationstheorie untersucht, „oberhalb der allgemeinen Gesetze des Kapitals und unterhalb der konkreten nationalstaatlich bestimmten Gesellschaftsformation mit ihren konkreten Kräfteverhältnissen in und zwischen Verbänden, Organisationen oder zivilgesellschaftlichen Prozessen“. (115) Demirović betont in seinen theoretisch grundlegenden Ausführungen, dass die identifizierten Muster es erlauben, die Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse nicht an der Grenze und außerhalb der Produktionsweise zu suchen, sondern als interne Vermittlung gesellschaftlicher Kreisläufe. „Die Krise ist ein Prozess, in dem die internen Zusammenhänge sich durchsetzen, die unter kapitalistischen Normalitätsbedingungen als besondere Bereiche entlang relativ stabiler Linien durch den Eigensinn der Bereiche voneinander getrennt werden – also Staat, Familie, Bildung, Natur, Ökonomie.“ (121) Demirović stellt überzeugend heraus, dass es folglich keine Naturkatastrophen gibt, sondern es geht immer um solche der Gesellschaft im Verhältnis zur Natur. Hier folgt der Autor dem Anspruch von Adorno und Horkheimer, dass die Menschen selbst Natur und in der Natur wirksam sind, sie also nicht äußerlich von Natur umgeben sind. (Vgl. 107). Die vergangene fordistische Regulationsweise hat zwar den Lebensstandard auch für untere Klassen erhöht (u.a. durch Restrukturierung und Ausdehnung der Märkte, Produktivitätssteigerungen) und so zu einem Klassenkompromiss beigetragen, allerdings durch eine enorme Zunahme und Beanspruchung von ökologischen Ressourcen, die eine Dynamik von Krisenprozessen eingeleitet haben. Demirović betont deshalb zu Recht, dass es gerechtfertigt ist, von einem „Kapitalozän“ zu sprechen. (Vgl. 123). Der Anspruch in den kapitalistischen Zentren bezüglich einer Verringerung des Ressourcenverbrauchs, wobei dies nur selektiv umgesetzt wird, steht im Widerspruch zu den immanenten Zwängen der Akkumulation, des Wachstums und der Gewinnsteigerung. Dass eine ökologische Erneuerung selbst wieder enorme Ressourcen u.a. an Wasser, Energie und Rohstoffen benötigt, wird Demirović zufolge die Krisendynamik weiter verschärfen. (Vgl. 127).
Die Autoren Philipp Köncke und Stefan Schmalz zeigen in ihrer interessant zu lesenden empirischen Analyse, dass der „Wirtschaftskrieg“ zwischen den beiden Großmächten USA und China aus der Sichtweise der Regulationstheorie als ein vorläufiger Höhepunkt eines anhaltenden Entflechtungsprozesses vormals enger Wirtschaftsbeziehungen zu verstehen ist. Infolge der internationalen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 verfolgte die Politik Chinas das Ziel, die eigene wirtschaftliche und finanzielle Entwicklung gleichmäßiger und „resilienter“ zu machen. Dies entsprang der Sorge, so Köncke und Schmalz, vor einer zu „starke[n] Abhängigkeit von ausländischer Exportnachfrage und wachsenden sozialen Spannungen“. (145) Es sollte ein Ausgleich geschaffen werden zwischen einer Außen- und Binnenorientierung, eine gezielte Förderung der Industriestruktur sowie der Binnennachfrage. Diese Maßnahmen trugen erheblich dazu bei, dass die chinesische Industrie heute in Hightech-Bereichen, wie z.B. der E-Autoindustrie, auf dem Weltmarkt führend ist. (Ebd.). Die US-Regierungen von Trump und Biden reagierten mit Importzöllen, Investitionsregulierungen, speziellen Sanktionen gegen chinesische Technologieunternehmen und auch neuen Regeln im Finanzsektor, um durch den sich immer stärker werdenden Konkurrenzkampf Chinas Wirtschaftskraft zu schaden. Globale Konflikte und geopolitische Spannungen stellen die internationale Ordnung in Frage. US-Präsident Biden verfolgt zudem eine aktive US-Industriepolitik, um mit Milliarden US-Dollar Tech-Unternehmen und die Halbleiterindustrie zu fördern. In dem Konkurrenzkampf werden von beiden Seiten immer wieder Vorwürfe u.a. bezüglich unfairer staatlicher Subventionspolitik bei den Handelsgütern und auch bei dem Schutz geistiger Eigentumsrechte erhoben. „Die chinesische Staatsklasse bemüht sich, ein globales Handelssystem durchzusetzen, das staats- und privatkapitalistische Akkumulation gleichrangig behandelt. Die US-Regierung wiederum beharrt auf dem (neo)liberalen Fundament der bestehenden internationalen Handelsordnung, auch um den ökonomischen Aufstieg Chinas einzudämmen.“ (147) Ob Chinas wirtschaftspolitischer Weg Erfolg haben wird, die internationalen Strukturen zu ihren Gunsten zu verändern, bleibt, so die Autoren, abzuwarten. Da beide Volkswirtschaften fast die Hälfte des globalen BIP ausmachen, bleibt die Beziehung beider Ökonomien auf jeden Fall zentral für die internationale politische Ökonomie.
Der Beitrag von Ulrich Brand, Christoph Görg und Markus Wissen beschäftigt sich mit Krise, Regulation und Transformation. Es geht dabei um strukturelle Grenzen einer ökologischen Modernisierung des Kapitalismus. Die Regulationstheorie, die in den 1970er und 1980er Jahren aus der Erfahrung entstand, dass der lange Zeit relativ stabile Fordismus in eine Krise geraten war. Die Regulationstheorie wurde durch zwei Überlegungen geprägt: der Kapitalismus ist anpassungsfähig und gleichzeitig von grundlegenden Widersprüchen gekennzeichnet – u.a. gesellschaftliche Ungleichheiten und die ungleiche internationale Arbeitsteilung. (Vgl. 154). Die Autoren betonen, dass es bei den dadurch auftretenden Krisen allgemein und insbesondere bei sozial-ökologischen Transformationskonflikten „niemals allein um die Sicherung der Kapitalakkumulation [geht], sondern um die Implikationen einer krisenhaften Entwicklung für die Lebensverhältnisse einschließlich ihrer subjektiven Voraussetzungen und deren Übersetzung in politische Strategien – heute zum Beispiel die Verteidigung der imperialen Lebensweise versus radikale Transformation, Degrowth, Post-Development, Demokratisierung.“ (157) Der Beitrag überzeugt in der Argumentation hinsichtlich der angesprochenen Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus. Es bilden sich Formen grün-kapitalistischer Widerspruchsbearbeitung heraus, die bezüglich ihrer Wirkung sehr begrenzt und darüber hinaus äußerst umkämpft sind. Deshalb wird der Grüne Kapitalismus auch nicht hegemonial. Was jedoch hegemonial werden wird, sind die „Strategien einer selektiven und herrschaftlichen ökologischen Modernisierung des Kapitalismus“. (158) Das bedeutet für die Autoren, dass die „Lösungen“, also die Krisenbearbeitung, im Wesentlichen ökonomisiert werden (u.a. Emissionshandel, handelbare Verschmutzungsrechte). Der Akkumulations- und Wachstumsimperativ bleibt erhalten, die Kommodifizierung der Natur und die internationale Wettbewerbsfähigkeit werden vorangetrieben. Die Analyse dieser Dynamiken und Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung ist zum einen Aufgabe der Regulationstheorie, zum anderen aber auch die Aufgabe, reformistische und emanzipatorische Bewegungen und ihre Transformationsoptionen näher zu untersuchen. (Vgl. 167)
Thomas Sablowski, dem dieser Sammelband gewidmet ist, da er wie kaum ein anderer im deutschsprachigen Raum, so die Herausgeber Schneider und Syrovatka, am Regulationsansatz als analytisches Instrument zum Verständnis des gegenwärtigen Kapitalismus und seiner Entwicklungsdynamik festgehalten und ihn durch empirische Forschungen theoretisch weiterentwickelt hat (vgl. 10) – deshalb auch hier die umfangreiche Besprechung seiner Ausführungen – stellt in seinem Beitrag die Frage nach der Kontinuität oder dem Ende des finanzdominierten Akkumulationsregimes. In einem sehr lesenswerten und aufschlussreichern Artikel schreibt er, dass das Finanzvermögen der Kapitalistenklasse und der von ihnen beherrschten institutionellen Kapitalanlegerin Form von Wertpapieren, Aktien, Anleihen, Derivaten schneller gewachsen ist als das globale Sozialprodukt. Auch Unternehmen außerhalb des Finanzsektors haben die Bedeutung erkannt und investieren immer häufiger in Finanzanlagen. Diese Entwicklung der Finanzialisierung des Kapitalismus bedeutet für Sablowski neben der Globalisierung und der Digitalisierung einer der „Megatrends“ der neueren gesellschaftlichen Entwicklung. (230) Durch die Konkurrenz der Kapitalisten untereinander werden sie gezwungen, Kapital zu akkumulieren, das unterschiedliche Formen annehmen kann. Historisch und geografisch lassen sich Sablowski zufolge unterschiedliche Akkumulationsregime kennzeichnen. Den Begriff selbst kennzeichnet „den Zusammenhang zwischen den Veränderungen der Allokation des Kapitals in seinen verschiedenen Formen, den Veränderungen der Produktionsbedingungen sowie den Produktions- und Konsumnormen in konkreten historischen und geografischen Kontexten“. (231) Es geht also um ein Entsprechungsverhältnis zwischen veränderten Produktionsbedingungen und veränderten Lebensweisen und Wertorientierungen von Lohnabhängigen. Weshalb Sablowski und Alain Lipietz, auf den sich der Autor bezieht, bei dem Begriff den Zusatz ‚Regime‘ benutzen, wird nicht erklärt, deutet allerdings auf die damit gemeinte kapitalistische Herrschaftsform hin. Mit finanzdominierten Akkumulationsregime wird dann ein weiterer in der Literatur verwendeter Begriff erklärt, der die im Vergleich zum industriellen Kapital schnellere Akkumulation des Finanzkapitals erfasst, hier des zinstragenden Leihkapitals und des fiktiven Kapitals. (231)
Im weiteren Verlauf erklärt der Autor lehrbuchmäßig industrielles, zinstragendes und fiktives Kapital. Beim industriellen Kapital wird Geldkapital vorgeschossen, das dann in produktives Kapital in Form von Arbeitskräften und Produktionsmitteln umgewandelt wird. (Ebd.) Zinstragendes Kapital entsteht, wenn Geld gegen Zinsen verliehen wird, und der Kreislauf dieses zinstragenden Kapitals ist mit dem oben genannten Kreislauf des industriellen Kapitals verbunden. Das bedeutet, dass Unternehmen ihre Produktion nicht nur durch Eigenkapital erweitern können, sondern oftmals durch Fremdkapital, das sie in Form von Krediten aufnehmen. Der Kreislauf des zinstragenden Kapitals wird so zur Bedingung kapitalistischer Reproduktion. (Vgl. 232f.) Industrielles und zinstragendes Kapital werden zu wirklichem Kapital, von dem allerdings das fiktive Kapital abzugrenzen ist. „Fiktives Kapital entsteht durch die Verbriefung von Rechtsansprüchen auf zukünftige Zahlungen, durch die Kapitalisierung von Eigentumstiteln.“ (234) Das heißt z.B. die Umwandlung eines Unternehmens in eine börsennotierte Aktiengesellschaft mit dem Anspruch eines Aktienkäufers auf Dividendenzahlungen oder eine Kapitalerhöhung einer schon existierenden börsenorientierten Unternehmung, um durch die Ausgabe von Aktien Geld einzunehmen, welches wiederum in wirkliches Kapital umgewandelt werden kann. (Ebd.) Daneben entsteht fiktives kapital auch durch die Verbriefung von Krediten, bei denen die Kreditgeber ihre Rechtsansprüche auf Rückzahlung nebst Zinsen weiterverkaufen können. Gehandelte Zahlungsansprüche an den Anleihemärkten wie Staatsanleihen und Unternehmensanleihen stellen neben den Aktien „grundlegende Formen des fiktiven Kapitals“ dar. (235) Die Preise der Aktien und Anleihen beziehen sich auf die Erwartungen zukünftiger Gewinne in Form von Dividenden und Zinszahlungen und sind Sablowski zufolge relativ unabhängig vom Akkumulationsprozess. Daneben existierende derivative Finanzgeschäfte, also Termin- und Optionsgeschäfte und Swaps, gestatten es, „die mit der Spekulation auf Preisänderungen verbundenen Risiken auf andere Marktteilnehmer abzuwälzen“. (236)
Die angesprochene Verbindung des industriellen Kapitals mit dem Finanzkapital (zinstragendes und fiktives Kapital) als Dimension wird von Sablowski noch um drei weitere ergänzt: Erstens die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation“ (Bezug auf Karl Marx, MEW Bd. 23, 24. Kap.), in der gesellschaftliche Verhältnisse in Kapitalverhältnisse umgewandelt werden können, kann nicht als historisch abgeschlossen bezeichnet werden, sondern dieser Prozess ist als eine fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation zu verstehen. Dies beinhaltet die Privatisierung von Feldern des öffentlichen Dienstes, also öffentliches Eigentum, oder wenn neue Bereiche der Kapitalverwertung subsumiert werden. Der Autor unterscheidet diese fortgesetzte ursprüngliche Akkumulation von den Bereichen der erweiterten Reproduktion des Kapitals, deren Struktur schon zuvor kapitalistisch war. (237) In der zweiten Dimension wird zwischen der extensiven und der intensiven Akkumulation unterschieden. Extensiv heißt Erweiterungsinvestitionen, indem mehr Lohnarbeiter*innen eingestellt werden, intensiv beinhaltet Rationalisierungsinvestitionen, bei denen es darum geht, Kosten zu sparen, indem Lohnarbeiter*innen maschinell ersetzt werden. Bezüglich der dritten Dimension kommen bei der Kapitalakkumulation neben nationalen Räumen auch internationale Räume hinzu, da nationale Kapitalkreisläufe (intravertierte Akkumulation) internationalisiert (extravertierte Akkumulation) werden können.
Um die Frage beantworten zu können, ob nach der globalen Finanzkrise von einer anhaltenden Finanzialisierung des Kapitalismus gesprochen werden kann, untersucht Sablowski empirisch die wichtigsten konstitutiven Prozesse des finanzdominierten Akkumulationsregimes. Er konstatiert einen starken Konzentrations- und Zentralisationsprozess und eine zunehmende Internationalisierung des Finanzkapitals. „So hielten die 15 größten institutionellen Eigentümer der 40 im DAX notierten Aktiengesellschaften im Dezember 2022 zusammen 35,9 Prozent des Aktienkapitals dieser Unternehmen. […] Viele der großen institutionellen Investoren wie Blackrock, The Vanguard Group, State Street Global, Advisors oder Fidelity sind selbst wiederum untereinander mit Überkreuzbeteiligungen verbunden. Die in Nordamerika ansässigen Eigentümer steigerten ihren Anteil an den DAX-Unternehmen von 31,8 Prozent im Jahr 2013 auf 43,3 Prozent im Jahr 2022, während der Anteil der in Deutschland ansässigen Eigentümer im gleichen Zeitraum von 18,4 auf 11,9 Prozent sank.“ (240) Beeindruckende Zahlen, die Sablowski hier vorlegt, und die die Internationalisierung des Finanzkapitals unterstreichen. Diese institutionellen Kapitalanleger und ihr „Shareholder Value“-Konzept stützen sich in ihren Praktiken auf Ratingagenturen, Analysten und Wirtschaftsprüfer und müssen allesamt, so der Autor, als „Herrschaftstechniken verstanden werden, die dazu beitragen, die Klassenverhältnisse zu restrukturieren und die Ausbeutungsrate zu erhöhen“. (242)
Im Weiteren untersucht Sablowski die Verschuldung der privaten Haushalte und der Unternehmen, die Staatsverschuldung und die internationale Verschuldung. Er kommt zu dem nicht gerade überraschenden Ergebnis, dass die Verschuldung der privaten Haushalte weiterhin auf hohem Niveau liegt, und die Verschuldung der Unternehmen in einem Teil der alten kapitalistischen Zentren, hier die USA, Großbritannien, Frankreich und Italien, relativ zu ihrem Betriebsergebnis (d.h. ihrem Bruttoprofit vor Abzug von Steuern und Zinsen) steigt. Die Staatsverschuldung nimmt, was ebenfalls nicht überraschend ist, von Krise zu Krise zu, und die internationalen Zahlungsbilanzungleichgewichte sind nach wie vor bedeutsam. (255) Die Finanzmarktregulierung nach der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/9 hat die Handlungsfreiheit der Kapitalanleger „kaum eingeschränkt“. Die wachsende Verschuldung wird von dem Autor als „Merkmal der Überakkumulation“ gewertet; ein „immer größerer Kredithebel“ ist zudem notwendig, um den Prozess der Akkumulation überhaupt am Laufen zu halten. Sablowski kommt zu folgendem Schlussgedanken: „Die Dominanz des Finanzkapitals und die mit ihr verbundene Entwicklung neuer Kapitalformen und neuer Regulationsformen hat in den vergangenen Jahrzehnten zugleich die Disziplinierung der Lohnabhängigen, die Steigerung der Ausbeutungsrate ermöglicht.“ Damit kann das finanzdominierte Akkumulationsregime nicht nur als Ergebnis der Überakkumulation begriffen werden, sondern auch als „zeitgemäße Form des globalisierten Kapitalismus“. (256f.)
Die regulationstheoretischen Analysen über den finanzdominierten Kapitalismus des Autors sind überaus aufschlussreich und interessant zu lesen, gerade auch weil sie stellenweise fast wie in einem Lehrbuch vorgetragen werden. Dass Sablowski in seiner Arbeit die Auswirkungen der Dominanz des Finanzkapitals auf die Lohnarbeiter*innen immer wieder deutlich herausstellt, hier der Rückgang der Lohnquote, die Disziplinierung und die Steigerung der Ausbeutungsrate, würdigen seine Ausführungen in besonderem Maße und zeigen die Bedeutung seiner regulationstheoretischen Forschung.
Etienne Schneider und Felix Syrovatka gelingt es in ihren Buch Politische Ökonomie der „Zeitenwende“, die Bedeutung und die neue Konjunktur der Regulationstheorie in sehr nachvollziehbarer Weise herauszustellen. Diese Theorie wird aus verschiedenen Richtungen analysiert, sodass das breite Instrumentarium in der Erforschung der Krisenprozesse und der strukturellen Widersprüche des Kapitalismus klar und stringent herausgearbeitet wird. Eine rundum überzeugende, lehrreiche und anspruchsvolle Publikation über die Perspektiven der Regulationstheorie.
Rezension aus dem DISS-Journal #48