Geostrategische Sandkastenspiele im Vorfeld der AfD

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Europabilder von rechts

Von Maarten van Melis

Einleitung: Kampf zweier Linien

Seit 2014 hat sich innerhalb der sogenannten Neuen Rechten und der Alternative für Deutschland (AfD) ein „Kampf zweier Linien“ etabliert. Dieser Konflikt besteht zwischen einer realpolitischen Linie, die sich auf parlamentarische Arbeit und die Anschlussfähigkeit an die bürgerliche Mitte konzentriert, und einer fundamentaloppositionellen Linie, die auf Metapolitik und auf außerparlamentarischen „Widerstand“ und Aktivismus setzt (Kellershohn 2017).

Die realpolitische Linie wird im Vorfeld der AfD insbesondere durch die Junge Freiheit (JF) vertreten, die vielen als „inoffizielles Sprachrohr oder Leitorgan“ der Partei gilt (ebd.). Karlheinz Weißmann, Mitbegründer des inzwischen offiziell aufgelösten Institut für Staatspolitik (IfS)1 und langjähriger Kolumnist der JF, sowie Dieter Stein, Gründer der JF, sahen in der AfD eine Partei mit dem Potenzial, das bürgerliche Milieu der CDU zu erreichen, ohne unmittelbar mit rechtsextremen Inhalten in Verbindung gebracht zu werden. Das langfristige Ziel dieser Strategie ist allerdings ein grundlegender Umbau des Staates, den der Rechtsextremismusexperte Helmut Kellershohn als „Marsch durch die Institutionen“ beschreibt (ebd.).

Die führenden Köpfe rund um das ehemalige IfS hingegen verfolgen eine metapolitische Strategie, die keine Anschlussfähigkeit an die Mitte anstrebt. Stattdessen sehen sie in der AfD die Möglichkeit einer parteilichen Vertretung außerparlamentarischer Bewegungen wie Pegida oder der Identitären Bewegung (ebd.). Götz Kubitschek, Mitbegründer des IfS, gilt als zentraler „Vordenker“ dieses metapolitischen Ansatzes und kann als Gegenspieler zu Weißmann verstanden werden. Dies führte im Jahr 2014 zu einem Bruch zwischen Weißmann und Kubitschek, infolgedessen Weißmann aus dem IfS ausschied. Kubitscheks Leitbild eines alternativlosen Widerstands gegen das „System“ wird insbesondere vom 2020 offiziell aufgelösten Partei-„Flügel“ rund um Björn Höcke vertreten, dessen Mitglieder in der AfD, vor allem in Ostdeutschland, erheblich an Macht und Einfluss gewonnen haben und mittlerweile das Erscheinungsbild der Partei dominieren.

Diese Konfliktkonstellation hat sich besonders im Kontext des Ukraine-Kriegs weiter manifestiert und die bestehenden Diskrepanzen zwischen den beiden ideologischen Linien innerhalb der AfD und der Neuen Rechten erneut deutlich werden lassen. Während die JF eine „europäische Sicherheitsarchitektur“ unter Einschluss der USA unterstützt und sich gegen eine „Ostorientierung“ positioniert (Kellershohn 2023, 158), kritisiert Kubitschek hingegen die zunehmend transatlantische Ausrichtung rechter Parteien in Europa und plädiert stattdessen für „ein gutes Auskommen mit Rußland [sic!]“ (Kubitschek 2024a). Diese Konfliktlinie manifestiert sich sowohl innerhalb der AfD als auch in ihrem vorpolitischen Umfeld. Trotz des Konfliktes über das strategische Vorgehen sind sich beide Seiten einig in ihrem Ziel, eine deutsche Großmachtposition wiederherzustellen.

Im Folgenden soll der Kampf der beiden ideologischen Linien innerhalb der AfD und der Neuen Rechten im Kontext des Ukraine-Krieges ausführlicher dargestellt werden. Dabei werden Dimitrios Kisoudis‘ Buch „Mitteleuropa und Multipolarität“ (2023), erschienen im Antaios-Verlag, und der am 17. Mai 2024 in der Jungen Freiheit veröffentlichte Artikel „Phantomschmerz im Kreml“ von Hans-Christof Kraus analysiert. Dimitrios Kisoudis ist seit 2022 Grundsatzreferent des AfD-Parteivorsitzenden Tino Chrupalla und tritt durch verschiedene Veröffentlichungen hervor, die sowohl in der Sezession als auch im Antaios-Verlag erschienen sind, was eine inhaltliche Nähe zu Götz Kubitschek und dem (ehemaligen) IfS nahelegt. Hans-Christof Kraus, Historiker an der Universität Passau, publiziert hingegen in der Jungen Freiheit und ist ebenso wie der Chefredakteur der JF, Dieter Stein, Mitglied in der Deutschen Gildenschaft. Die Fokussierung auf die Europa-Konzepte von Kraus und Kisoudis begründet sich also aus der personellen Vernetzung sowie den ideologischen Unterschieden der Autoren, die den internen Kampf der AfD und ihres Vorfeldes widerspiegeln und durch die Haltung zum Ukraine-Krieg besonders deutlich zutage getreten sind.

Dimitrios Kisoudis‘ Mitteleuropakonzeption

Dimitrios Kisoudis analysiert in seinem Buch „Mitteleuropa und Multipolarität“ (2023) die geopolitischen und kulturellen Strukturen Europas und betont die Bedeutung Mitteleuropas in einer sich möglicherweise herausbildenden multipolaren Weltordnung. Der Autor untersucht historische, politische und kulturelle Faktoren, die Mitteleuropa aus seiner Sicht als eigenständige Einheit innerhalb Europas definieren, und argumentiert, dass Mitteleuropa, ausgehend von einer deutschen Hegemonialstellung, eine wichtige Rolle in einer multipolaren Welt spielen könnte. Unter Mitteleuropa versteht Kisoudis eine geopolitische Verortung, deren Grenzen nicht klar definiert seien: Mitteleuropa sei der „Ausstrahlungsraum der deutschen Nation“ (Hervorh. d. Vf.), wobei er zumindest Österreich und Ungarn noch zum „Kerngebiet“ rechnet (Kisoudis 2023a). Der Autor sieht Deutschland „weder geographisch noch politisch“ als westliches Land (Kisoudis 2023b, 7). Der Westen, so Kisoudis, drücke sich insbesondere durch die amerikanische Vorherrschaft und eine „woke Zivilreligion“ aus, die einen „Umsturz der Realität“ anstrebe und sich durch „Antirassismus“ und „LGBTQ“ auszeichne (ebd., 13, 15).

Im Rahmen eines historischen Abrisses beleuchtet der Autor die Entwicklung der deutschen Mitteleuropa-Konzeptionen. Hervorgehoben werden in diesem Zusammenhang der Ökonom Friedrich List und der liberale Politiker Friedrich Naumann.2 List gilt als Ideengeber des „Großraum Mitteleuropa“. Seine Ideen dienten als Grundlage für den 1834 eingeführten Deutschen Zollverein, der ihm wiederum als Kern für ein vereintes Europa galt (ebd., 26). List forderte eine starke Industrie, die er als treibende Kraft für sein Europakonzept sowie einen langfristigen europäischen Frieden ansah. Eine starke Industrie sei auch Voraussetzung für die eigene militärische Aufrüstung. Er sah in der Vereinigung der Kontinentalmächte die einzige Möglichkeit, Englands damaliger Vormachtstellung entgegenzuwirken, und betonte die Rolle des europäischen Kontinents als selbstständiger Akteur zwischen Ost und West. Deutschland stand in Lists Überlegungen als Kern eines mitteleuropäischen Großraums im Zentrum der „Kontinentalallianz“.
Friedrich Naumanns Mitteleuropa-Konzeption von 1915 baut auf Lists Ideen auf und gilt als bekanntester Entwurf dieser Art. Er forderte einen „geostrategischen Großraum“, i.e. Europa als wirtschaftliche und militärische Einheit, die es ermögliche, dass Europa weder dem Osten noch dem Westen unterliege. Der Kern des mitteleuropäischen Bündnisses soll aus einem Zusammenschluss Deutschlands und Österreich-Ungarns bestehen, an dem sich weitere Staaten beteiligen könnten. Naumann legt dabei besonderen Wert auf den Anschluss der Balkanstaaten. Er behauptet, dass ein einzelner Staat in Europa weder autark noch verteidigungsfähig sei und das Zeitalter der Nationalstaaten vorbei sei. Sein Mitteleuropa-Konzept knüpft an die Reichsidee an und hat das Heilige Römische Reich deutscher Nation zum Vorbild.

Lists und Naumanns Überlegungen dienen als Grundlage für die von Kisoudis propagierte Mitteleuropa-Konzeption. Im Beitritt der DDR zur BRD und in der damit einhergehenden Ausweitung des NATO-Gebietes sieht Kisoudis die Auffassung des neurechten „Vordenkers“ Henning Eichberg, der Deutschland „als westliche Kolonie“ bezeichnete und eine „Entkolonisierung“ Deutschlands forderte (ebd., 69), bestätigt. Die USA entscheide in Westeuropa über Krieg und Frieden und unterwandere die Länder mit ihrer „westlichen Idee zivilreligiöser Menschenrechte“ und vertrete eine „woke Zivilreligion“ (ebd.). Kisoudis verweist zudem auf den US-amerikanischen Politikwissenschaftler und Politikberater Zbigniew Brezinski, der bekanntlich erklärt habe, dass die „Entmachtung Rußlands [sic!] als Imperium“ für die „weltimperialen Ansprüche der USA“ zentral gewesen sei (ebd.). Insbesondere die „Abtrennung der Ukraine aus dem russischen Raum“ sei geopolitisch entscheidend, da Russland ohne die Ukraine kein eurasisches Reich sein könne (ebd., 69 f.). Demzufolge seien der Ukraine-Krieg sowie die zunehmende Relevanz und Machtbestrebungen asiatischer Länder im Kontext einer globalen Auseinandersetzung zwischen einer multipolaren Weltordnung, in der Macht und Herrschaft durch verschiedene regionale Herrschaftszentren ausgeübt würden (ebd., 72), und einer unipolaren, US-dominierten Weltordnung zu verstehen. Ausdruck findet der potenzielle Wandel zur Multipolarität insbesondere in der Entwicklung der BRICS-Staaten und der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit, die sich laut Kisoudis als Gegenblock zum Westen entfalten (Kisoudis 2023a).

Kisoudis propagiert vor diesem Hintergrund ein Mitteleuropa-Konzept, das auf eine vermeintliche Äquidistanz zwischen Ost und West abzielt. Er betont die Brückenfunktion Mitteleuropas zwischen diesen beiden Polen und versteht Mitteleuropa als eine quasi-modernisierte Version des Heiligen Römischen Reichs (Kisoudis 2023a). Kisoudis verzichtet, wie bereits angesprochen, auf eindeutige geographische Grenzziehungen, aber die Reduzierung des Westens auf eine „woke Zivilreligion“ sowie das ausformulierte Ziel, „die zerschnittene Lebensadern nach Osten wieder zu verbinden“ (Kisoudis 2023b, 80), deuten auf eine Europa-Konzeption hin, die sich trotz vermeintlicher Äquidistanz offenkundig nach Russland orientiert und den Westen sowie die damit einhergehende amerikanische Vorherrschaft als Feindbild propagiert.
Kisoudis kritisiert den „westliche[n] Weg“, der zur Entwaffnung, Entmachtung, Deindustrialisierung und Entfremdung Deutschlands führe, was er im Hinblick auf Deutschlands Geschichte als entwürdigend empfindet. Deutschland müsse sich aus der „einseitige[n] Abhängigkeit vom Westen“ lösen (ebd., 73). Er sieht Deutschland als die einzige Nation in Europa, die fähig sei, die Mitteleuropa-Initiative wiederzubeleben und den „Polsprung zur Multipolarität“ zu vollziehen (ebd., 79 f.; vgl. Kisoudis 2022).
Hinsichtlich möglicher Bündnispartner oder Gegner eines deutschen Mitteleuropa-Konzepts geht Kisoudis insbesondere auf Polen und Frankreich ein. Polen bezeichnet er als direkten Stellvertreter der USA, der als „Aufseher über Europa“ „echter“ Multipolarität im Wege stehen würde (Kisoudis 2023b, 79). Er spricht von einer „Neuauflage des Intermariums“3, die die Zusammenarbeit Deutschlands und Russlands erschweren soll (Kisoudis 2023a). Frankreich ordnet er ebenfalls dem Westen zu und sieht in dem Land ein zentrales Hindernis für eine deutsche Hegemonie in Europa (Kisoudis 2023a; vgl. Kisoudis 2022). Hingegen schreibt er neben Ungarn und Österreich auch Serbien eine Vorreiterrolle in Europa zu und betrachtet sie als mögliche Ansprechpartner für die Bildung eines Mitteleuropa-Bundes. Auch der Balkan und die Türkei werden positiv hervorgehoben, wobei die Türkei als Brücke nach Zentralasien und zum Nahen Osten den „Raum“ ergänzen könne.

Kisoudis Mitteleuropa-Konzept basiert, in Anlehnung an Naumann und List, auf wirtschaftlicher Stärke, Zugang zu Rohstoffen und Meeren (Kisoudis 2023b, 79). Er schreibt: „Der Großraumordnung geht die Großraumwirtschaft voraus. Energie ist dafür maßgeblich“ (Kisoudis 2022). In diesem Zusammenhang befürwortet er beispielsweise die Gaspipeline „TurkStream“ (Kisoudis 2023b, 81).
Er argumentiert, dass die Gründung der EU nach dem 2. Weltkrieg strategisch eine deutsche Hegemonie über Europa verhindern sollte (Kisoudis 2022). Gleichwohl bekennt er sich zum Binnenmarkt und zur Zollunion der Europäischen Union (EU) (Kisoudis 2023b, 79) und sieht in der Gründung der EU eine Möglichkeit zur Schaffung eines Großraums im Sinne Carl Schmitts unter der Voraussetzung, dass die USA als raumfremde Macht nicht weiter der Hegemon der EU sind (ebd., 70 f.). Die EU habe es verpasst, vertraglich ein (Anti-) „Interventionsprinzip“ festzulegen, das amerikanischen Einfluss unterbindet (Kisoudis 2022). Die zentrale Funktion der NATO sieht Kisoudis nicht in der Verteidigung, sondern viel mehr in der Unterbindung eines deutsch-russischen Bündnisses und der Sicherung der US-Hegemonie in Europa (Kisoudis 2023b, 75).
Schlussfolgernd fordert Kisoudis mit seiner Mitteleuropa-Konzeption ein neues Verteidigungsbündnis, das die „Mentalität der Multipolarität“ herstellen und den westlichen Einfluss überwinden soll, um die Völker in ihrer „Eigenart“ zu erhalten (ebd., 81). Um die „politische Integration“ Europas in einer multipolaren Welt zu gewährleisten, schlägt er eine Mitteleuropa-Initiative unter deutscher Hegemonie vor, die über die derzeitige Gestalt der EU und NATO hinausweist. Diese Initiative soll eine vermeintliche Äquidistanz verfolgen, jedoch Russland als Bündnispartner suchen.

Hans-Christof Kraus‘ Europa-Konzeption

Der deutsche Historiker Hans-Christof Kraus skizziert in seinem Artikel „Phantomschmerz im Kreml“, veröffentlicht am 17. Mai 2024 in der Jungen Freiheit auf der Forum-Seite, seine Sichtweise auf die sich wandelnde Staatenordnung und propagiert eine neue „Großraumordnung“ (Kraus 2024). Er erläutert, „warum Deutschland Interesse an der ukrainischen Selbstbehauptung haben muß [sic!]“, wie im Untertitel des Zeitschriftenartikels betont wird, und nimmt somit eine Gegenposition zu Kisoudis ein.

Kraus vertritt die Ansicht, dass eine „Großraumordnung“, in der politische Großräume als „Einflußphären [sic!] der Welt- oder Supermächte“ sowie ihrer Verbündeten dienen oder als „fester Zusammenschluß [sic!] von geopolitisch günstig positionierten und wirtschaftlich starken Staaten und Mächten mittlerer Ordnung agieren“, als Modell zur Sicherung des Weltfriedens beitragen könnte. Dieses Modell, so Kraus, könnte helfen, internationalen Konflikten oder gar einem Dritten Weltkrieg vorzubeugen.

Wie diese Großraumordnung im Detail aussehen wird, welche Bündnisse geschlossen werden und welche Staaten sich wem unterordnen werden, ist laut Kraus derzeit noch nicht absehbar. Es bleibe beispielsweise abzuwarten, wie Indien und China miteinander agieren werden. Fest steht für Kraus jedoch, dass Deutschland einem „westlichen“ Großraum angehören wird. Zu Beginn des Artikels betont er unmissverständlich: „Zuerst: Deutschland ist ein Land des Westens.“ Kraus benennt folgend zwei Gestaltungsmöglichkeiten für den westlichen Großraum: entweder atlantisch-europäisch, unter Einbeziehung der USA und Kanada, oder als rein west- und mitteleuropäischer Bund.

Kraus begründet die Zugehörigkeit Deutschlands zum Westen historisch, unter Rückgriff auf Gelehrte wie Leopold Ranke, Friedrich Carl von Savigny und Friedrich Ratzel, die Deutschland im Westen verordnet hätten. Er verweist auch auf Bismarcks Warnungen vor Russland und macht Josef Stalin für den Verlust des „gesamten alten deutschen Osten“ verantwortlich.
Den Zusammenbruch der Sowjetunion sowie die folgende Wiedervereinigung Deutschlands beschreibt Kraus als „uneingeschränkt positive Erfahrung der heute lebenden Generationen von Deutschen“. Für ihn steht außer Frage, dass durch die Wiedervereinigung der „politisch geteilten Nation“ und die gemachten Erfahrungen zwischen 1945 und 1990 eine uneingeschränkte Zugehörigkeit zum Westen entstanden ist.

Die Europa-Konzeptionen von Kraus und Kisoudis zielen beide auf die Wiederherstellung einer Führungsposition Deutschlands in Europa ab, dennoch stehen die beiden Konzeptionen im diametralen Widerspruch zueinander. Während auch Kisoudis an eine multipolare Weltordnung mit verschiedenen Großräumen glaubt, verortet er Deutschland weder geographisch noch politisch im Westen (Kisoudis 2023b, 7). Stattdessen sieht Kisoudis den Westen als Feindbild und setzt sich für ein gutes Verhältnis mit Russland ein.

Kraus dagegen wendet sich gegen die aggressive russische Außenpolitik und erklärt sie mit einem postsowjetischen „Phantomschmerz“, für den allerdings auch die westliche Welt aufgrund einer misslungenen europäisch-russischen Sicherheitspolitik mitverantwortlich sei (Kraus 2024). Im Kontext einer Großraumordnung, in der weder die USA noch China oder andere Akteure den Anspruch auf eine führende Weltmacht zukünftig verwirklichen können, sei Russlands Angriffskrieg als Versuch zur Expansion des russischen Großraums zu verstehen. Ob dieser in Partnerschaft mit China als eurasischer oder als ‚nur‘ russischer Großraum verwirklicht wird, bleibe abzuwarten. Eindeutig sei jedoch, dass Putin versuche, die Grenzen des Großraums so weit wie möglich Richtung Westen und an die Grenze zur NATO zu verschieben.

Auch wenn die zukünftigen geographischen Grenzen der verschiedenen Großräume noch ungewiss seien, ergebe sich aus dem russischen Angriffskrieg eine klare Aufgabe für Deutschland. Mit Blick auf deutsche Interessen und die Rolle Deutschlands als europäischer Mittelmacht solle Deutschland aus einem historischen Bewusstsein heraus Russland entgegentreten und die Grenzen so weit wie möglich nach Osten verschieben helfen. Kraus versäumt es in seinem Artikel, konkret auf die Europäische Union und die NATO einzugehen und seine spezifischen Vorstellungen von Deutschlands Rolle innerhalb dieser Institutionen darzulegen. Seine feste Überzeugung, dass Deutschland zum Westen gehört, und sein Ziel, den russischen Einflussraum so weit wie möglich nach Osten zu verschieben, lassen jedoch eine alternativlose EU- und NATO-Mitgliedschaft Deutschlands vermuten.

Kubitscheks Resümee der Debatte

Götz Kubitschek fasst in seinem Artikel „Krah, Europa und ein deutscher Standpunkt“, veröffentlicht am 26. Mai 2024 auf der Webseite der Sezession (Kubitschek 2024a), die zentralen Aspekte der Debatte um Deutschlands Rolle in Europa zusammen und leitet daraus Handlungsmöglichkeiten für die AfD ab. Den Ausgangspunkt von Kubitscheks Artikel bildet der Ausschluss der AfD aus der inzwischen offiziell aufgelösten Fraktion Identität und Demokratie (ID-Fraktion) im Europaparlament auf Betreiben von Le Pen. Dieser Ausschluss erfolgte, nachdem Maximilian Krah, zu dem Zeitpunkt Spitzenkandidat der AfD für die Europawahl, in einem Interview mit der italienischen Zeitung la Repubblica die Rolle der SS relativiert hatte. Kubitschek sieht in dem offiziellen Grund dieses Fraktionsausschlusses jedoch nur einen Vorwand, den Le Pen für ihre eigenen Zwecke nutzte. Seiner Ansicht nach geht es eigentlich um den „Kampf um die geostrategische Ausrichtung Europas“. Der Ausschluss der AfD aus der ID-Fraktion im Europaparlament bestätigt seiner Meinung nach die französische Entscheidung für ein transatlantisches Europa-Konzept, welches er als „antideutsch“ bezeichnet. Diese Ausrichtung richte sich gegen „fundamentale deutsche Interessen“. Frankreich unterstütze dieses Konzept, um sicherzustellen, dass es sich nicht zu einem „antifranzösischen Projekt“ ausweite. Die Entscheidung für ein transatlantisches Europa-Konzept stelle gleichzeitig eine Absage an ein mitteleuropäisches dar. Krah sei einer der wenigen Politiker, der bereits vor Jahren vor einem „konservativen Ableger der US-amerikanischen Rechten“ in Europa gewarnt hätte.

Genauso wie für Kraus und Kisoudis ist für Kubitschek der Wandel hin zu einer multipolaren Weltordnung durch die aufstrebenden Staaten Russland und China unumgänglich. Er plädiert für die Bildung eines mitteleuropäischen Blocks, in dem Deutschland als Hegemon fungiert und eine enge Zusammenarbeit mit Russland pflegt. Das Interesse Deutschlands an Russland begründet Kubitschek genauso wie Kisoudis historisch, ökonomisch und geografisch. Besonders warnt er vor den Gefahren einer energetischen Abhängigkeit vom Westen und argumentiert, dass Deutschlands „Mittellage“ eine (energiepolitische) Zusammenarbeit mit Russland erfordere, um Deutschland einen „Spielraum“ zu ermöglichen, der „seinem Bedarf angemessen“ ist. Diese Kooperation soll zudem die Sicherheitsinteressen der „kleinen ehemaligen Ostblockstaaten“ berücksichtigen, die Kubitschek aktuell als „US-unterstützenden Keil zwischen Russland und Deutschland“ ansieht. Auffällig ist Kubitscheks Idee einer langfristigen deutsch-französischen Option, die sowohl der ursprünglichen Mitteleuropaidee von Friedrich Naumann als auch den Ansichten Kisoudis widerspricht, der Frankreich als Gegner eines deutschen Mitteleuropa-Konzepts und als Stellvertreter der USA sieht. Kubitschek führt keine konkreten Details zu dieser Vorstellung an.

Schlussendlich fasst Kubitschek die Debatte um den „Kampf um die geostrategische Ausrichtung Europas“ auf zwei zentrale Strömungen innerhalb der AfD und ihrem Vorfeld zusammen: Zum einen die „Vertreter der US-Interessen“, die sich aus Kubitscheks Sicht für ein transatlantisches Europa-Konzept entscheiden und gegen deutsche Interessen handeln. Dieser Ausrichtung sind offensichtlich Hans-Christof Kraus und die JF zuzuordnen. Zum anderen die Befürworter eines mitteleuropäischen Blocks, in dem Deutschland als Hegemon fungiert und seine vermeintliche Brückenfunktion zwischen Ost und West einnehmen kann. Sowohl Kubitschek und Krah als auch Kisoudis stehen für diese Strömung, die eine vermeintliche Äquidistanz propagiert, jedoch Russland als Bündnispartner sucht.

Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Die im Kontext des Ukraine-Krieges vorgestellten Konfliktlinien sind in den seit 2014/15 stattfindenden „Kampf zweier Linien“ innerhalb der AfD und ihres Vorfelds einzubetten und stellen eine Zuspitzung der internen Debatte um eine realpolitische oder fundamentaloppositionelle Parteiausrichtung dar. Betont werden muss, dass beide Ausrichtungen darin übereinstimmen, dass Deutschland wieder eine Führungsrolle innerhalb Europas einnehmen und dass sich die Staatenordnung hin zu einer multipolaren Weltordnung wandeln sollte. Die Konfliktlinie innerhalb der Neuen Rechten und der AfD verläuft entlang der Frage, anhand welcher ideologischen und geopolitischen Ausrichtung dies erreicht werden soll.

Literatur

  • Kellershohn, Helmut 2017: Kampf zweier Linien in der Neuen Rechten und der AfD, in: Isolde Aigner/Jobst Paul/Regina Wamper (Hg.): Autoritäre Zuspitzung. Rechtsruck in Europa, Münster: Unrast, S. 121-136.
  • Kellershohn, Helmut 2023: Im Widerstreit der Positionen. Die Haltung der AfD und neurechter „Vordenker“ zum Ukrainekrieg, in: Wolfgang Kastrup/Helmut Kellershohn (Hg.): Der Krieg in der Ukraine. Weltordnungskrieg und „Zeitenwende“, Münster: Unrast, S. 157-190.
  • Kisoudis, Dimitrios 2022: Europa – der ungewollte Großraum, in: Sezession 110, S. 18–23.
  • Kisoudis, Dimitrios 2023a: „Es wächst das Bedürfnis, einen Weg der Selbstbehauptung einzuschlagen“. https://heimatkurier.at/rechte-akteure/dimitrios-kisoudis-es-waechst-das-beduerfnis-einen-weg-der-selbstbehauptung-einzuschlagen/ (Abruf: 11.07.2024).
  • Kisoudis, Dimitrios 2023b: Mitteleuropa und Multipolarität, Schnellroda: Antaios.
  • Kraus, Hans-Christof 2024: Phantomschmerz im Kreml, in: Junge Freiheit v. 17.05.2024.
  • Kubitschek, Götz 2024a: Krah, Europa und ein deutscher Standpunkt, in: sezession.de v. 26.05.2024. https://sezession.de/69254/krah-europa-und-ein-deutscher-standpunkt (Abruf: 19.07.2024).
  • Kubitschek, Götz 2024b: Das Institut für Staatspolitik ist Geschichte – warum? In: sezession.de v. 13.05.2024. https://sezession.de/69226/das-institut-fuer-staatspolitik-ist-geschichte-warum (Abruf: 19.07.2024).

Maarten van Melis ist Masterstudent der Politikwissenschaft an der Freien Universität Berlin. Zuvor hatte er sein Bachelor-Studium in Politikwissenschaft und Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main abgeschlossen. Im Sommer 2024 absolvierte er ein Praktikum am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung.

Erstveröffentlichung im DISS-Journal #48

1 Das IfS wurde im Jahr 2024 offiziell aufgelöst, da nach eigenen Angaben die Vereinsstruktur anfällig und kompliziert gewesen sowie zur „Zielscheibe“ staatlicher Institutionen geworden sei. Die internen Strukturen und beteiligten Personen setzen ihre Arbeit jedoch weiter fort. Die Zeitschrift Sezession erscheint nun in der Metapolitik VerlagsUG, die von Erik Lehnert, 2014 Nachfolger von Karlheinz Weißmann als Wissenschaftlichem Leiter des IfS, geführt wird. Kubitscheks Verlag Antaios hat den Bücher- und Studienbestand des IfS übernommen und wird weiter fortgeführt (Kubitschek 2024b).

2 Friedrich Naumann (1860-1919) war ein deutscher liberaler Politiker, Theologe und Publizist. 1896 gründete er den Nationalsozialen Verein, der unter dem Einfluss von Max Weber für Demokratisierung, Sozialpolitik und eine expansive deutsche Außenpolitik eintrat. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs unterstützte Naumann die Politik der deutschen Regierung unter Bethmann-Hollweg (vgl. September-Programm 1914) und distanzierte sich von den weit ausgreifenden Annexionszielen etwa der Alldeutschen. 1918 war er Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Siehe dazu https://www.dhm.de/lemo/biografie/friedrich-naumann (Zugriff: 16.07.2024).

3 Der historische Ursprung des Intermarium-Konzepts geht auf Józef Piłsudskis Idee eines osteuropäischen Völkerbundes zurück. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs sah Piłsudski die wiedererlangte Unabhängigkeit Polens durch Russland und Deutschland bedroht und setzte sich daher für einen Staatenbund mit Litauen, der Ukraine, Belarus, Ungarn, Rumänien, Lettland, Jugoslawien und Estland ein. Dieses Bündnis sollte unter polnischer Führung die Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten zwischen Ostsee, Mittelmeer und Schwarzem Meer stärken und eine Bastion gegen Russland bilden. Heute fehlt diesem Konzept jedoch eine realpolitische Grundlage, es hat an Relevanz verloren.