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Hegel und der Pöbel

Von Wolfgang Kastrup

Armut, Arbeitslosigkeit und Prekarisierung sind weiterhin große Probleme für bedeutende Teile nicht nur der bundesdeutschen Bevölkerung. Wirkte schon die Corona-Pandemie wie ein Beschleuniger von sozialer Ungleichheit, haben die Konsequenzen der Sanktionen aufgrund der russischen Invasion in die Ukraine und die sich dadurch beschleunigende Inflation die Einkommensschwachen besonders hart getroffen. „Deutschland verzeichnet heute mit 16,6 Prozent oder 13,8 Millionen Betroffenen einen Rekordstand der Armut. […] Die wachsende sozioökonomische Ungleichheit fördert Tendenzen der gesellschaftlichen Desintegration, der wirtschaftlichen Depression und der politischen Desorientierung.“ (Christoph Butterwegge: Wen kümmert’s? in: Süddeutsche Zeitung v. 13.07.2022)

Wenn so viele Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft von der ökonomischen, kulturellen und politischen Teilhabe ausgeschlossen sind, kann das keinen zufälligen Prozess beinhalten, sondern es muss gefragt werden, ob hier nicht ein konstitutionelles Problem offenkundig wird. Schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831), der berühmte Vertreter des deutschen Idealismus und der wirkmächtigste und bedeutendste Philosoph des 19. Jahrhunderts (vgl. Vieweg 2019), befasst sich in der Rechtsphilosophie (Grundlinien der Philosophie des Rechts lautet der offizielle Titel) mit diesem Problem, indem er auf Arbeitslosigkeit und Elend der Arbeiter und ihre wachsende Entfremdung von der bürgerlichen Gesellschaft eingeht.

Die ökonomischen Rahmenbedingungen für die Entstehung der Rechtsphilosophie waren für Hegel entscheidend, denn in großen Teilen Europas wie auch in den Vereinigten Staaten zeigten sich ab 1816 bis 1820 gravierende wirtschaftliche Krisen mit Arbeitslosigkeit und Armut.

Somit stellen die Jahre zwischen 1816 bis 1820 die erste Weltwirtschaftskrise dar, die, eben weil sie über transnationale Überseemärkte im Weltmaßstab stattfand und durch industrielle Überproduktion herbeigeführt wurde, die erste fundamentale Krise des entstehenden und sich im 19. Jahrhundert weltweit als politische Gesellschaftsordnung durchsetzenden Kapitalismus ist.“ (Bayraktar 2021, 28)

Somit ist davon auszugehen, dass diese Erfahrungen von materieller Not, von Arbeitslosigkeit und bitterer Armut in Hegels Ausführungen über den Pöbel in der bürgerlichen Gesellschaft eingegangen sind.

Entstehung des Pöbels

In dem Abschnitt „Die bürgerliche Gesellschaft“ geht Hegel auf den „Pöbel“ ein:

Das Herabsinken einer großen Masse unter das Maß einer gewissen Subsistenzweise, die sich von selbst als die für ein Mitglied der Gesellschaft notwendige reguliert – und damit zum Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen –, bringt die Erzeugung des Pöbels hervor, die hinwiederum zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnismäßige Reichtümer in wenige Hände zu konzentrieren, mit sich führt.“ (§244)

Die bürgerliche Gesellschaft produziert auf der Grundlage ihrer marktwirtschaftlichen Ordnung einerseits Arbeitslosigkeit und Armut, also einen durch Not und Elend gekennzeichneten „Pöbel“, der nicht mehr in der Lage ist, durch eigene Arbeit den Lebensunterhalt zu bestreiten. Sie entzieht also diesen betroffenen Menschen die Möglichkeit, für die Befriedigung ihrer Bedürfnisse selbstverantwortlich aufzukommen. Armut ist objektiv vorhanden, nicht etwas Zufälliges. Andererseits wird ungeheurer Reichtum in wenigen Händen angehäuft, eine Reichtumskonzentration einer kleinen Klasse von Besitzenden. Man kann hier von einer Akkumulationslogik des Kapitals sprechen. Den Klassenbegriff verwendet Hegel einige Male, so in §245, wenn er von der „reicheren Klasse“ spricht. Wir sehen also schon bei Hegel die notwendigen zwei Seiten der kapitalistischen Produktionsweise. Den Begriff „Pöbel“ definiert er allerdings nicht nur durch Armut, sondern durch eine sittliche Verrohung:

Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw. Ferner ist damit verbunden, daß der Mensch, der auf die Zufälligkeit angewiesen ist, leichtsinnig und arbeitsscheu wird […]. Somit entsteht im Pöbel das Böse, daß er die Ehre nicht hat, seine Subsistenz durch seine Arbeit zu finden, und doch seine Subsistenz zu finden als sein Recht anspricht. Gegen die Natur kann kein Mensch ein Recht behaupten, aber im Zustand der Gesellschaft gewinnt der Mangel sogleich die Form eines Unrechts, was dieser oder jener Klasse angetan wird.“ (§244 Zusatz)

Armut ist objektiv vorhanden, die subjektive daraus entstehende Verrohung lässt diese Menschen zum Pöbel werden. Sie haben nach Hegel das Recht zu fordern, dass die bürgerliche Gesellschaft ihnen Arbeit verschafft, da ihnen Unrecht widerfährt. Ihre Empörung gegenüber der „reicheren Klasse“ ist folglich nachvollziehbar.

Es ist nicht allein das Verhungern, um was es zu tun ist, sondern der weitere Gesichtspunkt ist, daß kein Pöbel entstehen soll. Weil die bürgerliche Gesellschaft schuldig ist, die Individuen zu ernähren, hat sie auch das Recht, dieselben anzuhalten, für ihre Subsistenz zu sorgen.“ (§240 Zusatz)

Die bürgerliche Gesellschafft hat also das Recht von den Menschen zu fordern, „für ihre Subsistenz zu sorgen“, gleichzeitig verweigert sie ihnen aber das Recht, sich aus der Armut zu befreien. Sie hätte die Pflicht, Mittel zur Befreiung aus der Armut bereitzustellen.

Doch gerade diese Mittel werden, wie Hegel konstatiert, von der bürgerlichen Gesellschaft kraft ihrer inneren Bewegung den Armen faktisch entzogen. Der Rechtsanspruch der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem Individuum widerspricht dem Rechtsprinzip der Freiheit, welches die Rechtsgrundlage des Rechtsanspruchs der verarmten Individuen darstellt.“ (Bayraktar, 105f.)

Die Freiheit ist in Hegels Philosophie zentral, es geht „um das Denken der Freiheit als das A und O der Philosophie, um Philosophie als Wissenschaft der Vernunft und Wissenschaft der Freiheit.“ (Vieweg, 367) Durch diesen Mangel der bürgerlichen Gesellschaft (vgl. oben) entsteht bei diesen armen Menschen die „Gesinnung der Arbeitsscheu, Bösartigkeit und der weiteren Laster, die aus solcher Lage und dem Gefühl ihres Unrechts entspringen“. (§241)

Abhilfe der Armut zeigt Widersprüche

Hegel stellt sich nun die für die modernen Gesellschaften wichtige Frage, wie „der Armut abzuhelfen sei“. (§244) Dabei spricht er die reichere Klasse an, für die Subsistenz zu sorgen, oder auch Einrichtungen wie Hospitäler, Stiftungen und Klöster. Allerdings würde eine solche Vorgehensweise dem Grundsatz der bürgerlichen Gesellschaft widersprechen, denn hier würde die Subsistenz der Armen nicht durch Arbeit vermittelt. Würde den Bedürftigen dagegen Arbeit gegeben, entstehe für Hegel folgender Widerspruch: „[…] so würde die Menge der Produktionen vermehrt, in deren Überfluß und dem Mangel der verhältnismäßigen selbst produktiven Konsumenten gerade das Übel besteht, das auf beiden Weisen sich nur vergrößert.“ (§245) Daraus folgt für Hegel die zentrale Erkenntnis „daß dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d.h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.“ (Ebd.) Aus diesen Formulierungen wird ersichtlich, dass beide, die bürgerliche Gesellschaft und der Pöbel, sich bedingende Faktoren sind. Der Pöbel entsteht durch die bürgerliche Gesellschaft und die bürgerliche Gesellschaft ist ohne den Pöbel nicht zu haben. Der Pöbel ist also konstitutiv für die bürgerliche Gesellschaft. Hier zeigt sich eine auffallende Parallele zu Karl Marx und dessen Analyse kapitalistischer Reichtums- und Armutsproduktion.

Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und der Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee.“ (Marx 1971, 673) […] Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seite der Klasse, die ihr eignes Produkt als Kapital produziert.“ (Ebd., 675)

Hier wird bei Marx die Widersprüchlichkeit kapitalistischer Gesellschaft offenkundig, Reichtum und Arbeitslosigkeit/Armut sind zwei Seiten einer Medaille. Mit „Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation“ kommt der Vergleich mit Hegels Pöbel sehr nahe. Marx gebraucht zwar nicht den Begriff Pöbel, wohl aber den Begriff „Pauperismus“.

Abgesehn von Vagabunden, Verbrechern, Prostituierten, kurz dem eigentlichen Lumpenproletariat, besteht diese Gesellschaftsschichte aus drei Kategorien. Erstens Arbeitsfähige. […] Zweitens: Waisen- und Pauperkinder. […] Drittens: Verkommende, Verlumpte, Arbeitsunfähige. […] Der Pauperismus bildet das Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee und das tote Gewicht der industriellen Reservearmee. Seine Produktion ist eingeschlossen in der Produktion der relativen Überbevölkerung, seine Notwendigkeit in ihrer Notwendigkeit, mit ihr bildet er eine Existenzbedingung der kapitalistischen Produktion und Entwicklung des Reichtums.“ ((Ebd., 673)

Dass der Pöbel bzw. der Pauperismus ein konstitutives Strukturelement der bürgerlichen Gesellschaft ist, lässt sich bei Hegel wie bei Marx deutlich erkennen. Die daraus sich ergebenden Konsequenzen sind bekanntlich unterschiedlich.

Zwei Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft

In der Analyse der bürgerlichen Gesellschaft geht Hegel von zwei Prinzipien aus:

Erstens hat jede Person als „besondere Person“ nur seine egoistischen Interessen im Blick. „In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts.“ (§182 Zusatz) Das zweite Prinzip bezieht sich auf die „Form der Allgemeinheit“, da die individuellen Interessen der Subjekte miteinander verbunden sind, und die Befriedigung der Bedürfnisse der einen von denen der anderen abhängig ist.

Aber der besondere Zweck gibt sich durch die Beziehung auf andere die Form der Allgemeinheit und befriedigt sich, indem er zugleich das Wohl des anderen mit befriedigt. […] Die Besonderheit, beschränkt durch die Allgemeinheit, ist allein das Maß, wodurch jede Besonderheit ihr Wohl befördert.“ (Ebd.)

In diesem System der wechselseitigen Abhängigkeit, bei dem jedes Individuum den eigenen Vorteil sucht und damit auch dem Ganzen dient, kommt die Analogie zu Adam Smith (1723–1790) zum Ausdruck. Durch sein Studium der englischen politischen Ökonomie lernt Hegel die Bedeutung von Arbeit, Armenwesen, Verwaltung und Steuern kennen. Hegels Darlegungen zur bürgerlichen Gesellschaft zeigen die inhaltliche Verbindung mit dem Hauptwerk von Adam Smith An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations. Dieses gefeierte Werk hat „geradezu Epoche gemacht“, und Smith „ragt als der große Verkünder eines geradezu sozialphilosophisch erhöhten ökonomischen Liberalismus weit in die Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts hinein.“ (Hofmann 1971, 39) Hier wird der Streit zwischen Egoismus und Altruismus, zwischen individuellem Glückstrieb und gesellschaftlicher Pflicht in der Versöhnung beider bei wechselseitiger Verwirklichung des Einen durch das Andere gelöst. In der Lehre von Adam Smith, der durch die individuelle Vorteilssuche das Gemeininteresse verwirklichen will, drückt sich die Hoffnung des Bürgertums aus. Die Idee, der alles unterstellt ist, ist bei Smith die des Volkswohlstandes.

Aber nicht nur auf Smith beruft sich Hegel, sondern auch auf den französischen Ökonomen Jean-Baptiste Say (1767–1832) und den britischen Ökonomen David Ricardo (1772–1823). Die „Staatsökonomie“ ist für Hegel eine Wissenschaft der neueren Zeit. „Ihre Entwicklung zeigt das Interessante, wie der Gedanke (s. Smith, Say, Ricardo) aus der unendlichen Menge von Einzelheiten, die zunächst vor ihm liegen, die einfachen Prinzipien der Sache, den in ihr wirksamen und sie regierenden Verstand herausfindet.“ (§189) Das große Interesse Hegels an diesen Ökonomen und ihren Erklärungen von wirtschaftlichen Zusammenhängen und Gesetzen erklärt sich durch die ökonomischen Krisen vor allem zwischen 1816 bis 1820 mit den sozialen Verwerfungen von Arbeitslosigkeit und der sich ausbreitenden Armut (vgl. oben).

Durch die „Anhäufung der Reichtümer“ für die reiche Klasse auf der einen Seite und „die Vereinzelung und Beschränktheit der besonderen Arbeit und damit die Abhängigkeit und Not der an diese Arbeit gebundenen Klasse“ (§ 243) auf der anderen Seite, wird die Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft deutlich. Diese Dialektik treibt die bürgerliche Gesellschaft über sich hinaus, „um außer ihr in anderen Völkern, die ihr an den Mitteln, woran sie Überfluß hat, oder überhaupt an Kunstfleiß usf. nachstehen, Konsumenten und damit die nötigen Subsistenzmittel zu suchen.“ (§ 246) Hegel sieht hier also schon durch die Kolonisation die ökonomische Notwendigkeit der Eroberung fremder Märkte, was sich dann zu einem „Kolonialimperialismus“ ausweitete. (Vgl. Bloch 1971, 266)

Funktion der Polizei: Schutz des Eigentums

Die benannten auftretenden Gegensätze, die die bürgerliche Gesellschaft notwendigerweise erzeugt, will Hegel durch die Polizei bekämpfen. Als Ordnungsmacht soll sie die Verletzung von Personen- und Eigentumsrechten verhindern, um damit die Allgemeinheit der Ordnung und der Gesellschaft zu erhalten. Für Hegel ist die Freiheit des Besitzes von Eigentum „eine Grundbedingung“ der bürgerlichen Gesellschaft und die Polizei hat dafür zu sorgen, dass „auf mein Wohl, auf meine Besonderheit Rücksicht genommen“ wird. (§229 Zusatz) Indem die Polizei als „sichernde Macht des Allgemeinen“ bezeichnet wird (§231), ist sie als Vermittlung zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft zu sehen. Sie wird als eine ergänzende Kraft zum Recht eingeführt. Für die Menschen tritt sie so gegenständlicher und handgreiflicher in Erscheinung als das Gesetz. Sie ist damit ein Garant für ein ungestörtes Funktionieren des gesamtgesellschaftlichen Prozesses.

Da das in der Armut sich selbst überlassene, unvermittelte Dasein des Pöbels, der keine Möglichkeit an der Teilnahme am allgemeinen Vermögen hat, weitgehend ohne Eigentum ist und die Polizei ihre Hauptzuständigkeit im Schutz des Eigentums sieht, […], ist der Pöbel für die Polizei fortwährend ein inkriminiertes Subjekt.“ (Bayraktar, 115)

Eine Aussage von Bayraktar über den Pöbel und die Polizei in Hegels Rechtsphilosophie, die auch heute ihre Berechtigung hat.

Staat als konkrete Freiheit

Bürgerliche Gesellschaft und Staat unterscheiden sich bei Hegel. Während die bürgerliche Gesellschaft „die Sicherheit und den Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit“ zur Aufgabe hat und „das Interesse des Einzelnen als solcher der letzte Zweck“ ist, so hat der Staat „ein ganz anderes Verhältnis zum Individuum“. Indem der Staat „objektiver Geist ist, so hat das Individuum selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist. Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen […].“ (§258) Erst im Staat verwirklicht sich die konkrete Freiheit. Ist die Freiheit im Staat wirklich geworden, so kann die Freiheit des Individuums nur darin bestehen, seine willkürliche Selbständigkeit in dieser Allgemeinheit aufzuheben, denn nur im Staat ist die Selbständigkeit der Individuen vorhanden. Im Staatsbegriff verwirklicht sich die Einheit des Allgemeinen und des Besonderen. „Auf die Einheit der Allgemeinheit und Besonderheit im Staate kommt alles an.“ (§261 Zusatz) Er ist sittliche Totalität, Einheit des objektiven wie subjektiven Willens. Der Staat ist bei Hegel „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (§257) bzw. „die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“. (§260) Der Staat hat nicht nur die Aufgabe, Leben und Eigentum der Menschen zu schützen, sondern auch die Funktion, ihre Bedürfnisse und Interessen zu fördern. Dafür bedarf er der Autorität, Macht und Gewalt, ohne die er sonst diese Aufgaben nicht erfüllen kann. Allerdings darf die staatliche Macht nicht die Freiheit der Menschen einschränken und so zum Hindernis für das Wohl des Ganzen zu werden. Herbert Marcuse fasst den „objektiven Geist“ sehr treffend folgendermaßen zusammen:

Die Gesetze und Prinzipien des Staates leiten die Handlungen der frei denkenden Subjekte, so daß deren Element nicht Natur, sondern Geist ist, die vernünftige Erkenntnis und der Wille assoziierter Individuen. Das meint Hegel, wenn er den Staat als ‚objektiven Geist‘ bezeichnet. Der Staat schafft eine Ordnung, die zu ihrer Erhaltung nicht wie die bürgerliche Gesellschaft von der blinden Wechselwirkung besonderer Interessen und Veranstaltungen abhängt.“ (Marcuse 1972, 190f.)

Fazit

Pöbel, Arbeitslosigkeit und Armut haben strukturelle Ursachen in der bürgerlichen Gesellschaft. Hegel erkennt, dass ein Übermaß an Reichtum ein Übermaß an Armut erzeugt, und damit auch den Pöbel. Dies erfolgt nicht zufällig oder naturnotwendig, sondern folgt der Logik der marktwirtschaftlichen Gesellschaft, dass Reichtum Armut produziert. Deshalb gibt es auch hier Parallelen zu Karl Marx. Auch erkennt Hegel, dass diese Dialektik die bürgerliche Gesellschaft über sich hinaustreibt, indem fremde Märkte erobert werden müssen. Dem Anspruch nach ist der Pöbel in der bürgerlichen Gesellschaft frei, in Wirklichkeit jedoch unfrei, da ihm die Gesellschaft die Möglichkeit nimmt, für seine eigene Subsistenz zu sorgen. Auch der Staat als Verwirklichung der Freiheit ist nicht in der Lage, dieses strukturelle Problem zu lösen. Der Pöbel bleibt sich selbst überlassen. Die Ausführungen von Hegel zeigen jedoch, dass dieses Problem nicht nur ein ökonomisches, sondern durch die sittliche Verrohung auch ein soziales ist. Rückschlüsse auf die gegenwärtige Gesellschaft zeigen, dass Arbeitslosigkeit, Armut und Prekarisierung weiterhin gravierende Probleme der kapitalistischen Gesellschaft sind, und dass eine solche Gesellschaftsform auch dieses Problem aus ihrer Logik heraus nicht lösen kann.

Wolfgang Kastrup ist Mitglied der Redaktion und im AK Kritische Gesellschaftstheorie

Literatur

Bayraktar, Mesut 2021: Der Pöbel und die Freiheit, Köln.

Bloch, Ernst 1971: Subjekt – Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Frankfurt/M.

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 1970: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Theorie Werkausgabe Bd. 7, [zuerst 1821], Frankfurt/M.

Hofmann, Werner 1971: Sozialökonomische Studientexte, 2. Auflage, Berlin.

Marcuse, Herbert 1972: Vernunft und Revolution, Darmstadt und Neuwied.

Marx, Karl 1971: MEW Bd. 23, [zuerst 1890], Berlin.

Vieweg, Klaus 2019: Hegel. Der Philosoph der Freiheit, München.

Dieser Artikel stammt aus dem DISS-Journal#44 aus dem November 2022. Die vollständige Ausgabe als PDF finden Sie hier.